Unsere Gesellschaft ist gespalten? Diese Erkenntnisse sprechen für das Gegenteil
Oft ist davon die Rede, dass der Hass zugenommen habe. Doch aktuellen Studien zufolge ist der soziale Zusammenhalt in Deutschland stabil. Wie kommt es, dass wir unser Miteinander dennoch als bedroht erleben?
Wenn es darauf ankommt, dann sind wir Menschen erstaunlich freundliche und kooperative Wesen. Meine Welt jedenfalls besteht aus vielen guten Menschen. Dort, wo ich zu Hause bin, in einer westfälischen Kleinstadt, begegnen sich die Leute nicht mit überschwänglicher Herzlichkeit. Doch sie geben aufeinander acht. Sie schenken sich ein Lächeln, einen freundlichen Gruß, eine kleine Geste wie eine aufgehaltene Tür oder ein Nicken, das den anderen den Vortritt gewähren soll.
Überall dort, wo ich mich an einem ganz normalen Tag bewege, begegnen mir die Menschen in aller Regel freundlich. Ich erlebe keinen Hass. Ich sehe nicht, dass der Umgangston rauer und respektloser geworden ist. Ich sehe keine gespaltene Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, in der Menschen wohlwollend miteinander umgehen.
Vielleicht liegt es an meiner Wahrnehmung, vielleicht bin ich naiv – aber dann bin ich zumindest nicht der Einzige. In einer aktuellen, repräsentativen
Ich weiß, dass
Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist in unseren Genen angelegt.
»Sie kooperieren, um etwas zu schaffen, das sie allein nicht schaffen können«, schreibt der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch »Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält«. »Indem wir uns mit anderen Menschen zusammentun,
Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt ist eine Krise wie die Coronapandemie nicht zu lösen
Auch der niederländische Journalist und Historiker Rutger Bregman beschäftigt sich in einem
Über lange Zeit hat sich unsere Art stets auf mehr freundschaftliches Umgehen miteinander, auf Zusammenarbeit hin entwickelt. Das ist gar nicht die Frage. Die Frage ist jedoch, warum glauben wir dies nicht? Warum sind so viele von uns überzeugt, dass – obwohl Kollegen, Freunde und das Umfeld sehr umgänglich und zur Zusammenarbeit bereit sind – eben doch die anderen, die Fremden, die wir im Fernsehen sehen oder von denen wir in den Romanen lesen, garstige Menschen sind, die dem nicht entsprechen? Warum glauben wir so etwas?
Anfang März, in den Tagen, als sein Buch auf dem deutschen Markt erschien, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Bregmans Glaube an das Gute im Menschen vor einer Bewährungsprobe steht. Die WHO bezeichnete den Ausbruch des neuartigen Coronavirus als Pandemie. Die Zahl der bestätigten Neuinfektionen stieg weltweit immer schneller.
262 Fälle waren es in Deutschland am
Das Vertrauen der Menschen zueinander ist in der Coronakrise gewachsen.
Eine Pandemie fordert die menschliche Solidarität und Fähigkeit zur Kooperation heraus. Es ist eine Krise, die alle Menschen vor soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Herausforderungen stellt. Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt ist eine solche Krise nicht zu lösen. Viele Menschen haben das schnell und intuitiv verstanden. Als das Coronavirus nach Deutschland kam und sich immer rasanter ausbreitete, begannen sie gemeinsam, nach Lösungen zu suchen.
Bei Perspective Daily haben wir über
Hat die Krise also den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt? Oder ist Zusammenhalt etwas, was in einer Gesellschaft einfach vorhanden und sofort verfügbar ist, wenn es darauf ankommt?
Es gibt keinen Riss, der durch die Gesellschaft geht
Viele Forschungen sind dieser Frage inzwischen nachgegangen. Die Universität Bielefeld hat frühzeitig die Arbeit an der umfangreichen
Auch die genannte Studie der Bertelsmann Stiftung kommt zu dem Ergebnis: »Das gemeinschaftliche Miteinander, ausgedrückt beispielsweise durch belastbare soziale Beziehungen und die Bereitschaft zu Engagement und Hilfsleistungen, ist und war in Deutschland stark ausgeprägt.« Demzufolge überraschen die Solidarität und Rücksichtnahme während der Coronapandemie wenig. Die wahrgenommene Gefährdung des Zusammenhalts habe mit dem zeitlichen Fortschreiten der Pandemie sogar abgenommen, heißt es in der im August 2020 veröffentlichten Studie.
Das sind gute Nachrichten. Sie zeigen, gestützt auf empirische Sozialforschung, dass die aufgeheizte Stimmung auf Demonstrationen, in sozialen Medien und Fernsehrunden nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft widerspiegelt. Das soll nicht heißen, dass
Das zu betonen ist deshalb so wichtig, weil Medien und Politik gern das Bild einer gespaltenen Gesellschaft zeichnen, die immer weiter auseinanderdriftet. Doch diese Bilder trügen – zumindest mit Blick auf die deutsche Gesellschaft.
Extreme Ungleichheit gefährdet Zusammenhalt
»Es gibt keinen Riss, der durch die Gesellschaft geht«, sagt Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung. Er hat die aktuelle Studie »Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2020« mitverfasst. Seit 1990 – bis zu dieser Zeit reichen die von der Bertelsmann Stiftung verwendeten Fragebögen zurück – befinde sich der Zusammenhalt auf einem stabilen Niveau, sagt er.
Doch wie lässt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt überhaupt messen? Unzicker betont, dass »Zusammenhalt« kein klassischer soziologischer Begriff sei, wofür es festgelegte Messinstrumente
- Soziale Beziehungen: Menschen haben stabile soziale Beziehungen über die Familie hinaus. Sie haben großes Vertrauen in ihre Mitmenschen. Sie akzeptieren Personen mit anderen Wertvorstellungen und Lebensweisen.
- Verbundenheit: Menschen identifizieren sich mit der Gesellschaft. Sie vertrauen gesellschaftlichen und politischen Institutionen. Sie fühlen sich gerecht behandelt und sind der Ansicht, dass die Güter in der Gesellschaft gerecht verteilt sind.
- Gemeinwohlorientierung: Dies ist die individuelle Verhaltensebene, die in die Messung des Zusammenhalts einfließt. Wenn Menschen hilfsbereit sind und sich für ihre Mitmenschen verantwortlich fühlen, sich an grundlegende soziale Regeln halten und sich aktiv am öffentlichen Leben beteiligen, spricht das für einen hohen Zusammenhalt.
In den repräsentativen Befragungen mit rund 3.000 Personen haben die Forscher:innen der Bertelsmann Stiftung genau diese Werte mithilfe eines Fragebogens ermittelt. Anschließend bildeten sie aus den Ergebnissen einen Index, der auf einer Skala (1–100)
Das Zusammenhaltsgefühl bestimmen laut Bertelsmann Stiftung vor allem die persönliche Lebenssituation, die soziale und ökonomische Lage, die räumliche Lage, also die Region und die Wohngegend, und der politische Halt, also die Bindung an Parteien und das demokratische System. Nicht Konflikte und fehlender Konsens in wichtigen politischen Fragen schwächen demnach den Zusammenhalt, sondern Faktoren wie Wohlstand, die Arbeitssituation und soziale Teilhabe. »Wenn man unmittelbar etwas für den Zusammenhalt tun will, dann muss man dafür sorgen, dass die extreme Ungleichheit beseitigt wird«, sagt Kai Unzicker. Er betont, dass Armut eine Belastung für die gesamte Gesellschaft und deren Zusammenhalt sei, nicht nur für die Betroffenen.
Wer sich hauptsächlich um das eigene Auskommen Sorgen machen muss, dem fehlt die Zeit und möglicherweise auch das Interesse, sich für das Gemeinwesen einzusetzen. Wenn nennenswerte Teile der Gesellschaft das Gefühl haben, ihre Interessen würden nicht berücksichtigt und es gehe nicht gerecht zu, dann belastet das auch das politische Vertrauen. Chancengerechtigkeit herzustellen und Lebensperspektiven anzubieten, ist deshalb entscheidend.
Doch auch wenn das Zusammenhaltsgefühl nicht in allen Gruppen der Gesellschaft gleich stark ausgeprägt sei, sei es falsch, von einem Auseinanderdriften der Gesellschaft zu sprechen, sagt Kai Unzicker.
Rechtspopulistische Einstellungen sind normaler geworden
Doch wie passen diese Befunde in eine Zeit, in der rechtspopulistische, rechtsextreme und antisemitische Positionen an Einfluss gewinnen? Handelt es sich dabei noch um die notwendige Reibung, die eine plurale Gesellschaft aushalten muss? Sind Rechtsextremismus und Antisemitismus überhaupt Meinungen? Schließlich haben diese Einstellungen längst unübersehbare, reale Folgen: rassistisch und antisemitisch motivierte Schmähungen, Drohungen und
Welche Verantwortung rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppen, Parteien und Medien dafür tragen, lässt sich aktuell nur schwer juristisch und wissenschaftlich nachvollziehen. Doch es ist offensichtlich, dass zum Beispiel die AfD eine vielfältige Gesellschaft ablehnt, weil dies den Zusammenhalt angeblich zerstöre. Nur »gemeinsame Herkunft, Sprache, Geschichte, Mentalität, Bräuche oder auch Religion führen zu einem Wir-Gefühl«, meint der AfD-Politiker
»Rechtspopulistische Einstellungen haben sich stabil verfestigt und das heißt, sie sind in der Mitte normaler geworden.« – aus der »Mitte«-Studie 2018/19
»Die Frage ist, welches Konzept von Zusammenhalt die Menschen haben«, sagt Beate Küpper, Sozialpsychologin und Professorin an der Hochschule Niederrhein. Sie ist Mitautorin der regelmäßig erscheinenden
Jede fünfte befragte Person (21%) neigt der Studie zufolge »ganz deutlich« zu rechtspopulistischen Einstellungen, bei 42% lasse sich eine Tendenz dazu feststellen. Über die Bevölkerung hinweg habe die Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen seit 2014 allerdings nicht zugenommen. Das bedeutet laut den Studienautor:innen aber zugleich: »Rechtspopulistische Einstellungen sind stabil verfestigt, auch in der gesellschaftlichen Mitte verbreitet und tragen so zu einer Normalisierung von Rechtspopulismus
2 unversöhnliche Positionen
Auch nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft fragt die Studie. Eine überwältigende Mehrheit (86%) ist demnach der Ansicht,
Hier scheinen sich 2 verschiedene Positionen unversöhnlich gegenüberzustehen: Die eine Gruppe sieht den Zusammenhalt der Bevölkerung durch eine vermeintliche »Überfremdung« bedroht. Sie möchte als ungleich und ungleichwertig betrachtete Gesellschaftsmitglieder ausgrenzen, um
Die zweite Gruppe sieht den Zusammenhalt einer Gesellschaft gerade dann bedroht,
Das stimmt so auch nicht ganz, da der Zusammenhalt, der sich aus der Abwertung anderer ergibt, ein sehr brüchiger ist, wie Beate Küpper erklärt:
Wenn es eine hetzerische und potenziell bedrohliche Stimmung in einer Gruppe gibt, in der Menschen zum ›Anderen‹ deklariert und exkludiert werden, kommt es auch zu Verunsicherungen in der Wir-Gruppe. Der Fingerzeig auf einen jeweils Anderen führt zu Ängsten in der eigenen Gruppe. Man könnte ja der Nächste sein, auf den der Finger zeigt.
Das führe psychologisch dazu, sich lieber an der Wir-Gruppe zu beteiligen und mit zu hetzen. »Aber gleichzeitig führt es dazu, dass man sich gegenseitig in ständiger Unsicherheit hält.« Das schade dem Zusammenhalt.
Das Wir-Gefühl, das der AfD-Politiker Curio beschwört, ist vordergründig nicht viel mehr als eine nostalgische, nationalistische Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit. Psychologisch gesehen sind die von ihm aufgerufenen Werte wie Mentalität und Bräuche aber Mittel zur Unterdrückung anderer, vielfältiger Denkweisen und damit Mittel zur Herstellung eines Klimas der
»Die Abwertung anderer Gruppen sorgt in einer pluralen Gesellschaft für Probleme.« – Gert Pickel, Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
»Die Abwertung anderer Gruppen sorgt in einer pluralen Gesellschaft für Probleme«, sagt Gert Pickel, Religionssoziologe an der Universität Leipzig sowie am neu gegründeten Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. »Wir gehen in einer Demokratie davon aus, dass sie Menschen individuelle Freiheiten garantiert. Die Akzeptanz demokratischer Spielregeln macht uns zu einer Gemeinschaft.« Die Ablehnung von Pluralität und die Ablehnung dieser Spielregeln gefährden daher den Zusammenhalt, sagt Pickel.
Andreas Zick, Konfliktforscher in Bielefeld und Mitautor der »Mitte«-Studien, sieht die größte Gefahr für die Mitte der Gesellschaft ebenfalls »in dem Ausmaß, in dem sie ihre demokratische Orientierung zur Disposition stellt.« Je stärker sich Mitglieder der Mitte in den Extremismus bewegen, desto stärker verschieben sich Normen, schreibt Zick. Minderwertigkeit von Gruppen schreibe sich auf diesem Wege in die Struktur der Mitte ein, der Zusammenhalt schwinde.
Konkret benennt die »Mitte«-Studie 2018/19 »7 mögliche Aushöhlungen des Zusammenhalts der Gesellschaft«:
- Befürwortung der Ungleichwertigkeit von Gruppen
- rechtspopulistische Einstellungen
- rechtsextreme Einstellungen
- neue rechte Mentalitäten
- Glaube an
- Misstrauen und Ablehnung von Demokratie
- Ost-West-Differenzen in demokratischen
»Der Zusammenhalt der Mitte verliert sich, wenn in der Mitte einige Gruppen als höher- und andere als minderwertiger bewertet werden«, hält Andreas Zick fest. Vorurteile, antidemokratische Einstellungen und die Bereitschaft, andere zu diskriminieren, seien daher besonders sensible Messinstrumente des Zusammenhalts einer Gesellschaft, schreibt er in einem gemeinsamen
Wie Empathie den Zusammenhalt stärkt
Zusammenhalt, das zeigen die bisherigen Erkenntnisse, ist ein komplexes soziales Phänomen. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen, die auch davon abhängen, wer innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe danach gefragt wird. Wer beispielsweise wirtschaftlich gut da steht und dadurch viele Möglichkeiten sozialer Teilhabe hat, bewertet den Zusammenhalt positiver als andere Gruppen, die benachteiligt sind oder Benachteiligung fürchten.
Es ist nicht immer leicht, etwas an der eigenen sozioökonomischen Situation zu ändern, zum Beispiel eine gut bezahlte Arbeit zu finden oder in sozialen Bereichen teilzuhaben, die traditionell Menschen mit bestimmter Herkunft, sexueller Orientierung, bestimmtem Geschlecht oder anderen Merkmalen vorbehalten waren. Solche Strukturen zu verändern, die Zusammenhalt erschweren, ist eine politische Aufgabe.
Eine Gesellschaft, die zusammenhalten soll, muss eine Gesellschaft sein, an der viele Menschen teilhaben.
Doch das bedeutet nicht, dass nicht jede:r Einzelne durch das eigene Handeln zum sozialen Zusammenhalt beitragen kann. Sich für andere Menschen verantwortlich zu fühlen, hilfsbereit zu sein, sich sozial zu engagieren und konstruktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen, ist laut der Bertelsmann Stiftung eine zentrale Dimension sozialen Zusammenhalts.
Doch es ist schon eine einfache Fähigkeit, die helfen kann, den Zusammenhalt zu stärken. »Wir wissen aus der Forschung, dass Empathie ein ganz wichtiger Faktor ist, der vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit schützt. Wer empathischer ist, neigt weniger dazu, ganze Gruppen abzuwerten. Empathie ist auch wichtig für die alltägliche Hilfsbereitschaft«, sagt Beate Küpper. Darunter versteht sie, zu lernen, die Welt kognitiv aus dem Blickwinkel anderer Menschen zu sehen, aber auch emotional nachzufühlen.
»Es gibt aber auch eine Kultur der Empathie, in der es dazugehört, andere mitzudenken, von sich selbst zu abstrahieren und zu fragen: Wie geht es eigentlich denen, die wir gern übersehen?« Das sei nicht nur eine individuelle, trainierte Empathie, sondern eine strukturelle, institutionalisierte, sagt Küpper. »Es kann eine Strategie kleinerer Teams, aber auch großer gesellschaftlicher Gruppen sein, sich zu fragen: Habe ich wirklich alle nach ihren Interessen, Wünschen und Bedarfen gefragt, allen die Möglichkeit gegeben und sie dabei unterstützt, überhaupt Gehör zu finden?
Dies sei etwas, was zurzeit intensiv unter dem Begriff »Partizipation« diskutiert werde, sagt Beate Küpper. Eine Gesellschaft, die zusammenhalten soll, muss also eine Gesellschaft sein, an der möglichst viele Menschen teilhaben können. Dabei gilt es besonders diejenigen mitzudenken und zu fördern, die häufig übersehen werden oder denen Teilhabe und Teilnahme nicht so leichtfällt. An eine solche Selbstverständlichkeit erinnern zu müssen, zeigt, wo die Stärkung des Zusammenhalts vielleicht zuallererst ansetzen muss: Zusammenhalt beginnt im Denken.
Mit Illustrationen von Tobias Kaiser für Perspective Daily