Die Demokratie ist gefährdet durch bösartige und unnachgiebige Angriffe auf die Bürger.
Das ist die Erkenntnis des konservativen Abgeordneten Damian Collins, der für das englische Unterhaus den Die Kurzfassung seines 111 Seiten langen Abschlussberichts, der im Frühjahr 2019 veröffentlicht wurde: Bürger wurden auf Facebook gezielt durch Werbeanzeigen mit ins Visier genommen – und der Brexit so
Großbritannien könne durch den Brexit 350 Millionen Pfund pro Woche sparen. – Eine bewusst gestreute Falschinformation, die die Brexit-Abstimmung beeinflusst hat.
Ein erschreckendes Ergebnis, das nicht das letzte seiner Art sein könnte. Denn eine weitere wichtige Entscheidung in Europa steht an: die Europawahl. Die passenden Fake News sind auch schon vorbereitet. Das dürfte nach dem Erfolg in Großbritannien absolut sicher sein. 5 Wochen vor der Wahl ist die Sorge vor Manipulationen groß.
Da drängt sich die Frage auf: Hat die EU aus den Brexit-Kampagnen gelernt – oder ist gegen die Lügen aus dem Netz kein Kraut gewachsen?
Das will ich von Der Kommunikationswissenschaftler leitet für die Stiftung Neue Verantwortung e. V. das Projekt »Desinformation in der digitalen Öffentlichkeit«. Er hat den Einfluss von Falschinformationen in Deutschland untersucht und berät den bei der Suche nach Lösungen gegen die im Netz verbreiteten Lügen.
Bitte sage nicht mehr »Fake News« …
Die Europawahl steht an, doch der Begriff »Fake News« ist aus vielen Medien verschwunden. Wie kommt das?
Alexander Sängerlaub:
Es gab eine schöne Kolumne mit dem Titel Das trifft es ganz gut. Denn es gibt den Begriff 2-mal: Einmal so, wie ihn wie Donald Trump verwenden – also als Kampfansage an etablierte Medien, um sie zu diskreditieren. Und es gibt das, was der Rest der Welt meint, wenn er von »Fake News« spricht – also gezielt gestreute Falschinformationen. Deshalb hat sich als Alternative »Desinformation« eingebürgert.
Ist das nicht ein Einknicken vor dem Populisten Trump?
Alexander Sängerlaub:
Wir schenken Donald Trump den Begriff »Fake News« einfach. Desinformation trifft das Phänomen auch besser und wird von der EU-Kommission bis in die Wissenschaft verwendet.
Das Internet ist voll von etwa dem widerlegten Mythos, dass jeder Mensch angeblich Warum ist das Netz für solchen besonders anfällig?
Alexander Sängerlaub:
Das Problem liegt in den sozialen Medien. Jeder kann heute Teil der Öffentlichkeit sein und Informationen senden. Wir können über Facebook, Twitter und Co. Nachrichten erstellen und selbst verteilen. Und leider machen das viele von uns nicht mit der Sorgfalt und Güte, die Journalisten normalerweise an den Tag legen.
Die Desinformationen, über die wir im Zusammenhang mit dem Brexit und der Europawahl sprechen, sind im Vergleich zu der harmlosen Spinnenlüge aber gezielter und bösartiger. Sie scheinen speziell dazu gemacht zu sein, zu manipulieren und politischen Schaden anzurichten. In den USA vermutet man vor allem hinter diesen Angriffen – du auch?
Alexander Sängerlaub:
Nein, wir müssen nicht immer nur nach Russland schauen. Als es etwa 2018 in Irland um die Frage ging, haben Alt-Right-Bewegungen aus den USA versucht, Werbeanzeigen dagegen zu schalten und Einfluss zu nehmen. Klar, Russland spielt eine Rolle und nutzt auch Gelegenheiten für eine Einflussnahme von außen. Doch ein Großteil der Desinformation kommt in westlichen Demokratien von innen.
Dann schauen wir doch mal nach innen: Wenn man sich Fake-News-Listen … argh!
Alexander Sängerlaub:
(lacht) Kein Problem, der Begriff rutscht mir auch immer noch häufig raus.
Wenn man sich also Listen mit der am häufigsten verbreiteten Desinformation in Deutschland anschaut, dann zielen sie fast alle auf Da scheint klar eine bestimmte politische Ecke dahinterzustehen, oder?
Alexander Sängerlaub:
Absolut. Auch unser Projekt »Desinformation in der digitalen Öffentlichkeit« hat zur vergangenen Bundestagswahl Desinformation ausgewertet. Fast alle, die wir gesehen haben, kamen klar von ganz rechts. Das hat System, denn unter den Wählern der AfD beispielsweise ist das Vertrauen in die Informationen der traditionellen Medien sehr gering.
Und das macht sie zu einem besonders leichten Ziel für Desinformation?
Alexander Sängerlaub:
Ja. Rechtspopulisten sind aktuell sehr gut darin, Menschen über soziale Medien zu erreichen, die sich aus klassischen Medien nicht mehr gut informiert fühlen. Sie sagen: »Alles ist Lügenpresse, folgt uns direkt.« Mit eigenen Newsrooms, Youtube-Angeboten und Facebook-Memes wollen sie traditionelle Medien als einordnende Instanz ausschalten und ihre eigene Propaganda ungestört verbreiten. Darunter auch Desinformation – weil die Realität meist nicht so schlimm ist, wie sie sie gern hätten. Das mobilisiert Wähler.
Und wenn das ungebremst klappt?
Alexander Sängerlaub:
Dann sitzen die Desinformationen am Ende im Weißen Haus und werden getwittert.
So will die EU den Kampf gegen die Lügen gewinnen
Die Sorge vor einem Verlauf wie in den USA ist auch in Europa spürbar. Ende vergangenen Jahres sagte die EU-Kommission den Desinformationen den Kampf an. Was ist seitdem passiert? »Zusammen werden wir die Lügen bloßstellen und uns wehren.« – Andrus Ansip, Vizepräsident der EU-Kommission und Kommissar für den Digitalbereich
Alexander Sängerlaub:
Die EU-Kommission hat viele Gespräche mit Vertretern von Facebook und anderen Plattformen geführt und versucht, sie Am Ende gab es kein Gesetz, sondern Ob sich die Plattformen daran halten, bleibt abzuwarten.
Wie kann eine solche Datenbank helfen?
Alexander Sängerlaub:
Facebook, Google und Co. wollen nun transparent machen, was beim Brexit oder in den USA noch für Unheil sorgte: Dark Ads. Über die Werbedatenbanken können Nutzer nun schauen, welche politische Werbung auf den Plattformen geschaltet wird, wen diese erreicht und wie viel Geld investiert wurde. Doch bisher funktionieren diese Datenbanken noch nicht so, wie sie sollten: So ist unklar, ob dort wirklich alles auftaucht, was relevant ist. Bisher deklarieren die Akteure, die werben, nämlich selbst, ob sie »politische Werbung« schalten.
Wie einflussreich sind denn diese »Dark Ads« überhaupt?
Alexander Sängerlaub:
Was Möglichkeiten betrifft, Desinformation zu verteilen, spielen sie eine Rolle – allerdings neben vielen anderen Wegen. Der Großteil der Desinformation, die wir im letzten Bundestagswahlkampf gesehen haben, verbreitete sich ganz einfach über öffentliche Posts in den Netzwerken.
Das klingt ernüchternd. Die Plattformen scheinen aber weiterhin eine Schüsselrolle zu spielen. Immerhin hat Facebook gerade angekündigt, den eigenen Algorithmus weltweit zu verbessern, um Ein guter Schritt oder nicht gut genug?
Alexander Sängerlaub:
Im Grunde stimmt etwas mit dem Bauplan der Plattformen nicht. Die dahinterstehenden Algorithmen funktionieren ein bisschen so wie Boulevardzeitungen, es geht um reißerische und emotionale Inhalte, welche die Nutzer in der Plattform halten sollen. Bei Youtube führt das beispielsweise dazu, dass man immer extremere Inhalte vom Algorithmus empfohlen bekommt. Die Güte der Information, ob etwas faktisch richtig ist oder hier gezielte Propaganda am Werk ist, interessiert den Algorithmus nicht.
Also ist es ein strukturelles Problem von Facebook und Co., wenn extreme Meinungen stark verbreitet werden?
Alexander Sängerlaub:
Ja. Sie können sich noch so viele Initiativen überlegen; das Grundproblem steckt in den Plattformen selbst. Die zugrunde liegende Aufmerksamkeitsökonomie ist das Problem und auch, dass jede Information, die einen erreicht – ob nun russische Propaganda oder eine Nachricht von Perspective Daily –, vom Design bei Facebook identisch aussieht. Nutzer müssen nun selbst entscheiden, ob es sich um Information oder Desinformation handelt. Die Plattformen ziehen sich hier zu sehr aus der Verantwortung.
Das ist auch Thema im Digitalausschuss des Bundestages, der gerade diskutiert, ob soziale Netzwerke nicht dazu gezwungen werden könnten, Richtigstellungen automatisch zu veröffentlichen. Eine gute Idee?
Alexander Sängerlaub:
Der Gedanke dahinter ist zumindest nicht schlecht. Seriöse Zeitungen berichtigen ja auch Fehler und entschuldigen sich dafür. Und Factchecking-Organisationen wie Correctiv und neuerdings auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) arbeiten daran, Desinformation auf Facebook richtigzustellen.
Was können einzelne Richtigstellungen bewirken?
Alexander Sängerlaub:
Na ja, da fehlt es erst mal an Kapazitäten. Bei Correctiv arbeitet nur eine Handvoll Leute – auf die Gesamtmenge an Informationen gerechnet bringt das wenig und kommt dann auch zu spät, weil auch die Aufbereitung Zeit braucht. Da sind die Desinformationen in den sozialen Netzwerken quasi Die Arbeit ist dennoch wichtig und in jedem Fall besser, als gar nichts zu machen. Aber es bleibt ein Katz-und-Maus-Spiel.
Müssen wir uns also Sorgen um die Europawahl machen?
Alexander Sängerlaub:
Was Deutschland betrifft, scheinen wir ein Stück weit resilienter gegen Desinformation zu sein als beispielsweise die USA. Das liegt u. a. daran, dass wir hier sehr reichweitenstarke Angebote der öffentlich-rechtlichen Medien haben, denen die Menschen vertrauen – die gibt es aber nicht in jedem europäischen Land. Man denke nur an Polen, wo die Regierung massiv in die Freiheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingegriffen hat. Für Deutschland gibt es noch eine Besonderheit: Im europäischen Vergleich nutzen wir soziale Netzwerke viel seltener als Informationsquelle. Da sind wir innerhalb Europas weit hinten – im Vergleich mit den USA sowieso.
Das klingt so, als läge es nicht an den Gegenmaßnahmen, dass Teile von Europa aktuell noch resistent sind, oder?
Alexander Sängerlaub:
Das Problem ist zugegebenermaßen noch viel komplexer: Wir stecken gerade mitten im Wandel, wie wir als Gesellschaft Informationen aufnehmen und kommunizieren. Ein Beispiel: Mit der Digitalisierung der Öffentlichkeit sind etwa auch die Auflagen und die Vielfalt von Lokalzeitungen stark zurückgegangen. Dabei passiert Demokratie ja vor allem direkt vor Ort. Wer dort keine Informationen mehr findet, wendet sich der nationalen Bühne zu, wo alles viel polarisierter ist und es immer um die Das polarisiert die Gesellschaft ebenfalls. Daher wird uns das Thema Desinformation noch eine Weile erhalten bleiben.
Was uns in Zukunft gegen Desinformation schützt
Könnte da nicht doch ein neues Gesetz helfen? Singapurs Regierung würde wohl »ja« sagen und hat vergangene Woche das »härteste Anti-Fake-News-Gesetz der Welt« erlassen. Facebook gibt einen Daumen runter. Was hältst du davon?
Alexander Sängerlaub:
Das Gesetz ermöglicht Ministern und Behörden, Online-Inhalte löschen zu lassen. Spätestens wenn man weiß, dass Singapurs Regierungsform eine illiberale Demokratie ist, sollte man die Idee gleich wieder vergessen. Polen oder Ungarn wären ja auch keine guten Berater, wie man Medien und freie Meinungsäußerung reguliert.
Also geht es in Singapur gar nicht um den Kampf gegen Desinformation.
Alexander Sängerlaub:
Im Gesetz stehen zumindest recht fragwürdige Definitionen wie: »Eine Nachricht ist falsch, wenn sie falsch ist.« Wir wissen doch, dass in allen autokratischeren Staaten die Meinungsfreiheit das erste Opfer ist. Und auch hier geht es vor allem darum, die Kontrolle über die öffentliche Meinung zu erlangen. Nein, auf dieses Gesetz
Wohin sollte Europa denn schauen, um Desinformation den Garaus zu machen?
Alexander Sängerlaub:
Vielleicht auf uns selbst. Denn es sind nicht immer nur die politischen Extreme. Beim Brexit spielten auch Desinformationen
… die vor allem von Menschen im Alter von über 65 Jahren geteilt wurden, sagte zuletzt eine
Alexander Sängerlaub:
Stimmt. Aber was soll man da machen – sie alle noch mal in die Schule in den Medienkundeunterricht zwingen? Das kann keine Lösung sein. Vor allem, weil Medienkompetenz heute kaum mehr heißt, als mal ein iPad in die Klasse zu legen.
Medienunterricht hilft ja auch erst auf lange Sicht; und bis dahin weiter aufklären und den politischen Druck auf Plattformen wie Facebook aufrechterhalten. Was kann Europa sonst noch tun?
Alexander Sängerlaub:
Wir müssen viel tief greifender miteinander darüber sprechen, wie wir in unserer Demokratie miteinander diskutieren wollen. Sind datenkapitalistische Plattformen wie Facebook überhaupt der richtige Ort für demokratische Debatten? Ich denke nicht.
Wo wären sie denn besser aufgehoben?
Alexander Sängerlaub:
Warum nicht an einen alten Gedanken anknüpfen: In Deutschland haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg ein öffentlich-rechtliches Mediensystem eingerichtet, um Menschen mit vielen Auflagen gut und ausgewogen zu informieren. Vielleicht sind heute die Zeiten reif für eine ähnlich radikale Idee: Wie wäre denn ein öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk, vielleicht sogar europaweit?
Du willst wissen, wie eine solche Europäische Plattform aussehen könnte? Politikberater Johannes Hillje hat sie mit »Plattform Europa« vorausgedacht. Meine Kollegin Katharina Wiegmann hat mit ihm gesprochen.
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.