So entgleisen Diskussionen: Diese 6 Ablenkungsstrategien solltest du kennen
Heute im Podcast gegen die Weltuntergangsstimmung: Warum wir in Diskussionen oft vom eigentlichen Thema abkommen, bewusst oder unbewusst.
»Klar, Rechtsextremismus ist ein Problem. Aber auch Linksextreme begehen viele Straftaten!« Mit einer solchen Aussage kann jede:r ein Gespräch einfach und effizient in eine ganz neue Richtung lenken.
Während das Gegenüber ursprünglich vielleicht über
»Derailing« wird diese Ablenkungsstrategie in der Argumentations- und Strategieforschung genannt, über die wir heute auch im vollgut-Podcast sprechen.
Hier liest du den Artikel zur aktuellen Folge. Du hast eine verpasst? In unserer Audiothek gibt es alle Episoden zum Nachhören. Den vollgut-Podcast findest du übrigens auch bei Spotify, iTunes, Google und vielen anderen Webplayern. Suche einfach nach dem »Zeigen, was geht!«-Kanal von Perspective Daily.
6 effiziente Taktiken, die ein Gespräch zum Entgleisen bringen
»Derailing« kommt vom englischen Begriff für »entgleisen« und meint genau das: Eine Diskussion kommt völlig vom Thema ab, läuft in eine andere Richtung und landet schließlich im Nichts. Das passiert oft nicht einfach so, sondern wird bewusst herbeigeführt. »Derailing« ist ein Grund dafür, warum Onlinediskussionen oft als anstrengend oder sinnlos empfunden werden – und genau das ist oft auch das Ziel derer, die es betreiben. Sie wollen Diskussionen vergiften und absägen, die ihrer persönlichen Meinung oder Ideologie entgegenlaufen.
Diejenigen, die »derailen« wollen, nutzen dafür eine Reihe wirkungsvoller Ablenkungstaktiken. Die US-amerikanische Schriftstellerin Suzannah Weiss hat einige von ihnen
- Aber was ist eigentlich mit …?
Unser Eingangsbeispiel war ein Gespräch über Rechtsextremismus, in dem jemand plötzlich den Fokus auf Linksextreme lenken wollte. Das ist ein Paradebeispiel für »Whataboutism«. Mit dieser Strategie lässt sich fast jede Kommunikation komplett zerlegen oder weiter anheizen – wenn darauf eingegangen wird. Das funktioniert nicht nur online, sondern auch im echten Leben und hat schon so manchen Beziehungsstreit entfacht.
A: »Du bringst nie den Müll raus.«
B: »Reden wir doch erst einmal darüber, wer ständig das Geschirr abwäscht!«
Kommt dir bekannt vor? Ein paar der folgenden Beispiele lassen sich auch unter Whataboutism einordnen. - Stell dir vor …
Ein Beispiel: In Diskussionen zu einer sehr konkreten Forderung – etwa nach der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen – wird mit dem Entwerfen einer Vielzahl hypothetischer Szenarien zu möglichen Familienkonstellationen geantwortet, die das eigentliche Problem (in diesem Fall: der staatliche Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung von Frauen) weitgehend ignorieren.
Wenn du in einem Gespräch auf einmal mit Szenarien konfrontiert wirst, die nichts mit deiner Forderung zu tun haben: Scheue dich nicht, das klar zu benennen. Es ist dann deine Entscheidung, ob und inwieweit du die Energie aufwenden willst, dich auf abstrakte Hypothesen einzulassen. - Es sind doch nicht alle so!
»Aber nicht alle Männer sind Gewalttäter und nicht alle Weißen Rassist:innen!« Das stimmt natürlich. Doch wie soll diese Aussage eine Diskussion über - So schlimm ist es doch gar nicht!
Eine Strategie des »Derailing« kennt Katharina gut – weil sie zugeben muss, sie selbst öfter anzuwenden. Nämlich dann, wenn sie in einem Gespräch anmerkt: »Aber vieles hat sich doch auch schon zum Besseren gewendet!« Diese Taktik kommt im wohlmeinenden Gewand des Aufmunterns daher. Menschen, die sie anwenden, weisen vielleicht auch darauf hin, dass es »woanders viel schlimmer« sei. Das mag beides der Fall sein – aber auch das bringt niemanden voran, der ein Problem hat. - Entspann dich doch mal!
Wer auf Ungerechtigkeiten oder Benachteiligungen bestimmter Menschengruppen hinweist, wird oft darauf aufmerksam gemacht, dass das Problem zwar durchaus nachvollziehbar sei, ein allzu aggressiver Tonfall der Sache aber eher schade. In den meisten Fällen ist zu dem Zeitpunkt nicht einmal ein Schimpfwort gefallen. »Tone-Policing« nennt sich das im Englischen. Der Haken an der Sache: In der Regel fordern Nichtbetroffene von Betroffenen, ihre Emotionen zu zügeln. Dem Tone-Policing wohnt also ein Machtgefälle inne. Die feministische Aktivistin und Journalistin Nicole Schöndorfer sagt dazu in ihrem Podcast: - Ich sehe das Problem nicht!
»In New York ist es klirrend kalt, wo zur Hölle ist diese Erderwärmung?« Aus diesem Trump-Tweet aus dem Jahr 2013 spricht das Privileg eines Mannes, der von den Folgen eines Problems
Was hilft: Fakten, Fakten, Fakten. Und vielleicht auch einmal nachfragen,
Mit Trump schaffen wir den Absprung von der persönlichen Diskussionsebene in Onlineforen zu gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, in denen ebenfalls »Derailment«-Taktiken auftauchen.
Mit Diskursen, die wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Erderwärmung verzögern, setzt sich beispielsweise
- Verantwortung abwälzen ...,
... etwa auf Konsument:innen oder andere Länder, die ihre Emissionen ja auch nicht reduzieren, bzw. auf den Wettbewerb, in dem die verlieren, die zuerst reduzieren. »Whataboutism« spielt auch hier eine Rolle, wenn zum Beispiel argumentiert wird, dass »unser« CO2-Fußabdruck im Vergleich zu Land X gar nicht so groß sei und es folglich keinen Sinn ergebe, ihn zu reduzieren, bevor Land X nicht tätig würde. - Es ist doch ohnehin schon zu spät!
Die Argumentation, dass es schlicht und ergreifend nicht mehr möglich sei, die Klimakatastrophe zu verhindern, ist vielleicht recht themenspezifisch. Aber ein ihr zugrunde liegender Gedanke begegnet uns auch in vielen anderen Debatten: »So sind die Dinge nun mal, das liegt in der menschlichen Natur«. Dabei gibt es sie ja, die Lösungsansätze. Sofern Menschen dazu bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen – und sie zu verstehen. - Veränderung hat Konsequenzen: und zwar negative!
Maßnahmen gegen die Erderwärmung werden möglicherweise dazu führen, dass Menschen in CO2-intensiven Industrien Arbeitsplätze verlieren. Der Diskurs, der solche negativen Konsequenzen für manche Gruppen in den Vordergrund stellt, fordert vor dem Handeln zunächst perfekt ausgestaltete Lösungsstrategien, die von allen Betroffenen vollumfänglich akzeptiert werden müssen. Ob es die jemals geben wird, ist mehr als fraglich. - Wir brauchen technische Lösungen!
Der Glaube daran, dass sämtliche Mühen in die Suche nach technischen Lösungen investiert werden, wirkt ebenso verzögernd, wenn es eigentlich darum geht, politisch-regulatorische Maßnahmen zu ergreifen.
Viele dieser Diskurse sind nicht bewusst gesteuert, nicht allen Beteiligten sollte unterstellt werden, die Debatte zum Entgleisen bringen zu wollen. Aber wie gelingt es, einen gesellschaftlichen Diskurs absichtsvoll zu verschieben? Die Populismusforscherin
»Die Grenzen des Sagbaren verschieben« – wie gelingt das?
Die Diskursstrategie der neuen Rechten, die Wodak in ihrem Buch »Politik mit der Angst« beschreibt, setzt auf Provokationen und eine schleichende Normalisierung rechtsextremer, ehemals tabuisierter Inhalte und Begriffe. »Wöchentliche, wenn nicht tägliche sogenannte Einzelfälle, intentionale Provokationen und Tabubrüche von Politiker:innen wie Verhetzung, antisemitische und antimuslimische Äußerungen, Anspielungen auf Nazi-Jargon […] führen trotz entsprechender Empörung zu einem Gewöhnungseffekt«,
Wie das bewusste Herbeiführen eines Gewöhnungseffekts die Grenzen des Sagbaren in einem Diskurs verschieben kann, beschreibt das Konzept des »Overton Window«.
Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass es einen bestimmten Bereich gibt, innerhalb dessen Aussagen von der breiten Öffentlichkeit akzeptiert werden. Dieses Fenster wollen Rechte und Rechtsextreme in ihrem Sinne verschieben,
Das Bewusstsein darüber, wie gezielt versucht wird, Diskurse zu verschieben, macht uns im besten Fall sensibler für manche Begriffe und lässt uns stocken, wenn wir Menschen mit Naturkatastrophen vergleichen. Denn das kann andere verletzen – auch dann, wenn es uns nicht bewusst ist.
Was macht eine gute Diskussion aus?
Eine gute Diskussion lebt davon, sich am Thema zu orientieren. Wer bei sich selbst »Derailing« beobachtet, profitiert davon, sich zu fragen, warum sie:er die Diskussion zum Entgleisen bringen will: Welcher innere Widerstand tut sich auf – und warum? Wer darüber reflektiert, lernt etwas über sich und eigene Bedürfnisse.
Argumentiere ich zum Beispiel gegen die Aufnahme von Geflüchteten, weil ich meine Sicherheit bedroht sehe? Ließe sich mit dieser Erkenntnis ein Weg aus der Anti-Haltung erarbeiten? Bedürfnisse zu benennen, das haben wir im letzten Podcast zur Gewaltfreien Kommunikation gelernt, ist nicht einfach. Manchmal verhilft eine Nachfrage vielleicht auch dem Gegenüber zu einem Erkenntnisgewinn.
Hier kannst du unseren Podcast zur Gewaltfreien Kommunikation hören und lesen:
Übrigens muss nicht alles »Derailing« sein, was spontan danach aussieht. Umwege können Diskussionen auch mal weiterbringen.
Aber nicht alle Gespräche lassen sich zurück auf die Schiene bringen, vor allem nicht in der Onlinekommunikation. Hier versuchen Trolle manchmal gezielt, andere zu erschöpfen. In so einem Fall kann es die bessere Entscheidung sein, das Feld zu räumen, um nicht weiter Energie aufbringen zu müssen – vielleicht mit einem letzten Post mit sachlichen Informationen, die es stillen Mitleser:innen ermöglichen, sich weiter zu einem Thema zu informieren.