Mit diesen 5 Karten verstehst du »Afrika« besser
Bevölkerungswachstum, Armut und Kultur: Schaue dir an, wie vielfältig der Kontinent wirklich ist.
»Afrikas Bevölkerung wächst rasant« meldete die Tagesschau vergangenes Jahr.
Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb seine Bewohner, nicht nur in dem Beitrag der Tagesschau, häufig alle über einen Kamm geschoren werden. Das belegt auch eine Studie aus dem Jahr 2010. Ihr Ergebnis: Die meisten deutschen Kinder nehmen Afrika als einheitlich »exotischen und/oder hoffnungslosen und gewalttätigen Ort« wahr. Dadurch werden automatisch auch Menschen afrikanischer Abstammung zu Opfern negativer Stereotype, oder einfacher ausgedrückt: zu
Wer sich diesen Stereotypen entgegenstellen will, der bemüht oft den Satz »Afrika ist ein Kontinent, kein Land«. Auch ich selbst habe diese Worte schon unzählige Male gesagt und geschrieben. Doch auch dieser Hinweis wird unserem Nachbarkontinent nicht gerecht. Genauso, wie unser aller Bild von »Afrika« über Jahrzehnte aufgebaut wurde, müssen wir es auch Stück für Stück dekonstruieren – und herausfinden, unter welchen Bedingungen es tatsächlich Sinn ergibt, von »Afrika« zu sprechen.
Zoomstufe: Kontinent. So unterschiedlich wächst Afrikas Bevölkerung
Willst du zum Beispiel die Anregung der Tagesschau aufgreifen und dir über Bevölkerungswachstum Gedanken machen, dann könntest du auf dieses Bild stoßen:
Schnell lässt sich feststellen, dass in »Afrika« die Bevölkerung keinesfalls rasant wächst. In Ländern wie dem Niger, Burkina Faso oder der Demokratischen Republik Kongo mag das Bevölkerungswachstum durchaus sehr hoch sein. Dem stehen aber Nationen wie Südafrika, Tunesien oder die Kapverdischen Inseln gegenüber, deren Bevölkerungswachstum sich in keiner Weise von vielen europäischen Ländern unterscheidet.
Aber was heißt das jetzt?
Eine differenzierte Betrachtung vermeidet nicht nur unnötige Gleichmacherei. Sie hilft einem
Eine differenzierte Perspektive hilft, bestimmte Probleme auf einzelne Länder zu beschränken, dort die Herausforderungen und Hintergründe zu beleuchten und nach Lösungen zu suchen. Denn ein hohes Bevölkerungswachstum ist tatsächlich ein Problem: Ein Land mit mehr als 3% Bevölkerungswachstum hat kaum eine Chance, Armut wirksam zu
Einer Lösung kommt man aber mit dem Schlagwort »Afrika« nicht näher. Während Namibia mit 1,9% Bevölkerungswachstum vielleicht keine Hilfe braucht oder will, sieht das im Nachbarland Angola mit 3,3% Wachstum anders aus. Und wohingegen in Angola ein Programm zur Familienplanung dank eines nationalen Pro-Kopf-Einkommens von knapp 6.000 US-Dollar pro Jahr vermutlich aus Steuereinnahmen finanzierbar wäre, ist der Niger mit etwa 900 US-Dollar pro Jahr und Einwohner finanziell erheblich schlechter aufgestellt:
Aber Wohlstand ist auch nicht gleichmäßig über ganze Länder verteilt. Genauso, wie es nicht »das Afrika« gibt, gibt es auch nicht »das Kenia« oder »das Nigeria«. In vielerlei Hinsicht sind afrikanische Gesellschaften auch nach innen erheblich diverser als die überwiegend reichen Industrienationen Europas.
Wir müssen also noch genauer hinschauen.
Zoomstufe: Land. So unterschiedlich geht es in Nigeria zu
So sieht es zum Beispiel aus, wenn man Ausgaben von repräsentativ ausgewählten Haushalten für bestimmte Waren und Dienstleistungen in den einzelnen Bundesstaaten Nigerias vergleicht:
Diese »innere Diversität« findet man nicht nur in Bezug auf Wirtschaftskraft und Lebensbedingungen. Auch kulturell sind viele afrikanische Länder (aber längst nicht alle) überaus divers.
Das kommt nicht von ungefähr. Schließlich wurde Afrikas Landkarte während der Kolonialzeit diktiert. Die Grenzen dienten den Interessen der Kolonialherren und orientierten sich an Flüssen, Bergketten oder wirtschaftlichen und militärischen Erwägungen der Europäer –
Als nur ein Beispiel seien die Hutu und Tutsi genannt. Genetische und historische Analysen legen nahe, dass vor mehr als 600 Jahren eine Gruppe von traditionell als Viehhirten lebenden Menschen in das Gebiet des heutigen Ruandas,
Dort trafen sie auf die sesshaften Ackerbauern. Die Neuankömmlinge setzten sich politisch durch und stellten bald einen großen Teil der Herrschaftsklasse. Es entwickelte sich ein feudales System, jenen in Europa nicht unähnlich, mit einem König an der Spitze des Staates und einer wirtschaftlich dominierenden Aristokratie, die ihren sozialen Status durch große Rinderherden zum Ausdruck brachte. Genauso wie in Europa gab es auch in dieser Gesellschaft soziale Auf- und Absteiger. Hutu und Tutsi gehörten zu den Ackerbauern und der Herrschaftsklasse, sprachen aber alle dieselbe Sprache und pflegten weitgehend gleiche kulturelle
Die erst deutschen, später belgischen Kolonialverwalter zwängten diese Realität in ihr rassistisches Weltbild und erklärten die beiden Gruppen entgegen aller Fakten zu »Stämmen«, zwischen denen ein Wechsel nicht möglich war. Hutu und Tutsi wurden abwechselnd politisch bevorzugt und gegeneinander ausgespielt, was den Grundstein für die Genozide in Ruanda und
Um die kulturelle Vielfalt und das politische Selbstverständnis der Bürger afrikanischer Länder besser zu verstehen, sollten wir uns also nicht bei den rassistisch aufgeladenen Stammesvorstellungen toter Europäer aufhalten, sondern den Blick noch weiter schärfen.
Zoomstufe: Dorf. An diesen Zahlen zeigt sich, was Kultur in Afrika wirklich heißt
Ein Beleg für die außerordentliche kulturelle Vielfalt bietet zum Beispiel diese Darstellung der auf dem Kontinent gesprochenen Sprachgruppen:
Tatsächlich bestehen viele dieser Gruppen jeweils aus Dutzenden eigenständigen Sprachen und Dialekten. Allein in Äthiopien, einem Land, das so viele Einwohner hat wie die Bevölkerung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammengenommen, werden mehr als 100 Sprachen gesprochen, davon oft mehrere im selben Dorf.
Entsprechend darf man Sprache, aber auch »Ethnie« im afrikanischen Kontext nicht als starre Abgrenzung interpretieren. Mehrsprachigkeit und ethnische Identität sind nicht zwingend an Genetik oder Nationalität gebunden. Ethnien sind gleichermaßen kulturelle, soziale und politische Gemeinschaften, für die eine bestimmte Abstammung weder hinreichend noch notwendig
Trotz oder vielleicht gerade wegen der Flexibilität ethnischer Identität ist sie zu einem mächtigen Werkzeug in der Hand afrikanischer Politiker geworden. Besonders im Kontext bewaffneter Konflikte wird die ethnische Zugehörigkeit von Menschen immer wieder zur Ausgrenzung oder Absicherung eingesetzt. Hutu gegen Tutsi, Kikuyu gegen Luo, Bambara gegen Fulani: Angehörige dieser Gruppen leben auf engstem Raum zusammen und blicken oft auf Hunderte Jahre Koexistenz und Vermischung zurück. Erst durch ihr Potenzial für die Mobilisierung von Wählerstimmen oder bewaffneten Milizen ist eine Unterscheidung lukrativ.
Regelmäßig wird Afrika wegen dieser Konflikte auch als »hoffnungsloser Kontinent« bezeichnet.
Wer genauer hinschaut und die Zahlen heraussucht, erkennt aber schnell, dass sich die Opfer politischer Gewalt geografisch auf wenige Regionen in wenigen Ländern konzentrieren.
Krieg und Gewalt sind auf dem Kontinent im Durchschnitt sicher ein größeres Problem als anderswo. Aber hilfreich wird diese Erkenntnis erst, wenn man sich klarmacht, welche Länder, Gemeinden oder auch einzelne Dörfer tatsächlich mit bestimmten Formen von Gewalt konfrontiert werden.
Wenn das Wort »Afrika« fällt: Genauer hinschauen!
Diese Aspekte – Bevölkerungswachstum, Wirtschaftskraft, Sprachvielfalt und Konfliktlast – legen nahe, dass die größte Konstante Afrikas die Diversität des Kontinents ist.
Wer über die Probleme afrikanischer Gesellschaften spricht, der sollte sich stets fragen, was der richtige Maßstab für eine mögliche Lösung ist: Kontinent, Land, vielleicht ein einzelnes Dorf oder doch vielleicht einfach alleinerziehende Frauen unter 25 Jahren?
Mit dieser Art des gesellschaftlichen Fokus verhält es sich wie mit einer Lupe: Wählt man den richtigen Abstand, dann erscheint alles klarer, deutlicher, mit mehr Detail. Beim falschen Abstand verschwimmt das Bild – und im schlimmsten Fall verbrennt man das, was man eigentlich nur besser erkennen möchte.
Trotzdem kann es richtig und wichtig sein, von »Afrika« zu sprechen. Viele Bewohner des Kontinents verbinden gemeinsame Erfahrungen,
Wer die Worte »Afrika« oder »Afrikaner« benutzt, der muss sich entsprechend bewusst sein, dass es sich dabei um ein politisches Werkzeug handelt. Es kann eingesetzt werden, um eine gemeinsame positive Identität zu schaffen. Oder es wird genutzt, um rassistische Anfeindungen und Verallgemeinerungen zu rechtfertigen.
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