»Riace paese dell'accoglienza – Willkommensdorf Riace« steht auf einem Torbogen an der Piazza, stilisierte Bilder zeigen Menschen aus Afrika. Was im tiefsten
Woraus besteht dieses Wunder? Riace war bis vor Kurzem so gottverlassen wie Dutzende andere Dörfer in Süditalien: Der Ortskern war verfallen, der Putz bröckelte, Fensterläden klapperten. Mehr als die Hälfte der einst 3.000 Einwohner war auf der Suche nach Arbeit woandershin gezogen. Domenico Lucano aber blieb. Im Jahre 1998 fuhr der damalige Chemielehrer am Meer entlang und sah, wie ein überladenes Segelboot mit 218 kurdischen Männern, Frauen und Kindern auf den Strand von Riace Marina zusteuerte. Er habe in diesem Moment »eine Art Berufung« empfunden, berichtete er später.
Die Geflüchteten, schoss es ihm durch den Kopf, könnten doch die leeren Häuser renovieren und bewohnen. Zusammen mit Freunden gründete er den gemeinnützigen Verein »Città Futura«, Stadt der Zukunft. Die Eigentümer eines alten Palazzos stellten dem Verein das leerstehende Gebäude für 1 Euro Jahresmiete zur Verfügung. Fördermittel dienten dazu, ihn notdürftig herzurichten.
Dann ging’s los. Männliche Geflüchtete setzten Häuser und zerfallene Terrassen instand, weibliche arbeiteten in der wiedereröffneten Glasbläserei, Stickerei, Weberei oder Töpferei. Heute ist Città Futura der größte Arbeitgeber im Dorf. Flüchtlingskinder füllen die einst von Schließung bedrohte Dorfschule mit neuem Leben. Die
Domenico Lucano, den alle nur »Mimmo« nennen, kandidierte 2004 als parteiloser Bürgermeister und schraubte ein Schild an seine Tür: »Ich empfange zu jeder Tageszeit.« Zweimal wurde er seitdem wiedergewählt. In der Tat, »Mimmo« ist jederzeit ansprechbar, persönlich oder übers Handy. Das Ding klingelt ohne Pause, auch wenn er im Ausland unterwegs ist. Und das ist inzwischen oft der Fall, denn viele wollen jetzt wissen, wie er das hinbekam mit dem »Willkommensdorf« und überhäufen ihn mit Preisen.
Beim »World Mayor Award 2010« – der jährlichen Preisverleihung für den weltweit besten Bürgermeister – kam er auf
Solange das Anerkennungsverfahren läuft, zahlt der italienische Staat Geflüchteten eine kleine Summe. Im Vergleich zu den Auffanglagern in der Region
Weil das Staatsgeld so oft verspätet aus Rom eintraf, kreierte der Bürgermeister in seiner Not sogar eine eigene Dorfwährung, den »Bonus« – die Köpfe von Gandhi, Che Guevara und Martin Luther King schmücken
Ein weiteres Geheimnis von Riace sind die Tandems – und dabei geht es nicht um Fahrräder. Einheimische und Neuankömmlinge arbeiten meist in Zweierteams; sie lernen sich dadurch kennen und schätzen. Die genossenschaftliche Müllabfuhr besteht aus 2 Männern aus Riace, 2 Geflüchteten und 14 Eseln (wobei nicht sicher ist, ob die Esel über ihre Rechte als Genossen aufgeklärt wurden). »Kein Benzin, kein Gestank, kein Krach und Reparaturen sind bei den Tieren auch nicht nötig«, weiß
Die Afghanin Tahira, mit ihren Kindern vor den Taliban geflohen, arbeitet in der Stickerei Seite an Seite mit der einheimischen Caterina. Besser habe sie es nicht treffen können, sagt sie. In der Töpferei stellen die italienische Kunstabsolventin Lorena und der afghanische Geflüchtete Issa Keramik her. Lorena ist dankbar, durch diese Arbeit in Riace bleiben zu können. In der Glaswerkstatt fertigen Arogo aus Eritrea und Irene aus Riace zusammen Glaskunstwerke an. »Früher wäre ich weggegangen, gezwungenermaßen, jetzt habe auch ich hier Arbeit«, sagt Irene.
Was also macht das Wunder von Riace aus?
Aber nicht alles ist rosig: Die Mafia, die in den nahen Orangenplantagen Immigranten für Hungerlöhne schuften lässt, hält nicht viel von dieser Hoffnung. Eine angstfreie und emanzipierte Bevölkerung ist für sie ein Albtraum. Im Jahr 2009 wurde die Tür des Bürgermeisters durchschossen, Unbekannte vergifteten seine Hunde. »Wir machen einfach weiter«, sagt der Bürgermeister dazu. Denn wenn man sich zum Schweigen bringen lasse, dann bedeute das, im Inneren zu sterben. Angst hat er nach eigenem Bekunden nicht. Europa indes sieht er »auf einem Weg in eine völlig neue Barbarei.« Dem will der Bürgermeister die Vision eines anderen, besseren Europas ganz praktisch entgegenstellen: eine Stadt und Stätte der Zukunft, Città Futura.
Besonders für strukturschwache Orte ist Riace ein Modell. Oft wird suggeriert, dass Geflüchtete
Riace könnte also Vorbild in den österreichischen Alpen, in verlassenen Orten Ostdeutschlands und in Schweizer Bergdörfern sein. Neuankömmlinge könnten beim Aufbau der kaputten Infrastruktur helfen, Parks instand setzen, Lebensmittel produzieren und verkaufen, die lokale Ökonomie reanimieren. Wie lässt sich ein solcher Wandel beginnen? In Riace hat ein Mann den Stein ins Rollen gebracht. Das sollte woanders auch möglich sein. Wir brauchen das Engagement mutiger Menschen vor Ort, die Ängstliche mitziehen und Fremdenfeinden keinen Raum lassen.
Titelbild: Megan Murray - CC0 1.0
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