Die alte Weltordnung ist am Ende. Warum das kein Weltuntergang ist
Die NATO ist hirntot, der UN droht die Pleite, die EU zerfällt. Lies hier, was jetzt auf uns zukommt.
Die Patientin, um die es in diesem Text unter anderem gehen soll, wurde im November 2019
Die Patientin, von der hier die Rede ist, ist die NATO. Die westliche Militärallianz feierte erst im April vergangenen Jahres ihren 70. Geburtstag. 29 europäische und nordamerikanische Staaten, von der Türkei bis Kanada, gehören dem Bündnis an, das gegenseitige Sicherheit garantieren soll und in den Jahren des Kalten Krieges in erster Linie
Die NATO war schon immer umstritten. Denn ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein Militärbündnis die Welt in irgendeiner Form friedlicher machen kann.
Doch dies ist eine Diskussion, die nicht nur Expert:innen interessieren sollte: Die NATO ist ein Teilchen im großen Puzzle einer multilateralen Weltordnung, die auf grenzübergreifende Problemlösung setzt.
Und dieses Puzzle, das man sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem ideologischen Sieg des »Westens« in den 1990er-Jahren als sorgfältig gerahmtes Wandbild an einer holzvertäfelten Wand in piefigen Bonner Kanzlerbungalows vorstellen kann, scheint langsam auseinanderzufallen, Stück für Stück. Denn es ist nicht nur die NATO, die gerade von ganz oben infrage gestellt wird. Auch die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation (WTO) oder die EU haben es gerade nicht leicht.
Was genau geht da vor sich? Und brauchen wir gerade in Zeiten der Klimakrise nicht dringend mehr internationale Koordination statt nationaler Alleingänge?
Statt gemeinsam Probleme anzugehen, zeigen nationale Regierungen heute gern mit dem Finger auf andere. Klimaschutz ist ein gutes Beispiel: Warum sollten gerade wir unpopuläre und teure Maßnahmen einleiten, fragen manche, wenn doch die anderen genauso viel (oder noch mehr!) CO2 ausstoßen und keine Anstalten machen,
Auf diese beispielhafte Problematik gibt es eine recht einfache Antwort: Es braucht Regeln, an die sich alle halten müssen. Genau das steckt hinter dem sperrigen Wort Multilateralismus – die Idee, dass am Ende alle von Kooperation profitieren, auch wenn zwischendurch mal einer zurückstecken oder in Vorleistung gehen muss. Das größere gemeinsame Ziel (in diesem Fall immerhin eine weiterhin bewohnbare Erde!) ist die Basis der Zusammenarbeit.
Dafür braucht es Regeln, die fair und für möglichst viele nicht nur akzeptabel, sondern auch bindend sind. Doch wer soll sie schaffen? Und wer durchsetzen?
Mit Multilateralismus gegen Krieg
Der erste ernsthafte Versuch, eine Art Weltregierung zu schaffen, resultierte aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit seinen Millionen Toten und Verletzten. Im Jahr 1920 gründeten 32 Nationen in Genf den
Vorher wurden Konflikte und Kooperationen eher auf bilateraler Ebene, also zwischen 2 Staaten verhandelt – oder es setzte sich schlicht der Stärkere durch. Im Völkerbund sollten die Staaten keine geheimen Absprachen mehr treffen, in den Handelsbeziehungen gleiche Bedingungen für alle gelten lassen sowie einander im Falle eines Angriffs beistehen. Bei einem Konflikt untereinander verpflichteten sich die Nationen dazu, im Gespräch nach Lösungen zu suchen und mindestens 90 Tage zu warten, bevor sie ihr Militär gegeneinander ins Feld schickten. Ein komplettes Kriegsverbot war nicht Teil des Deals.
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant hatte mehr als 100 Jahre zuvor schon einmal gründlich über die Bedingungen für einen »ewigen Frieden« nachgedacht. Für den sonst zur Schwurbeligkeit neigenden Denker ist sein Traktat aus dem Jahr 1795 geradeheraus formuliert, mit einem Idealismus, der auch aus heutiger Sicht noch kühn erscheint:
Er hat seine Versprechen oft nicht eingehalten. Im Jahr 1936 bat der Kaiser des heutigen Äthiopiens,
Und auch den Zweiten Weltkrieg konnte der Völkerbund nicht verhindern. Doch nach der Katastrophe folgte ein neuer Anlauf in Richtung Weltfrieden: mit den Vereinten Nationen, die heute das wohl wichtigste Forum für Multilateralismus sind.
Du willst mehr darüber erfahren, wie die Vereinten Nationen heute Frieden sichern sollen? In diesem Text erklärt dir Frederik v. Paepcke den Unterschied zwischen Utopie und Realität.
Ist der Multilateralismus in der Krise?
Doch zurück zum auseinanderfallenden Puzzle in der guten Stube, in dessen Zentrum wir uns die USA und das maßgeblich von ihr designte System der Institutionen vorstellen können, das die Welt in den vergangenen Jahrzehnten dominierte und mal mehr und mal weniger sachte auf den aus ihrer Sicht einzig vernünftigen Kurs zu stupsen versuchte: in Richtung
Auf einem anderen Puzzlestück prangt eine Erdkugel umgeben von Olivenzweigen – die Flagge der gar nicht mal so sehr Vereinten Nationen (UN). Im Herbst 2019 schlug ihr Generalsekretär António Guterres Alarm:
Es gibt jede Menge anderer Teilchen, die schiefhängen, nie richtig passten oder sogar schon aus dem Rahmen zu Boden gefallen sind: Der Internationale Strafgerichtshof und die EU nach dem Brexit sind nur 2 weitere Beispiele.
Das alles klingt beunruhigend.
Dort zeigte sich aber auch ein Zusammenhang zwischen der empfundenen Krise des Multilateralismus und einer anderen Krise: der des »Westens«.
Wir sehen, dass es innerhalb der klassischen Allianz, die Europa mit Amerika verbindet, Zerfallserscheinungen gibt. Denken Sie an die Lage innerhalb der EU: Die Briten ziehen sich zurück, Polen und Ungarn haben Probleme mit unserem Verständnis von Rechtsstaat. Der Westen ist sich selbst nicht mehr sicher. Die Welt scheint insgesamt weniger westlich zu werden. Man dachte vor 10 Jahren, dass China, wenn es etwas reicher wird, so werden wird wie wir. Es geht aber seinen eigenen Weg. Es wird nicht zu einem westlichen Land.
Diese Perspektive zeigt ganz gut, was der Knackpunkt ist: Der Multilateralismus in seiner bisherigen Form war
Im Westen selbst gewinnt dagegen ein extremer Nationalismus an Popularität, der sich ausschließlich an den imaginierten Interessen des eigenen »Volkes« orientiert.
Was jetzt? Wie sollen wir die Welt retten, wenn keiner mehr zusammenarbeiten will?
Der Multilateralismus der Zukunft: flexible Allianzen und regionale Zusammenarbeit?
Die gute Nachricht ist: So schlimm, wie es scheint, steht es nicht. Wenn ein französischer Präsident den Hirntod der NATO feststellt, Donald Trump Handelskriege anzettelt oder die G7 Russland ausschließen, dann macht das zwar Lärm. Vieles, was auf den ganz großen internationalen Bühnen passiert, ist aber auch Symbolpolitik. Hier spielen die Akteure mit den Muskeln und markieren ihre Position vor der versammelten Weltöffentlichkeit – und der eigenen Wählerschaft zu Hause.
Doch es gibt jede Menge Foren, die in der Öffentlichkeit wenig bis gar nicht vorkommen, in denen aber durchaus konstruktiv zusammengearbeitet wird – zum Beispiel auf regionaler Ebene. Ein Beispiel: der Ostseerat Council of the Baltic Sea States (CBSS) mit seinen derzeit
Der Ostseerat ist ein Beispiel dafür, dass es manchmal tatsächlich eine Diskrepanz zwischen dem Auftreten nationaler Regierungen auf internationalen Bühnen und der konstruktiven Mitarbeit in kleineren Gremien gibt. Zum Beispiel im Fall Polen. Die PiS-Regierung dort zieht sich seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 in einen rechtskonservativen Nationalismus zurück. Im Ostseerat bringt sich Polen aktiv ein.
Auf einer anderen Ebene will die von Deutschland und Frankreich vorangetriebene Allianz für Multilateralismus die internationale Zusammenarbeit neu beleben. Die
Der Unterschied zum Multilateralismus der vergangenen Jahrzehnte: Es geht bei der Zusammenarbeit nicht mehr unbedingt um geteilte Werte, Kulturen oder Ideologien. Der Multilateralismus ist nicht am Ende, er ändert nur seine Form, weg vom Konferenztisch, hin zu flexiblen Allianzen. Ein bisschen wie die moderne Arbeitswelt, die heute auch eher projektbezogen und weniger in fixen Hierarchien operiert – weil sich diese nicht unbedingt als effizient erwiesen haben.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily