Es ist schon erstaunlich, wie viel wir in den letzten Wochen gelernt haben. Dazu gehört allerlei Banales, wie das Ansetzen von Sauerteig, Praktisches, wie und potenziell Bahnbrechendes, wie die Erkenntnis, dass der Markt eben nicht alles regelt.
Zu all den Veränderungen gesellen sich ein komplett neues Vokabular und Repertoire an Fachbegriffen: Aktuell wird über die »Reproduktionszahl« diskutiert, wir fragen uns, wie lange »Social Distancing« noch nötig ist, ob die »Maskenpflicht« nützt, oder wie
über unseren Umgang mit der aktuellen Herausforderung? Über Konfliktlinien, die schon vorhanden sind oder gerade aufbrechen? Wie sickern neue Begriffe überhaupt in den Sprachgebrauch ein – und welche politischen Strategien stecken dahinter?
Mich interessiert, was Ruth Wodak dazu zu sagen hat. Sprache und Politik sind das Fachgebiet der emeritierten Professorin für Diskursforschung. Wodak ist das, was man »Public Intellectual« nennt, eine Wissenschaftlerin, Sie hat zu Identitäts- und Vergangenheitspolitik zu Migration und Vorurteilen. Einem breiteren Publikum ist sie durch ihr 2016 erschienenes Buch »Politik mit der Angst« bekannt, in dem sie durchleuchtet,
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Ich rufe Ruth Wodak an, die den Skype-Call in Woche 7 der Ausgangssperre (auch so ein Wort!) in Österreich zwischen meterhohen Bücherregalen entgegennimmt.
»Risikogruppen«, »Social Distancing«, »Reproduktionszahl« – innerhalb kürzester Zeit haben wir uns ein neues Vokabular angeeignet. Welchen Eintrag aus dem Wörterbuch der Pandemie finden Sie besonders bemerkenswert?
Ruth Wodak:
Ein Begriff, den ich zuvor nicht kannte, war die Ein Begriff, der recht seltsame Konnotationen zulässt. Werden wir nun plötzlich alle wie Tiere wahrgenommen? Inwieweit stimmt der Vergleich zwischen Mensch und Tier, Masse und Herde? Die »Herdenimmunität« ist sehr schnell und unerklärt in die »Corona-Umgangssprache« eingedrungen und vermittelt ein relativ negatives Bild, obwohl sie etwas Positives bedeutet.
Wir alle übernehmen gerade Fachbegriffe der Virologen, Immunologen und Epidemiologen, die Wissenschaft hat insgesamt an Relevanz gewonnen. Es scheint, dass die Wissenschaftsfeindlichkeit der letzten Jahre in den Hintergrund getreten ist. Die Politik nimmt die Wissenschaft endlich wieder ernst.
Was ist Ihnen in der politischen Kommunikation besonders aufgefallen?
Ruth Wodak:
Eine starke Kriegsmetaphorik: Wie es in den USA den War on Terror und den War on Drugs gab, so erleben wir jetzt den War on Virus. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat gesagt: »Wir befinden uns im Krieg«. Unglaublich martialisch, als ob ein Virus ein Heer mit Gewehren wäre, das in unser Land einfällt und uns bedroht. Die Angstmetaphorik ist ebenfalls sehr stark präsent.
sind derart zumindest in Österreich ebenfalls stark betont worden – die Nation als Körper, der von etwas befallen wird, den man schützen muss. Das ist die österreichische Variante, die insgesamt einen hierarchischen Top-down-Kommunikationsstil aufweist. In meiner Wahrnehmung im Gegensatz zu Deutschland. Frau Merkel hat sachlich und reflektierend darüber gesprochen, wie schwer ihr demokratische Einschränkungen gefallen sind, während diese Bedenken in Österreich von Regierungsseite nicht vorhanden waren.
In Deutschland empfinde ich die politische Kommunikation während der Pandemie als sehr technokratisch. Steckt dahinter eine bewusste Strategie?
Ruth Wodak:
Jeder Politiker, jede Politikerin handelt strategisch. Politik ist geplant, Äußerungen sind wohlvorbereitet, es gibt jede Menge Spindoktoren und -doktorinnen, die sich überlegen, wann eine Pressekonferenz angesetzt, und wie das, was man jetzt für notwendig hält, vermittelt wird: Nimmt man einen Experten oder eine Expertin zur Hilfe, auf welche Autoritäten beruft man sich, wie legitimiert man die Maßnahmen – das sind immer bewusste strategische Entscheidungen. Die müssen wohldurchdacht werden, auch wenn die Politik unter hohem Druck steht.
Welche Strategie fährt Angela Merkel?
Frau Merkel ist durchaus nicht nur bürokratisch, sie spricht auch Emotionen an, aber ohne Pathos. Sie nimmt schon länger die Rolle der »Mutter der Nation« ein, aber wenn man bei diesem Bild der »Nation als Familie« bleibt, werden wir alle als »die Kinder« im Dialog als reif genug angesehen, die Situation zu verstehen. Sie spricht mit einer gewissen Wärme und Emotion und nicht nur im abgehackten und komplizierten Bürokratenjargon.
so ist dies eine sehr persönliche Äußerung, mit der sie zugibt, dass sie emotional berührt und betroffen ist. Mich hat das auch berührt.
Gute Zeiten für »starke Führer«?
Auf der anderen Seite stehen die »starken Männer« wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder oder der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, die sich in der Krise als Führungsperson oder, um in Ihrem Bild zu bleiben, als Vaterfigur inszenieren. Was sagt der Sprachgebrauch dieser Männer über ihr Verständnis von Politik und Gesellschaft aus?
Ruth Wodak:
Soweit ich das in den Nachrichten verfolgt habe, kommuniziert Söder relativ sachlich und sagt: Wir müssen das jetzt machen, es gibt eine äußere Notwendigkeit. Sebastian Kurz hat wesentlich stärker mit Emotionen gespielt und immer wieder betont, dass Österreich besser mit der Krise umgeht als alle anderen. Und er verkörpert Österreich. Er setzt sich mit der Nation gleich und zieht immer wieder Vergleiche: Schauen Sie mal, was da in Italien und Spanien los ist! Allerdings hat er nicht Griechenland, Norwegen oder Neuseeland als Vergleichsobjekte herangezogen, die ebenfalls erfolgreich das Virus bekämpfen.
Er hat starke Bedrohungsszenarien aufgebaut: Jeder werde in seiner Familie eine Person an das Virus verlieren. Da wurde große Angst geschürt.
Die Metaphorik in Österreich war auch eine stark christlich beeinflusste. Auffallend war etwa, dass Sebastian Kurz von einer »Auferstehung« Österreichs nach Ostern gesprochen hat. Das hat mich sehr verwundert, denn Österreich ist ja genauso divers wie andere europäische Länder, wo Menschen leben, die anderen Religionen angehören oder auch Atheisten sind, und es leben auch nicht nur Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft hier. Es wurde ein Bild des messianischen Retters Kurz inszeniert, der immer das Richtige weiß und macht. Der Bezug auf ein Wir, auf ein Miteinander oder auf die Expert:innen
In Österreich wurde zur Krisenbewältigung das »Team Österreich« beschworen. Hatte das auch ein ausschließendes Moment, indem deutlich wurde, wer dazugehört und wer nicht?
Ruth Wodak:
Kurz richtete sich zunächst an die »Österreicherinnen und Österreicher«, also an die Menschen, die eine Staatsbürgerschaft haben. Dabei wissen wir ja, dass sehr viele Menschen bei uns wohnen, arbeiten, Steuern zahlen – gerade in den sogenannten systemrelevanten Berufen –, die keine österreichischen Staatsbürger sind. Das »Wir« war der »Volkskörper«, der geschützt werden und in den ja niemand von außen eindringen soll.
Daher trat der Widerspruch zutage, einerseits die Grenzen zu schließen und keine Asylwerber:innen mehr ins Land zu lassen, also auch die Asylverfahren auszusetzen, gleichzeitig aber Züge und Flugzeuge in Bewegung zu setzen,
Ein Großteil der Österreicher:innen ist mit Sebastian Kurz zufrieden. In Umfragen während der Pandemie erreichte er Rekordwerte.
Ruth Wodak:
Dass die Umfragewerte dieser Führerpersönlichkeiten so hoch sind, finde ich nicht erstaunlich. Eine Regierung müsste schon sehr große Fehler machen, damit sich ihre Bevölkerung in einer solchen Krise nicht um sie schart. Wenn ein Regierungschef jeden Tag in Pressekonferenzen, Talkshows und anderen Formaten omnipräsent ist, dann ist es klar, dass er das Bild der Krisenbewältigung verkörpert.
In Österreich wurden die Expert:innen nicht so prominent wie in Deutschland, Schweden oder anderen Ländern. Der Gesundheitsminister der Grünen ist ausreichend auf inhaltliche Fragen eingegangen, seine Popularität ist stark gestiegen. Daher wurde er nicht mehr allein zu den Pressekonferenzen vorgelassen, sondern war nurmehr flankiert vom Innenminister und von Kanzler Kurz zu sehen, sie traten als Trio auf.
Auf der Bühne stand dann rechts der Bundeskanzler, der das erste und das letzte Wort hatte und seine Omnikompetenz wiederholt betont hat.
In den USA und anderen Ländern wird von den Regierungen darüber gesprochen, wer Schuld an der Pandemie trägt. Trump spricht vom »Chinese Virus«, in der Türkei bekräftigte Präsident Erdoğan die Aussage eines religiösen Funktionärs, Was bringt diesen Regierungen das »Blame Game« und warum verzichten andere drauf?
Ruth Wodak:
Das gehört zur diskursiven Konstruktion von Führungskompetenz, Angst und Hoffnung zu verbreiten. Der jeweils arbiträr definierte Sündenbock gehört zu diesem Muster. Es gibt Evidenz dafür, dass die meisten Infizierten in Österreich und viele europaweit aus Ischgl gekommen sind. In Ischgl wurden viel zu spät Maßnahmen ergriffen. Es sind Fehler passiert. Daher kann die österreichische Regierung nicht im Blame Game mitspielen.
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat natürlich, wie zu erwarten war, sofort George Soros die Schuld gegeben, bei ihm ist immer die sogenannte jüdische Weltverschwörung schuld. Und natürlich sogenannte Illegale, Migranten.
Dort, wo Rechtspopulisten nicht an der Macht sind, tun sie sich gerade ziemlich schwer. In Italien ist es um den ehemaligen Innenminister Matteo Salvini sehr still geworden, in Deutschland verliert die AfD an Zustimmung. Dabei spielen in dieser Krise viele Faktoren eine Rolle, die Rechtspopulisten sonst Auftrieb verschaffen: die Angst vor materiellem Verlust, ein Unbehagen an der Globalisierung, das Besinnen aufs Nationale. Eigentlich ist das für diese Parteien doch ein Traumszenario!
Ruth Wodak:
Ja, aber nur dann, wenn sie an der Macht sind. Das sieht man bei Erdoğan, Trump und Johnson. Auch die ÖVP in Österreich könnte man zumindest teilweise als rechtspopulistisch bezeichnen. Wenn sich die Rechtspopulisten aber noch in der Opposition befinden – wie die AfD in Deutschland oder Vox in Spanien –, haben sie derzeit nichts zu sagen.
Sie scheinen sich gar nicht sonderlich zu bemühen.
Ruth Wodak:
Weil sie gerade nicht den »Fremden« die Schuld geben können! Die Law-and-Order-Politik, die Grenzschließungen, die sich Parteien wie die AfD wünschen, das wird ohnehin gerade durchgeführt. Aber nicht wegen fremder Menschen, sondern wegen einer Krankheit. Rechtspopulisten haben in einer solchen Situation keine Erklärungsmuster anzubieten, wenn sie in der Opposition sind. oder es gibt eine Mischung, wie in Österreich, wo zwar eine Law-and-Order-Rhetorik herrscht, aber auch Expertenmeinungen gehört werden. Man kann eben keine Mauern gegen Viren errichten. Man braucht die Wissenschaft.
»Es ist schwierig, einen autoritativen Diskurs zu finden, der für alle funktioniert«
Ich verspüre ein Unbehagen bei manchen der neuen Begrifflichkeiten. Dazu gehört die »Kontaktsperre«, aber auch die »Maskenpflicht«. Mit meinem Unbehagen bin ich nicht allein. Meinen Sie, dass daraus eine neue Art der gesellschaftlichen Polarisierung entstehen könnte?
Ruth Wodak:
Da kommen wir wieder zur Vater-Mutter-Metaphorik. Wenn ich mir den Diskurs in Schweden oder Neuseeland anschaue, in denen Maßnahmen nicht so drastisch mit Pathos durchgesetzt wurden – da gab es von der Wissenschaft begründete Empfehlungen. Die Regierung begreift Bürger:innen als Dialogpartner. Wenn sie sagt: Ich empfehle dir aus den folgenden Gründen eine Maske zu tragen, dann habe ich nichts dagegen.
Sagt die Regierung aber: Du musst, ansonsten bist du nicht brav und wirst bestraft – ohne klare evidenzbasierte Erklärungen –, dann werden wir als völlig unselbstständige und unverantwortliche Kinder angesprochen, denen man Grenzen setzen muss. Da entsteht natürlich ein Unbehagen bei vielen. Andere freuen sich aber auch über diese Art der Kommunikation, dann müssen sie selbst nicht nachdenken.
Wie sieht eine Kommunikationsstrategie aus, die für beide Gruppen funktioniert?
Ruth Wodak:
Ich denke, das ist ein Dilemma. In Schweden sieht man ja auch, dass die Empfehlungen nicht genug befolgt wurden und die Regierung dann »strenger« sein muss. »Streng«, das ist schon wieder ein Begriff, der mit Eltern verbunden wird. Es ist sehr schwierig, einen sinnvollen
Wahrscheinlich müssen Regierungen eine Bandbreite an Strategien für Menschen mit unterschiedlichen Erwartungen und Einstellungen nutzen. Ich glaube nicht, dass es ein Rezept für alle gibt. Aber wenn nur mit Angst kommuniziert wird, wie jetzt in Österreich, führt es vorhersehbar Das sehen wir schon.
Das kann dann dazu führen, dass die Maßnahmen zu schnell gelockert werden, weil der Druck sehr groß ist.
»Plötzlich geschehen Dinge, die die neoliberale Finanzwelt durchschütteln«
Anfang April haben Sie in einem Kommentar für den österreichischen »Standard« darüber nachgedacht, Glauben Sie, das wird tatsächlich einen nachhaltigen Einfluss haben?
Ruth Wodak:
Die Macht des Marktes wurde gebrochen. Ich finde das einen sehr interessanten Aspekt dieser Krise. In Österreich haben die Gewerkschaften wieder eine Stimme bekommen. In den Berufen, die jetzt als systemrelevant gelten, werden die geringsten Gehälter gezahlt. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass mehr Privat, weniger Staat nicht immer funktioniert. Der Staat muss jetzt funktionieren, viel Geld bereitstellen. Das neoliberale Modell bricht ein.
Wenn man einer Gruppe mal eine Stimme gibt, wird sie nicht so schnell wieder schweigen. In Österreich hat man Jetzt sind sie sehr wichtig geworden, ihre Vertreter sind in den Medien präsent, sie geben Interviews, tragen Beschlüsse mit, geben Empfehlungen ab.
Plötzlich geschehen Dinge, die die neoliberale Finanzwelt durchschütteln.
Und eine Sache ist mir noch wichtig: die Genderperspektive.
Was ist Ihnen in dieser Hinsicht aufgefallen?
Ruth Wodak:
Ich hoffe, dass die Frauen als Hauptträgerinnen der Krise nicht die Verliererinnen sein werden. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, trifft es ja immer Frauen zuerst.
Im öffentlichen Diskurs sind Frauen gerade wenig präsent. Zumindest in Deutschland waren die meisten der befragten Experten männlich. Wie haben Sie das in Österreich wahrgenommen?
Ruth Wodak:
Die Frauenministerin der aktuellen Regierung war eigentlich angetreten, um die muslimischen Frauen zu »befreien«, und musste sich dann gezwungenermaßen damit auseinandersetzen, dass die häusliche Gewalt in allen Familien angestiegen ist und es in dieser Situation Aufmerksamkeit und Geld braucht.
Auch die Situation von Alleinerziehenden, die sich im Homeoffice um ihre Kinder kümmern müssen, vielleicht in Kurzarbeit sind oder gar keinen Job mehr haben, wird deutlich. Es wird sehr viel gemacht werden müssen, damit die Frauen nicht zurückbleiben. Dabei sind sie diejenigen, die hauptsächlich in den systemrelevanten Berufen arbeiten, bei sehr niedrigen Gehältern. Die haben nichts davon, wenn ihnen applaudiert wird – sie brauchen einfach höhere Gehälter.
Mit Illustrationen von
Mirella Kahnert
für Perspective Daily
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.