Ist es Wahnsinn, für Frieden nach Syrien zu laufen?
Im Jahr 2017 wollen sie die Flüchtlingsroute rückwärts laufen: Zu Weihnachten starten Europäer und Geflüchtete einen Friedensmarsch über 3.000 Kilometer von Berlin nach Aleppo.
Es ist nicht Anna Alboths Schuld, dass nicht schon früher gehandelt wurde. Die junge polnische Journalistin und Mutter von 2 Kindern spricht hastig im Skype-Interview, denn sie hat nur wenig Zeit zwischen den vielen Medienterminen, aber viel zu erzählen; über ihre Frustration, die Wut im Bauch und ihren Tatendrang: »Als ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter vom Zweiten Weltkrieg, den Kriegen in Bosnien und Ruanda. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass Leute auf der ganzen Welt wissen, dass etwas so Schlimmes passiert, und nichts dagegen tun.«
Doch seit 6 Jahren schaut auch sie nur zu, wie der Krieg in Syrien tobt. In ihrer Wahlheimat Berlin half Alboth so gut sie konnte: Sammelte Spenden für Flüchtlingsunterkünfte und nahm im letzten Jahr einen geflüchteten Syrer in ihre Familie und ihrer Wohnung auf. Anschließend fand der Syrienkrieg für sie nicht mehr nur weit weg von Deutschland statt, sondern auch direkt in ihrer Küche: »Ich hörte unserem syrischen Freund zu, wenn er am Küchentisch mit seiner Schwester in Aleppo telefonierte. Das berührte mich sehr. Ende November war ich dann an einem Punkt angelangt, an dem mich die grausamen Nachrichten aus Aleppo in den Wahnsinn trieben.«
Friedensmarsch nach Aleppo
Unter weißen Flaggen wollen die Aktivisten von Deutschland aus nach Tschechien, über Österreich, den Balkan und Griechenland in die Türkei – die Flüchtlingsroute rückwärts also. 3,5 Monate soll der Marsch dauern, bis zur syrischen Grenze. Und dann? Einfach mit einer Gruppe ausländischer Friedensaktivisten, wie viele es auch sein mögen, die Grenze übertreten? Alboths Antwort ist kurz und ehrlich: »Wir wissen jetzt noch nicht, was dort passieren wird. Wir werden es herausfinden müssen.«
Den Friedensmarsch sieht Anna Alboth als längst überfällige Antwort auf die Hilferufe aus Syrien in sozialen Medien. Dort beschrieben Syrer die Brutalität und Zerstörungskraft, mit welcher russische Bomben oder radikal-islamistische Kräfte in ihren Alltag eindrangen. Welche Zeugenberichte, Bilder und Videos echt sind, kann Alboth nur schwer überprüfen, und so filtert sie für sich die kleinstmögliche Wahrheit heraus: »Ich selber habe einen journalistischen Hintergrund und vertraue den Bildern aus Aleppo nicht.
Sackgasse Syrien
Alboths Medienkritik ist berechtigt: Der Syrienkrieg gilt heute als einer der medial undurchsichtigsten Kriege der Neuzeit, gerade weil so viel ungeprüft berichtet und dann
Diese massive Berichterstattung löste einen internationalen Aufschrei aus. Ob in Westeuropa oder den USA, mit dem Einmarsch der Amerikaner in Vietnam 1964 begannen Massenproteste, bei denen Hunderttausende von Menschen gegen den Krieg auf die Straßen gingen. Die Antikriegsbewegung setzte sich auch für die Aufnahme von Geflüchteten aus Südvietnam, der sogenannten
Eine aktive und kontinuierliche Antikriegsbewegung hat der Syrienkrieg jedoch noch nicht provoziert. Aktivisten forderten bisher mit vereinzelten Medienkampagnen, Demonstrationen und Petitionen ein Ende der Gewalt. Ein frommer Wunsch gegenüber den Mächtigen dieser Welt, die in Syrien seit 2011 einen Stellvertreterkrieg führen und mit viel Geld, aber auch direkt mit Waffen, Munition und Kämpfern die verschiedenen Kriegsparteien unterstützen. Warum diese Einmischung? Syrien liegt in einer metaphorischen Goldgrube inmitten der an Öl und Rohstoffen reichsten Region in Vorderasien und ist ein strategischer Knotenpunkt, über seine Mittelmeerküste quasi das Tor zum Nahen Osten. Der Syrienkrieg ist also auch ein
- Pro-Assad-Lager
Die wichtigsten Verbündeten des syrischen Machthabers Assad sind China, der Iran und Russland. Mit China verbindet Syrien eine lange wirtschaftliche und ideologische Beziehung: Syrien ist eine demokratisch-sozialistische Republik. Der Iran wiederum will die geografische und ebenso religiös-ideologische Achse Iran–Syrien–Libanon schützen. Das sind die Anrainerstaaten, in denen jeweils - Anti-Assad-Lager
Die USA und die Golfstaaten unterstützten sunnitische Kämpfer seit dem Beginn der Aufstände. Vor allem Saudi-Arabien ist im ständigen Wettkampf mit dem schiitischen Iran um die religiöse und politische Vormachtstellung in der Region. - Der Opportunist
Die Türkei unterstützte lange Zeit syrische Rebellen im Kampf gegen das Assad-Regime. Das änderte sich, als
Krieg als Tabu
Was hätte nun eine Friedensbewegung diesen geopolitischen Interessen und Großmächten entgegenzusetzen, um den Krieg in Syrien zu beenden? Sie übt keine Macht im Sinne einer großen Interessenpolitik aus, sondern setzt an einem ganz anderen Punkt an:
Wichtiger Motor für die Friedensbewegung damals war die Weiterentwicklung der medialen Darstellung:
Die Menschen in den Industrieländern leben heute in einer der friedlichsten Zeiten der Geschichte, mit den wenigsten Kriegen und durch sie verursachten Toten.
Wer wird für den Frieden aktiv?
Sich heute friedlich gegen den Syrienkrieg zu positionieren, könnte nicht nur helfen, das aktuelle Leid zu beenden. Es gilt auch, das gesellschaftliche Tabu des Krieges wieder stärker zu verankern. Aus dieser Sicht wäre es für den Erfolg des Friedensmarsches von Berlin nach Aleppo gar nicht entscheidend, ob die Kämpfe in Syrien durch die Aktion selbst gestoppt werden könnten. Es geht vielmehr darum, der Gewalt als Mittel der Politik eine klare Absage zu erteilen und dem Handeln aller Kriegsparteien die Legitimation abzusprechen. Mit seinem unübersichtlichen Netzwerk aus Akteuren und Interessen bietet der Syrienkrieg damit der Friedensbewegung die Chance, neue Dialoge und Antworten auf die Herausforderung des Krieges zu finden. Dazu trägt auch bei, dass durch die Flüchtlingsfrage der Konflikt inzwischen eng mit vielen innen- und europapolitischen Fragen verknüpft ist. Entscheidend für den Erfolg wird daher sein, welche Motivationen die Teilnehmer mit auf den Weg nehmen.
»Wir wollen uns bewusst nicht politisch positionieren und auch keine Banner von NGOs bei uns tragen. Dieser Marsch soll jedem offenstehen«, sagt die Organisatorin des »March for Aleppo«. Die Idee eines Friedensmarsches könnte auch in Anna Alboths Heimat Polen gut ankommen, wo
Ein zweischneidiges Schwert: Mehr Menschen mit verschiedenen politischen Ausrichtungen unter einem solch hohem Ziel zu vereinen, braucht eine effektive Debattenkultur. Etwas, was Friedensaktivisten oft nicht ausreichend bedienen können. Ein Beispiel hierfür sind die deutschen Friedensmahnwachen, bei denen sich 2014 mit den Teilnehmern ein breites politisches Spektrum versammelte. Dabei kritisieren Journalisten und Aktivisten immer wieder
Der Friedensmarsch könnte also auch ein wichtiges Forum für Diskussionen über Kompromisse zwischen progressiven und konservativen politischen Akteuren in Europa sein. Ob sie sich ihm anschließen, wird der Auftakt in Berlin zeigen. Was die Veranstalter aber jetzt schon wissen: Viele syrische Geflüchtete in Deutschland, aber auch in der Türkei wollen mitmarschieren. Welche politischen Interessen und Lösungen sie für Syrien sehen, wird für Gesprächsbedarf sorgen. Ein sensibler Punkt ist, dass die Friedensbewegung klarstellen muss, dass die Toten aller Seiten gleich viel zählen. Inwiefern der Friedensmarsch diese Funktion tatsächlich erfüllen kann, wird sich zeigen.
Momentan konzentriert sich Alboths Team mit Mitgliedern aus 12 Ländern größtenteils auf die Organisation des Marsches. Dazu zählen Ausrüstung, Verpflegung, Unterkünfte, Öffentlichkeitsarbeit und die Routenplanung. »Bis zur syrischen Grenze gilt unser Unterfangen nicht als illegal. Dafür organisieren und registrieren wir den Marsch mit Anwälten, Organisationen und der Polizei in allen Ländern, die wir durchqueren werden«, erklärt Alboth.
Durch die Solidaritätskundgebungen in vielen europäischen Städten und weltweit seit der Rückeroberung großer Teile Ost-Aleppos könnte der Friedensmarsch noch einmal mehr Unterstützer bekommen. Das weiß auch Anna Alboth und versucht die Aufmerksamkeit für ihre Botschaft zu nutzen: »Für die Menschen in Aleppo ist es immer noch nicht sicher. Es gibt immer noch nicht ausreichend humanitäre Hilfen, die zu ihnen vordringen können.
Der Syrienkrieg ist zum wichtigsten Stellvertreterkrieg dieser Generation geworden. Politische, religiöse und wirtschaftliche Interessen vermengen sich hier und aktuell gibt es keine Anzeichen, dass ein Mangel an Geld, Munition oder Menschenleben den Konflikt in absehbarer Zeit beenden wird. Den Frieden zum Krieg bringen, auf diesem Weg betritt Anna Alboth Neuland, denn ein Erfolgsrezept für Frieden gibt es nicht: »In den letzten Jahren gab es keinen vergleichbaren internationalen Friedensmarsch. Also müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen.«
Titelbild: dpa/Mohammad Alaeddin - copyright