So fühlt sich ein Leben im Schaufenster an
Meine 24 Stunden mit Kölner Wohnungslosen habe ich mir vorher anders vorgestellt.
Das war also der Dieb, der Peter im Schlaf den Rucksack geklaut hatte: Ein schmächtiger, blasser Typ, vielleicht Ende 20. Er hatte sich einfach zu den anderen gelegt. Einmal ging alles gut, beim 2. Mal klaute er Peters Rucksack und haute ab. Das ist erst 3 Nächte her. Und er ist so dreist, wundere ich mich, heute noch einmal hier aufzutauchen? Er führt sogar noch ein kurzes, belangloses Gespräch mit Peter, bevor er sich unter einem Vorwand davonmacht.
Dabei behält Peter seine großväterliche Milde. »Man muss normal miteinander umgehen können«, sagt der 66-Jährige in seiner sanften Bassstimme. Dann wendet er sich ab und breitet eine dicke Luftmatratze in einer Ecke des Vorraums aus. Peter schläft immer an derselben Stelle, im überdachten Eingangsbereich eines Schuhladens auf der Kölner Schildergasse, in Gesellschaft von Dieter, Erwin und dessen Hund. Eine eingeschworene WG von Männern in ihren Sechzigern, Skat-Turniere inklusive, nur halt ohne Wohnung. Aber immerhin ist ihre »Platte«, also ihr Schlafplatz, trocken und windgeschützt. Mit dabei ist noch ein Bulgare, aber der ist weniger gesellig als die anderen.
Ich bin für einen Abend dabei: Einen Tag und eine Nacht bin ich unterwegs – erst mit Frank, dann mit Peter – um die Lage der Menschen zu verstehen, die zwar mitten in unseren Städten leben, aber trotzdem nicht gerade in der Mitte der Gesellschaft stehen.
Wie viele Menschen in Deutschland haben kein Zuhause?
Allein in Köln leben laut Statistik rund
Was kann die Politik tun? Ein Instrument, zumindest um den Trend umzukehren,
Was bedeutet es, draußen zu leben?
Am Morgen nimmt mich Frank mit auf seine Route. Eigentlich sammelt er vormittags Flaschen, an einem regnerischen Dezembertag wie diesem ist die Ausbeute ziemlich mager. »Du hast dir genau den richtigen Tag ausgesucht«, grinst er. Auch in den aufgeweichten Pappbechern der Bettler auf der Domplatte ist Ebbe, zwei 20-Cent-Münzen, ein bisschen Kupfergeld. Ein Mann unter einem schwarzen Schirm liest mit starkem russischen Akzent aus der Bibel vor. Zwischen Bettler und Prophet hasten grimmig blickende Passanten auf dem Weg ins Warme, Trockene.
Frank ist erkältet, er hat mit Freunden deshalb die letzte Nacht in einer
Jede Geschichte ist anders
Frank bezieht absichtlich keine Leistungen vom Staat – »das würde ich eh direkt zum Spielautomaten bringen.« Im kommenden Jahr will er eine Therapie wegen der Spielsucht beginnen. In Rostock geboren, hat Frank lange in der Gastronomie gejobbt, schon einmal in London auf der Straße gelebt und dann dort für eine internationale Nichtregierungsorganisation gearbeitet, die sich gegen Obdachlosigkeit und Armut einsetzt. Für dieselbe Organisation ist er nach Köln gewechselt, bevor das Glücksspiel überhand nahm. Seit August lebt er auf der Straße.
Jetzt zeigt mir Frank eine enge Gasse vom Heumarkt zum Eisenmarkt, einen ruhigen und geschützten Platz. »Den kennen sogar die Hardcore-Flaschensammler nicht«, sagt Frank und prüft mit routiniertem Blick die Müllkörbe. Warum er hier nicht übernachtet? »Hier ist es zu ruhig, das hat auch was mit Sicherheit zu tun.«
»Nur, weil ich auf der Straße lebe, muss ich mich nicht so aufführen.«
Die Solidarität unter Wohnungslosen ist endlich, auch Frank hat schon davon erfahren, wie Peter im Schlaf der Rucksack geklaut wurde. »Es gibt welche, oft sind es Junkies, die sich nicht benehmen können und das Image von Obdachlosen durch den Dreck ziehen«, sagt Frank. »Nur, weil ich auf der Straße lebe, muss ich mich nicht so aufführen.« Diese Aussage begegnet mir öfter: Die Junkies stehen ganz unten in der Hackordnung, viele Wohnungslose wollen auf keinen Fall etwas mit ihnen zu tun haben.
Mehr Migranten, mehr Wohnungslose?
Nach ein paar Kilometern durch den Nieselregen sind Frank und ich bereit für etwas Heizungswärme, also sitzen wir in der Bahnhofsmission. Frank trinkt Tee für 30 Cent, Kaffee gibt’s für 50. Es ist wenig los, außer uns sind noch 3 Rumänen da, die offenbar gerade erst in Köln angekommen sind. »For work«, aber Arbeit ist auf die Schnelle nicht zu finden, Geld haben sie keins, und so erklärt die Mitarbeiterin der Bahnhofsmission den jungen Männern ihre wichtigsten Anlaufstellen in Köln. Sie drückt ihnen Gutscheine für ein Frühstück in die Hand und erklärt auf Englisch den Weg zur Notschlafstelle in der Thieboldsgasse. Auf einer Karte verzeichnet sie die Punkte, wo den Männern geholfen wird.
»Ich bin selbst für meine Situation verantwortlich, nicht Merkel oder die Flüchtlinge.«
Frank und ich verlassen die Bahnhofsmission, auf der Straße kommen wir an der Platte eines Polen vorbei. »Mal ehrlich, ich bin auch lieber in Köln obdachlos als in Warschau oder Lublin«, sagt Frank. Ich habe großen Respekt davor, wie reflektiert er das betrachtet; von Neid und Verteilungsängsten keine Spur. »Ich bin selbst für meine Situation verantwortlich, nicht Merkel oder die Flüchtlinge«, sagt Frank. Das hätten nur einige andere noch nicht begriffen.
Essen, duschen, waschen: Permanente logistische Herausforderungen
Keine 50 Meter Luftlinie von der Bahnhofsmission öffnet um Punkt 12 der
Man trifft sich zum warmen Mittagessen für 1,50 Euro, heute Prager Schinken mit Reis und Karotten. Danach, beim Mau-Mau mit Frank und Marco, kommt wieder das Geflüchtetenthema auf den Tisch. »Ich bin weiß Gott kein Rechter«, sagt
Was macht man den ganzen Tag auf der Straße?
Während ich beim Mau-Mau haushoch verliere, schlägt sich Peter in seiner Skat-Runde am Nebentisch ganz ordentlich. Bis die Sozialarbeiter und Küchenhilfen die Stühle hochstellen und durchfegen – um 15 Uhr endet das Angebot des SKM. Peter nimmt mich mit zum
Tagesstruktur bedeutet für Peter: Aufstehen, Frühstück im Gulliver, Bahnhofsmission, Mittagessen und Skat beim SKM, dann zurück ins Gulliver und gegen halb 9 abends auf die Platte.
Peter hat sein Leben lang stets gearbeitet, ein paar Jahre war er für eine große deutsche Firma auf der arabischen Halbinsel tätig. Fühlt er sich nicht unproduktiv und unterfordert? »Wenn man mit der Situation klarkommen will, muss man gewissermaßen ausblenden, welche Annehmlichkeiten man vorher hatte.« Ein paar Mal im Jahr macht Peter Fahrgastzählungen für die Kölner Verkehrsbetriebe. Außerdem besucht er gelegentlich seine Töchter und Enkeltöchter. »Ich genieße ganz besonders, wenn ich ganz normal Opa sein kann.« Auf dem Smartphone zeigt er stolz die Fotos und Videos, die gelegentlich per Whatsapp ankommen. Die jüngste Enkelin, 7, turnt, gerade hat sie ein Turnier gewonnen. »Die Familie ist ein großer Rückhalt, das haben in der Form nicht viele.«
Kein Zuhause = keine Familie?
Als Peter mir zum ersten Mal von seiner Familie erzählt, versuche ich, mein Erstaunen zu verbergen: Wie funktioniert Familie, wenn einer kein Zuhause hat? Kontakt halten – mindestens die Hälfte der Wohnungslosen, die ich in Köln getroffen habe, besitzt Smartphones – geht noch irgendwie, aber lebt man sich nicht auseinander? Peter wirkt auf mich wie der lebende Beweis, dass eine starke Beziehung auch das überwindet.
»Die Familie ist ein großer Rückhalt, das haben in der Form nicht viele.«
Besonders wichtig, erzählt Peter, sind ihm die täglichen Telefonate mit seiner Frau, einer aus Russland stammenden Germanistin, mit der er gern über die deutsche Sprache redet. Wie er obdachlos wurde, darüber redet er weniger gern, nur so viel: Es geht um Steuerhinterziehung, das Land NRW unterstellt ihm, Schwarzgeldkonten zu besitzen, was er bestreitet. Das gemeinsame Haus in einer Kleinstadt zwischen Köln und Bonn ist als Sicherheit gepfändet – Peter rechnet damit, dass der Rechtsstreit in weniger als einem Jahr beigelegt ist und er wieder mit seiner Frau zusammenwohnen kann. »Den 21. Januar 2014 werde ich nie vergessen«, sagt Peter – an dem Tag war seine Frau zur Tochter gezogen und er auf die Straße. Zur Miete zu wohnen, war für ihn nicht infrage gekommen; ebenfalls bei der Tochter einzuziehen, auch nicht. »Das würde ein paar Wochen gut gehen, aber ich will das Familienleben nicht beeinflussen«, sagt er. Deshalb sieht er seine Frau nur selten – wenn er sie besucht oder beide für ein paar Wochen eine Wohnung über AirBnB beziehen. »Bist du verheiratet?«, fragt mich Peter. »Warum?« – »Mit einigem Abstand betrachtet war unsere Hochzeit das Schönste, was in meinem Leben passiert ist.« Ich nippe an meinem Kaffee und will wissen, was auf dem Platz dahinter folgt.
Das Zweitschönste waren die Olympischen Spiele 1972 in München, wo der damalige Wehrdienstleistende als Funker abkommandiert und letztlich wenig gebraucht wurde – also viel Zeit hatte, um die Spiele live zu erleben. Sport ist auch heute auf der Platte regelmäßig Thema: »Der Erwin und ich, wir tippen manchmal Fußball-Ergebnisse«, sagt Peter. »Der Erwin hört dann immer die Ergebnisse mit seinem Radio ab. Aber da geht es eher drum, ob man mit einem guten Gefühl einschläft oder mit einem schlechten Gefühl.« Als das Gulliver um 16 Uhr schließt, gehen wir los zu einem Sport-Wettbüro am Eigelstein, einem vergleichsweise preiswerten Stadtteil etwas nördlich des Hauptbahnhofs. Peter dreht sich eine Zigarette, der Tabak riecht schwer und süßlich. Er raucht sie ohne Filter, bis zum Ende, und zieht die Tür zum Wettbüro auf.
Was kostet die Welt?
»Da drin wirst du vermutlich ein paar kennen«, sagt Peter, aber gerade ist wenig los, die wenigsten Plätze sind besetzt. Er kommt 1–2 Mal die Woche hierher. Wir setzen uns gegenüber, umringt von riesigen Fernsehern, auf denen live Fußballspiele gezeigt werden, zwischen Mannschaften, deren Namen ich noch nie gehört habe. »Ich tippe grundsätzlich nur Fußball und immer nur 2 Euro«, sagt Peter. Bisher habe er mehr gewonnen als eingesetzt. Konzentriert arbeitet er sich durch Ligatabellen, wägt Auswärtsstärke gegen Heimschwäche ab, bewertet aus ein paar Ziffern die Form von Teams wie dem FC Homburg und Waldhof Mannheim. »Homburg ist im Kommen, das sollte für ein Unentschieden reichen.« Am Ende tippt Peter 7 Spiele als Kombiwette, vor allem englische Liga. Wenn er Recht behält, gewinnt er fast 5.700 Euro. »Dann lade ich dich zum Essen ein«, schlägt er vor.
Bis es so weit ist, gehen wir zum Hauptbahnhof, wo der aus der Flüchtlingshilfe hervorgegangene Verein
In Deutschland muss keiner auf der Straße leben. Oder?
»Also, Abmarsch!« – Peter, Dieter und ich schultern die Rucksäcke und machen uns auf den Weg. Vorbei am Luxushotel Excelsior (»So, hier pflegen wir zu nächtigen!«, scherzt Dieter) und Peters altem Schlafplatz im Eingang eines Bettengeschäfts, wo die ganze Nacht eine grelle Lampe leuchtet. Einmal hatte sich hier mitten in der Nacht ein Betrunkener einen Streich erlaubt und Peter aus dem Schlaf gebrüllt. Daraus entspann sich ein Gespräch, mit dem Vorwurf: »In Deutschland gibt es doch soziale Sicherungssysteme, da muss keiner auf der Straße landen.« – »Stimmt«, hatte Peter geantwortet, »wenn beide Seiten, also Obdachloser und Behörden hartnäckig sind und sich sehr bemühen.« Aber allzu oft scheiterten solche Ambitionen und manche wollten auch gar keine Unterstützung vom Amt, weil sie dann »kontrollierbar« seien. Was gerade bei Menschen, die mit Behörden nicht nur gute Erfahrungen gemacht haben, ein gewichtiges Argument sein kann. Entscheidend ist, denke ich, ob man eine Perspektive hat, Rückhalt, eine Vision, wie das Leben weitergeht.
Als wir an der »Platte«, dem Schuhgeschäft mitten in der Einkaufsstraße, ankommen, ist Erwin mit seinem Hund schon da, in der anderen Ecke sitzt rauchend der Bulgare. Die Schuhe hinter dem Schaufenster, solide Qualitätsarbeit aus Leder, kosten so viel wie 70 bis 100 Essen im SKM. An einer anderen Scheibe lehnt der schmächtige, blasse Typ, der Peters Rucksack geklaut hat. Nach einem kurzen, belanglosen Wortwechsel verschwindet er. Wie gesagt, auf der Straße muss man normal miteinander umgehen können. Wir breiten unsere Schlafsäcke aus. Dieter isst ein Joghurt von den »City of Hope«-Helfern, als er ein Tröpfchen auf die Fliesen kleckert, wischt er es mit einem Taschentuch auf. Die Männer hinterlassen ihre Platte immer blitzsauber. »Einmal ist der Manager vom Schuhladen zu uns gekommen«, erzählt Peter. »Er hat gesagt, dass er froh ist, dass wir dort übernachten – seitdem ist nicht mehr eingebrochen worden.«
Auf der Schildergasse herrscht noch vorweihnachtliche Hektik. Die meisten Passanten wenden sich betreten ab, wenn sie aus Versehen in unsere Ecke schauen. »Joa, so kann man’s auch machen«, zischt eine junge Frau abfällig. »Alter, da schlafen Leute!«, ruft ein anderer. »Campen die da?«, fragt ein Kind. (Ich bin erstaunt, wie vorhersehbar die Passanten reagieren. Ernsthaft, das alles kriegt man schon nach ein paar Stunden auf der Platte zu hören?) Ein Pärchen schaut sich die Schuhe im Schaufenster an. »Willkommen im Paradies!«, sagt der eine zu seinem Partner – ob er die Schuhe oder das Nachtlager meint, bleibt offen. Peter erzählt, zu Beginn fühlte er sich auf Platte begafft wie in einem Schaufenster. »Mittlerweile vergleiche ich es mit einer Bühne.«
Kriegt man auf Platte ein Auge zu?
Um 22 Uhr löscht die Zeitschaltuhr das große Licht im Vorraum. Jetzt kehrt Ruhe ein, Schlafenszeit naht. »Wir haben eine Abmachung mit der Gaststätte gegenüber, falls du noch mal aufs Klo musst«, sagt Peter. Er kontrolliert die Spielstände in der Kicker-App:
Um 23 Uhr schalten sich auch die Spots in den Schaufenstern ab. Wir liegen auf unseren Isomatten, nach der Geschichte mit Peters Rucksack habe ich meine Kamera mit in den Schlafsack genommen. Mittlerweile sind nur noch vereinzelt Menschen auf der Straße, eine Kehrmaschine beseitigt die Überbleibsel eines langen Einkaufstages. Links von mir schnarcht der Bulgare, rechts von mir Peter. Ich tue mich mit dem Einschlafen etwas schwerer, ständig lässt ein Geräusch mich hochschrecken, ein Auto, Gesprächsfetzen oder ein fernes Martinshorn. Kein Problem, wenn man hinter doppelt verglasten Fenstern lebt. Wenn man vor der Scheibe liegt, schon. Ich bekomme kaum ein Auge zu – ich denke an Frank, dem es auf Platte jede Nacht so geht. Und ich kann mein Glück kaum fassen, dass ich einen Wohnungsschlüssel in der Hosentasche habe.
Um 7 Uhr geht die Beleuchtung des Schuhgeschäfts wieder an. 15 Minuten später steigt Peter in voller Montur aus dem Schlafsack, zieht Socken und Schuhe an und verstaut Schlafsack und Isomatte. Dann bricht er mit den anderen zum Gulliver auf, startet in einen neuen Tag.
Titelbild: David Ehl - copyright