Zu Besuch beim Fotoflüsterer
In der Einsamkeit der Dolomiten macht ein Fotograf Aufnahmen, die fast unvergänglich sind: echte Unikate, die 800 Jahre lang haltbar sind. Ich stehe daneben und fotografiere ihn mit meiner Digitalkamera.
10 Tage habe ich dem Fotografen Kurt Moser beim Fotografieren zugeschaut. 1 Bild pro Tag. Das hat mich tief beeindruckt und mein eigenes Fotoverhalten verändert.
Vor ein paar Wochen rief mich
Fotografieren in analogen Zeiten
Wir hatten damals 10 Filmrollen dabei. Jede Rolle 24 Bilder. Und wir wollten 12 Monate durch ganz Südamerika, von Französisch-Guyana über Brasilien, Paraguay, Bolivien, Chile, Peru, Ecuador hoch nach Panama, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Guatemala. Da gab es viele Motive für wenig Film. Manchmal warteten wir stundenlang, um ein Motiv ins richtige Licht zu setzen. Wenn es regnete, stellten wir uns geduldig irgendwo unter, bis endlich die Wolkendecke aufbrach. Wenn die Sonne dann endlich den Tempel oder die Festungsmauer der Inka beleuchtete, machten wir unser Bild. Schließlich hatten wir zuvor viele Stunden im stickigen Bus zurückgelegt. Stets galt: Bloß nicht zu schnell den Auslöser betätigen! Erst alles checken, dann tief einatmen, Luft anhalten und auslösen. Bloß keine Aufnahme verschwenden!
Wenn die Rolle voll war, schickten wir sie per Post nach Europa zum Entwickeln und bangten, ob die Bilder wohl auch heil ankämen. Wir haben diese Dias im Laufe der Jahre immer wieder angeschaut. Jedes einzelne hatte eine ganz besondere Entstehungsgeschichte.
Bis vor Kurzem dachte ich, diese Zeiten seien vorbei. Fotografie ist heutzutage digital und endlos reproduzierbar. Dann lernte ich den italienischen Fotografen Kurt Moser kennen. Während einer Reportage in den Dolomiten erzählte er mir mit leuchtenden Augen von seinem ganz und gar ungewöhnlichen Fotoprojekt mit einer alten, riesigen Kamera. Auch wenn die Technik, die er anwendet, noch viel älter ist, fiel mir mein analoges Fotografieren von 1980 wieder ein.
Kurt Moser fotografiert mit dem sogenannten
»Am Ende entsteht dieses eine Bild, eines am Tag, mehr ist nicht drin.«
Jedes Bild sei ein Unikat, erzählte mir Kurt Moser bei unserem ersten Treffen. Ob ich ihm einmal dabei zuschauen könnte, wollte ich damals wissen. »Na klar«, sagte er. Vor einigen Wochen war es dann soweit. Er nahm mich mit in die Berge, nach Villnöss in den Dolomiten in Südtirol.
Auf der Suche nach Beständigkeit
Mit seinem fahrbaren Labor sind wir eine Schotterstraße bis zum Fuße der Geislerspitzen hochgefahren. Kurt Moser hat dafür eine Sondergenehmigung von der UNESCO, denn das ganze Gebiet ist
Die Vorbereitungen dauern mehrere Stunden. Jetzt steht der Fotograf am Objektiv und atmet tief ein. Die Augen verengt, das dunkelgraue Haar schweißnass auf der Stirn, der Blick zentriert auf diesen einen Moment. Er sinkt ein wenig in die Knie. Es scheint, als wolle er sich mit der Erde verwurzeln, als wolle er eins werden mit seiner Kamera, die er liebevoll »mein Baby« nennt.
Die Kamera lagert auf 2 Tischböcken. Die sind fast 2 Meter groß, aus Holz mit handgeschmiedeten Beschlägen. Das tellergroße Objektiv ist auf die Geislerspitzen gerichtet. Wie Fontänen ragen die grauen Zacken des Felsmassivs aus den sattgrünen Wiesen hervor. Jede Felsspalte, jedes Steinchen, jedes Spiel mit Licht und Schatten will Moser festhalten. Auf einem Foto, das es niemals 2-mal geben wird – denn dieses Foto hat kein Negativ. Es ist ein großformatiges Unikat auf schwarzem Kathedralglas. Mindestens 800 Jahre lang haltbar, sagt Kurt Moser.
»Man ist so klein hier oben. Man vergisst einfach den Rest der Welt.«
Den ganzen Tag hat er dieses eine Foto vorbereitet. In seinen gelben Lederschürzen und den langen, wehenden Haaren sieht der 50-Jährige ein wenig aus wie ein Hexenmeister. Stundenlang ist er hin und her gelaufen zwischen Kamera und Labor. Das befindet sich in einem umgebauten Lieferwagen, in dem er geheimnisvolle Lösungen mixt und Silberbäder vorbereitet. Zwischendurch schaut er immer wieder fragend und forschend zum Felsmassiv der Dolomiten, als läge dort eine Antwort auf das Leben. Und dann fällt ganz beiläufig so ein Satz: »Das war alles mal unter Wasser. Und jetzt schaue diese massiven Gebilde an: gebaut von Milliarden von klitzekleinen Korallenwesen. Ist das nicht Irre? Man ist so klein hier oben«, und mit brüchiger Stimme fährt er fort: »Das ist vielleicht der Grund, warum ich das tue. Man vergisst einfach den Rest der Welt.«
Unglaublich, dass das hier alles mal ein Meer war und die Spitzen der Dolomiten Riffe im Wasser. Es hat 280 Millionen Jahre gedauert, bis dieses Gestein auf dem Meeresboden entstehen konnte. Korallen, Kalkalgen und Muscheln haben dabei geholfen. Vor 80 Millionen Jahren schob sich die Afrikanische Kontinentalplatte gegen die Eurasische und die Erde faltete sich auf. Korallenriffe und Meeresboden tauchten auf: die Dolomiten. Das Wissen um Naturgewalten und Zeit als Schöpfer dieser Felsen hat etwas Beruhigendes.
Während ich all das aufsauge, frage ich mich: Ist es vielleicht eben diese Beständigkeit, die Sicherheit und Kraft, nach der ich mich in der schnelllebigen Zeit sehne, in der sich alles ständig ändert?
Und ich? Schnell ein paar Mal abgedrückt!
Ich schaue auf meine Digitalkamera. In den letzten Stunden habe ich etwa 150 Bilder gemacht. Und ein paar Selfies auf dem Smartphone. Kurt will heute genau ein Foto machen. Ich klicke die Bilder auf meinem Display durch, lösche schon mal die Unbrauchbaren. Das mache ich allerdings nur, wenn ich beruflich fotografiere. Die privaten Bilder vom Smartphone sortiere ich nie.
Wieso eigentlich nicht? Und was fotografiere ich da überhaupt? In der Regel schaue ich die Fotos nie wieder an. Doch jetzt werde ich plötzlich neugierig und will wissen, was ich in meiner privaten Foto-Datenbank, die ich stets bei mir trage, gesammelt habe. Ich öffne das Archiv und scrolle durch die Bilder der letzten Wochen. Ausschnitte eines Zeitungsartikels, den ich im Wartezimmer gelesen habe. Ein Kochrezept. Ein Krug Wasser mit Zitronenschnitzer, 44 Bilder vom selben Berg, ich vor dem Berg, ich mit einem Bauern, ich mit Kurt Moser, ich, ich, ich. Auf den ersten Blick schätze ich: Mindestens 70% der Bilder sind total überflüssig. Aber erst wenn die gefürchtete Nachricht »Speicher fast voll« auf dem kleinen Bildschirm aufpoppt, muss ich ran, um das Gerät wieder funktionsfähig zu machen.
Löschen ist anstrengend. Jedes Mal eine Entscheidung. Ähnlich wie
Während Kurt Moser weiter an seinem einzigen Foto für heute arbeitet, klicke ich durch den Bilderwust meines Smartphones. »Brauche« ich das Bild vom Kochrezept noch? Will sich das irgendjemand jemals anschauen? Was will ich mit der ganzen Bilderflut? Ein paar Erinnerungen zu haben ist toll. Die Frage ist: Finde ich da noch etwas wieder, wenn ich ein bestimmtes Bild suche?
Aus den Krisengebieten zum Rückzug in die Berge
Auch Kurt Moser hatte es mit Bilderfluten zu tun, bevor er sein Projekt begann. Als Fotograf und Kameramann war er für die großen internationalen Fernsehanstalten in Krisengebieten unterwegs. Natürlich digital. Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Bosnien, Kosovo, Israel, Kurdistan. Mit Ende 40 fragte er sich, was von all den Erlebnissen geblieben ist. Nichts als digitales Rauschen und flüchtige Bilder?
Dann ist er in seine Heimat zurückgekommen, will bleiben und Bleibendes schaffen. Mit einer Projektidee, die ebenso gewaltig zu sein scheint wie die Berge, die er so liebt. Er will die Dolomiten und einige ihrer Bewohner, vorzugsweise fast 100-jährige Bauern, auf 1 × 1,5 Meter großen Glasplatten verewigen. Mit dieser ganz besonderen Kamera, die er nicht gesucht, sondern auf fast schicksalhafte Weise gefunden hat, wie er beteuert.
»Ich hab die Kamera gesehen und wusste innerhalb von 3 Sekunden: Die muss ich haben.«
An einem Herbsttag 2013 fährt er nach Mailand auf der Suche nach neuem Equipment. Zufällig entdeckt er unter einer zentimeterdicken Staubschicht die Kamera, die im nächsten Jahr ihren 100. Geburtstag feiern wird. »Ich fand die einfach nur schön, wusste innerhalb von 3 Sekunden, dass ich die haben muss«, wird er später sagen. Er kauft die fast 2 Meter große Holzkamera und schleppt sie nach Bozen, ohne zu wissen, was er damit anstellen soll. Erst zu Hause stellt er fest: Für diese Kamera gibt es gar keine Filme. Danach verbringt er 5 Monate lang in der Dunkelkammer und versucht, ein Foto im Ambrotypie-Verfahren herzustellen. Kein einziges sei gelungen. Er sei fast verzweifelt. Aber Kurt Moser sagt sich: »Hey, die haben das 1850 geschafft, warum sollte ich das heute nicht schaffen?« Und er hält durch. Bis endlich die ersten Bilder gelingen.
Mehr als 1 Billion Bilder – pro Jahr
Das erste Foto,
Die enorme Anzahl an Fotos, die täglich gemacht werden, geht vor allem auf die digitale Fotografie und die Nutzung von Handykameras zurück. Die ersten Digitalkameras wurden Ende der 1980er-Jahre vor allem von professionellen Fotografen genutzt; das
Täglich werden Milliarden von Fotos ins Internet gestellt
Und die Bilder werden längst nicht mehr für den heimischen Dia-Abend gemacht, sondern für die weltweite Netzgemeinde. 2011 wurden
All diese Zahlen gehen deutlich über meine Vorstellungskraft hinaus. Aber wenn ich im Alltag sehe, was wir alles so fotografieren, frage ich mich: Wer wird diese Fotos jemals anschauen und wozu »brauchen« wir sie überhaupt? Warum recken Tausende von Menschen während eines Konzertes ihr Smartphone in die Höhe und starren auf das kleine Display, obwohl sie doch die große Bühne direkt vor Augen haben? Auch die ganze Essensfotografie, die Menschen animiert, jede ihrer Mahlzeiten als Bild ins Internet zu stellen, verunsichert mich ein wenig – selbst wenn Studienergebnisse mittlerweile gezeigt haben, dass ein zuvor fotografiertes Mahl leckerer schmeckt und uns sogar anregen kann,
Kurt Moser geht es nicht um Fotos seiner Restaurantbesuche oder Erinnerungen an Konzerte. Er versteht sich als Künstler.
Von Bergen und 100-jährigen Bauern
Inzwischen hat der Südtiroler Fotograf eine ganze Reihe von Porträts mit der alten Fototechnik erstellt. Einer der fotografierten Bauern lebt gleich unterhalb der Geislerspitzen im Villnösstal und ist 94 Jahre alt. Seine Frau ist schwerhörig und brüllt ins Telefon, dass er nicht zu sprechen sei. Der Sepp sei auf dem Feld, Heu einholen. Kurt Moser lacht. Ja, so ist er, der Sepp. Nicht zu bremsen. Er sucht ihn also auf dem Feld und findet ihn an einem Steilhang. Kommt kaum hoch, der starke Kerl. Aber Sepp arbeitet da in der Schräge mit dem Rechen, die dünnen Beinchen breit aufgestellt, klein und zäh, und schaufelt das getrocknete Gras zur Seite, hält inne, winkt, wedelt mit dem Hut und lacht.
Der Fotograf schnappt sich den zweiten Rechen und packt mit an. Der Sepp, sagt er, sei nie aus dem Tal hinausgekommen, nur einmal zum 90. Geburtstag mit den Söhnen nach Ungarn gereist. Dann erzählt Sepp von seinem Fototermin. Im Atelier habe er sitzen müssen, lang sitzen müssen. Von überall sei Licht gekommen und er habe sich »stundenlang« überhaupt nicht rühren dürfen. Ganz zappelig habe ihn das gemacht.
Kaum vorstellbar, dass dieses quirlige Energiebündel ruhig sitzen kann. Kurt Moser seufzt. »Ja, das war schwer, gell Sepp?« »Ah mei, alles musste so genau sein, der Kurt war so streng und das Licht hat geblendet. Dabei sollte ich auch noch nett dreinschauen.« Ob er noch andere Fotos von sich hätte, will ich wissen, von früher. Da schaut mich der alte Mann lachend an. Fotos? Von ihm? Nein. Die gebe es nicht. Wozu auch?
»Diese Fotos lügen nicht.« – Sepp Messner (94 Jahre)
Aber das Foto, das Kurt Moser von ihm gemacht habe, gefalle ihm gut, sagt Sepp. Die Porträts im Ambrotypie-Verfahren auf schwarzen Glasplatten sind einzigartig in der Anmutung. Jede Falte zeigt sich und erzählt eine Geschichte. Das ganze Gesicht wirkt wie eine Landschaft mit Bergen und Tälern, dreidimensional. Die Augen leuchten, als sei der Mensch lebendig und würde jeden Moment aus der Platte steigen.
Spannend sei das, sagt Kurt, wenn die Bauern bei der Entwicklung zusehen und sich im Wannenbad langsam das Gesicht zeige. Erst erscheint es ganz verschwommen, dann bilden sich langsam Konturen heraus, Schwarz-Weiß-Nuancen und eine ganz besondere Oberfläche, die durch das Bewegen der Glasplatten beim Entwickeln entsteht.
Von der verrückten Idee zur Ausstellung
Um die ganz großen Fotos zu machen, hat Kurt Moser sich einen alten Ural-Lkw gekauft. Den will er zum fahrenden Fotolabor umbauen lassen. Die Kamera mit ihrem riesigen Objektiv soll in die Karosserie eingebaut werden.
»Ich war nonstop in der Dunkelkammer, hab mich da regelrecht eingesperrt. Tür zu und Schlüssel weg. Endlos probiert.«
Fast 2 Jahre experimentiert er nun mit der alten Kamera, hält jedes Detail, jede Lösung und jede Sekunde Belichtung in einem kleinen Büchlein handschriftlich fest. Wie ein Koch auf der Suche nach neuen Rezepten. Und wenn er heute mit wirrem Haar und schweißnasser Stirn kurz vor dem Auslösen neben seiner Kamera vor einem Felsmassiv steht, ist all sein Mühen, sein jahrelanges Probieren und Versuchen in diesem Moment präsent. Er atmet tief ein, verwurzelt sich mit der Erde, atmet aus, zieht die schwarze Objektivkappe ab und zählt die Sekunden der Belichtungszeit, bevor er sie wieder schließt.
Dann bleiben ihm genau 5 Minuten, um das Bild zu entwickeln. Er rast mit der Platte quer über die Almwiese in sein mobiles Labor. Man hört es gluckern und knacksen, klicken und rauschen. Und dann kommt er raus. Während das Abendlicht die Zacken der Geislergruppe gerade in zartrosa taucht, erscheinen sie auf der schwarzen Platte überirdisch schön in schwarz-weiß.
Dieses eine Foto wird für immer ein Unikat sein. Es kann nicht vergrößert oder verkleinert, nicht vervielfältigt und nicht bearbeitet werden. Es bleibt für immer so, wie es ist. 2019 wird es zusammen mit den großformatigen Bildern über die Berge und mit der Porträtreihe der 100-Jährigen im Museum für Fotografie in Berlin, New York und London ausgestellt werden.
Jetzt schaut er sein Bild des Tages an und strahlt. Seine Züge entspannen sich, sein Blick wird weich. Er setzt sich ins Gras, eine Flasche Bier in der Hand, schaut auf die Berge und prostet ihnen zu. Ich setze mich daneben.
Allein ihm beim Arbeiten zuzuschauen, seine Konzentration auf das Wesentliche mitzuerleben, hat mich entspannt. Irgendwann habe ich aufgehört, Fotos zu machen und zu denken. Ich war einfach nur noch da. Und dann ist noch etwas passiert. Seit meiner Erfahrung mit Kurt Moser fotografiere ich zwar immer noch digital, aber anders. Langsamer. Entspannter. Konzentrierter. Und ich mache weniger Fotos.
Titelbild: Gitti Müller - copyright