Darum ist niemand zu alt zum Spielen
Du glaubst, Spielen sei nur was für Kinder? Dann solltest du unbedingt diesen Text lesen. Hier sind die besten Gründe, dein inneres Spielkind zu feiern.

Tausende Menschen bewegen sich durch die riesigen Hallen. Rechts und links der Gänge sitzen Menschen aus allen Altersgruppen an Tischen zusammen, auf denen bunte Würfel und Figuren stehen. Gemeinsam lassen sie sich geduldig Regeln erklären und stellen Nachfragen. Alter, Herkunft und Job sind heute egal, denn hier geht es nur um eines: das Spielen.
Dieses Jahr machten sich insgesamt 209.000 Menschen auf den Weg zur weltgrößten Spielemesse SPIEL in Essen – noch einmal 15.000 mehr als im letzten Jahr. Das ist Rekord. 1.500 Neuheiten wurden der spielbegeisterten Menge vorgestellt – so viele wie noch nie.
Doch obwohl scheinbar so viele Deutsche gern spielen, ist das Thema im Alltag hierzulande nur selten präsent. Nicht umsonst finden sich Spiele in Kaufhäusern in der Kinderabteilung, neben Playmobil und Puppen. Für Erwachsene, das scheint die Anordnung zu sagen, sei Spielen nichts. Denn Erwachsene machen Erwachsenendinge: Steuererklärungen, Arbeiten und hin und wieder den Rasen mähen.
Auch ich muss zugeben, dass ich sehr überrascht war, als mir mein Lebensgefährte erklärte, er würde sich jetzt regelmäßig mit Freunden treffen, um
Tatsächlich sitzen sie jetzt einmal im Monat für mehrere Stunden in unserer Küche, um Würfel zu werfen und gemeinsam Fantasieabenteuer zu bewältigen. Und auf der Arbeit erwische ich Kollegen regelmäßig in der Mittagspause dabei, wie sie vertieft in
Zu Anfang dachte ich: Ist das nicht etwas kindisch?
Mittlerweile weiß ich: Ja, es ist kindisch – und gleichzeitig auch großartig. Denn kaum etwas hat die Menschheit so geprägt wie das Spielen und kaum etwas ist so wichtig für unsere lebenslange Entwicklung.
Warum Tiere spielen und Menschen nur spielend überleben
Schon bevor der Homo sapiens existierte, haben Säugetiere angefangen zu spielen – und tun es noch heute.
Dabei lernen und trainieren Tiere Verhaltensweisen, die überlebenswichtig sind. Pferde toben etwa über die Wiese, um die Flucht vor Raubtieren zu trainieren.
Dieses Spielverhalten kann man nicht nur bei Jungtieren beobachten: Tiere spielen ein Leben lang, so wie der Mensch. Und es gibt noch eine zweite Ähnlichkeit: Tiere spielen nur dann, wenn sie keine dringenden Probleme haben und sich sicher fühlen.

Das Spielen der Tiere zeigt, wie tief verwurzelt dieses Verhalten in unserer Evolutionsgeschichte ist. Doch manches am Spielverhalten des Homo sapiens ist einzigartig, ja sogar überlebenswichtig.
Je länger die Entwicklungszeit bis zum Erwachsenenalter dauert, desto bedeutsamer und vielfältiger wird das Spiel.
Der Psychologe Rolf Oerter, der die
Tiere spielen also auch, aber der Mensch einfach mehr. Das ist vor allem beim Aufwachsen wichtig, na klar. Aber wie passt das zu den spielbegeisterten Erwachsenen am Küchentisch?
Das Spielen von Kindern verrät uns, warum auch Erwachsene damit nicht aufhören können
Die Entwicklungspsychologie untersucht schon lange, was beim Spielen passiert. Heute ist sie sich sicher, dass Menschen dabei weit mehr trainieren als nur neue physische Fähigkeiten und Motorik:
»Durch Regelspiele trainieren Kinder zum Beispiel soziale und kognitive Fähigkeiten. Sie lernen dabei, welche Bedeutung Regeln für unsere Gemeinschaft haben. Zum anderen können Kinder kreativ sein, indem sie verschiedene Spielstrategien ausprobieren«, erklärt Theo Toppe, der am Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung promoviert.
Dabei lässt sich aus dem Spielverhalten auch ableiten, was die Kleinsten gerade beschäftigt: »In Rollenspielen stellen Kinder häufig Szenen nach, die sie im Alltag beschäftigen«, sagt auch Toppe. So können sie Erlebtes besser verarbeiten.
Wie Kinder spielen, wandelt sich dabei im Laufe ihrer Entwicklung.
- Funktionsspiel: Das erste Spiel unseres Lebens. Dabei erfreuen sich Kinder daran, wenn sie mit ihrem Körper zufällig gewisse Aktionen auslösen. Ein Beispiel: Das Kind stößt an einen Lichtschalter und schaltet dabei aus Versehen das Licht an. Das zu wiederholen macht dem Kind Spaß.
- Experimentierspiel: Kinder fangen an, bewusst mit Gegenständen zu experimentieren. Zum Beispiel lassen sie Porzellan fallen, um es zu zerbrechen.
- Frühes Symbolspiel: Die Kinder fangen an, Dingen eine Funktion zuzuschreiben. Durch »Brumm-Brumm«-Geräusche wird zum Beispiel ein Stück Holz zu einem Auto.
- Konstruktionsspiel: Das Kind baut von sich aus etwas auf, beispielsweise einen Turm aus Bauklötzen.
- Symbol- und Rollenspiel: Kinder spielen eine andere Rolle – manchmal spielen sie dabei Ereignisse nach, etwa Mutter-Vater-Kind, manchmal tauchen sie auch in eine Fantasiewelt ein und spielen beispielsweise Prinzessin.
- Regelspiel: Diese Spielform nutzen vor allem ältere Kinder, aber auch Jugendliche und Erwachsene. Hier ordnen Spielregeln das Spiel von außen und definieren auch ein Ende. Ziel des Spiels ist es dabei meist, mithilfe von Strategien zu gewinnen. Dazu zählen Brett-, aber beispielsweise auch Versteckspiele.
Was genau Spielen ist und was nicht, ist dabei nicht in Stein gemeißelt. Eine feste Definition von »Spiel« gibt es im Grunde auch gar nicht. Doch bei allen Formen des Spiels entdeckten die Forscher eine Gemeinsamkeit, die auch für das Spielverhalten von Erwachsenen wichtig ist: Der Homo sapiens spielt nicht, um etwas Bestimmtes zu erreichen, etwa um das Vorstellungsvermögen zu verbessern oder zählen zu lernen. Das alles sind Nebeneffekte. Wenn wir Menschen spielen, dann des Spielens selbst wegen, freiwillig und für die Freude, die es uns bereitet. Spielen ist also ein Selbstzweck.
Wusstest du, dass Spielen ein Grundrecht ist?
Weil Spielen für die Entwicklung so wichtig ist, ist es laut UN-Kinderrechtskonvention auch ein Grundrecht von Kindern, festgehalten in der UN-Kinderrechtskonvention 1989.
Und noch eine Entdeckung machten die Entwicklungsforscher bei ganz unterschiedlichen Spielformen. Egal ob Mau-Mau, Vater-Mutter-Kind oder Fantasy-Pen-and-Paper: Spiele lassen uns in eine andere Welt abtauchen.
Sind wir im Flow, steigt die Konzentration von Cortisol im Blut – ein Hormon, das vor allem in stressigen Situationen ausgeschüttet wird. Es sorgt dafür, dass unserem Körper zusätzliche Energie bereitgestellt wird. Gleichzeitig aktiviert Cortisol Rezeptoren im Gehirn, die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft fördern. Nebensächliche Informationen werden dabei eher ausgeblendet. Es entsteht eine Art positiver Stress. Studien zeigen: Menschen, die einen Flow erleben, sind in der Folge positiver gestimmt.
Spielspaß und Flow scheinen dabei Hand in Hand zu gehen – und auch bei Erwachsenen Stress abzubauen. Das ist gerade in unserer modernen Welt nützlich. Doch es gibt noch andere Forschungsansätze, die sogar sagen: Ohne Spielen hätte es die moderne Zivilisation so nicht gegeben.
Entstand unsere Kultur aus Spielen?
Theo Toppe und seine Kollegin Sarah Peoples verfolgen die Theorie, dass Spiele eine Art kulturelles Gedächtnis der Menschen sein könnten. Sie vermuten, dass durch Spiele bestimmte Regeln und Traditionen von Eltern an Kinder weitergegeben werden – und diese in ihrem späteren Handeln beeinflussen. Ob das stimmt, prüfen die beiden jetzt im Rahmen ihrer Forschungsarbeit.
Theo Toppe

Theo Toppe hat Psychologie studiert und promoviert derzeit am Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung. Außerdem arbeitet er am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Bildquelle: privatDafür erforscht Toppe unter anderem, wie sich Spiele auf das Moralverhalten von Kindern auswirken. In einer Studie mit einem selbst entwickelten Spiel zeigte sich: Kinder, die miteinander statt gegeneinander spielten, teilten hinterher lieber Sticker mit anderen Kindern, obwohl diese gar nicht an dem Spiel beteiligt waren.
Peoples beschäftigt sich währenddessen mit der Frage, ob verschiedene Gesellschaften beeinflussen, wie wir spielen. Dafür verglich sie verschiedene Regelspiele von historischen Kulturen im
Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat eine Theorie entwickelt, die noch einen Schritt weitergeht. Demnach hat sich unsere gesamte Kultur aus dem Spiel entwickelt. Er beschreibt den Menschen als »Homo ludens« – den spielenden Menschen. Alle möglichen Bereiche der Kultur – wie Kunst, Musik, Literatur, Theater und Sport – setzen dieser Theorie zufolge jeweils Spielformen aus der Kindheit fort.
Aus Bewegungs- und Motorikspielen könnten sich Sportarten und Tänze entwickelt haben, aus Konstruktionsspielen Kunstwerke und Architektur. Und Regelspiele könnten der Theorie zufolge eine Basis für Regeln in der Gesellschaft insgesamt bilden.
Das Problem an dieser Theorie: Sie lässt sich nicht beweisen. Deshalb sieht auch der Entwicklungspsychologe Toppe sie kritisch. Seiner Meinung nach sei es aber durchaus plausibel, dass Spiele Kreativität in eine Gesellschaft bringen und so neue Blickwinkel eröffnen und neue Ideen ermöglichen.
Doch nicht nur das Spielen als Tätigkeit, sondern auch ein
Es gibt also viele gute Gründe, sich auch als Erwachsener zum Rollenspiel zu treffen oder in der Mittagspause die Sammelkarten auszupacken. Warum aber tun sich viele damit so schwer?
Alle Erwachsenen spielen – und deshalb sollten sie auch dazu stehen
»Manche Menschen sagen zwar, sie spielen nicht, aber meistens gibt es doch etwas, das sie im Spiel tun«, erklärt Jens Junge. Er erforscht das Spielen am Institut für Ludologie in Berlin. So könne es sein, dass jemand nicht gern Brettspiele spiele, dafür aber gerne herumalbere, Fußball spiele, bastele oder Puzzles zusammensetze.
Welche Form des Spielens dabei für einen Menschen passt, ist sehr individuell und wird schon in der Kindheit geprägt. Doch der Spieleforscher ist sicher, dass es für jeden Menschen das richtige Spiel gibt: »Wenn ein Spiel uns keinen Spaß macht, dann ist es einfach kein gutes Spiel für uns.«
Das heißt auch, dass unsere Vorstellung davon, was ein Spiel ist, heute viel zu eng ist. Spiele sind eben nicht nur Brettspiele wie Monopoly und Mensch ärgere Dich nicht – sondern auch Sport, sehr spezielle Kennerspiele oder sogar etwas, das auf den ersten Blick gar nicht nach »Spiel« aussieht, etwa Singen. Und niemand sollte das Recht haben, anderen das ganz persönliche Spielvergnügen madig zu machen.
Anstatt ungewohnte Spielformen verwundert zu belächeln – etwa wenn der Lebenspartner von seinen fantastischen Küchentischabenteuern erzählt –, könnten wir uns fragen, warum gerade diese Form des Spielens zu dieser Person passt. Und uns vielleicht auch einmal neugierig dazusetzen und mitspielen.
Wir könnten etwas entdecken, das uns Spaß macht.
In diesem Artikel wird das Thema Spielsucht ausgeklammert. Wenn das Spielverhalten Konsequenzen für das private und berufliche Umfeld hat, sollte man sich professionelle Hilfe suchen. Mehr Informationen gibt es zum Beispiel hier.
Titelbild: unbekannt