Der heimliche Star bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden war die 22-jährige Amanda Gorman. Die zierliche Poetin mit knallgelbem Sakko und rotem Haarband hatte ein Gedicht für die Zeremonie geschrieben.
Mit bestechendem Rhythmus spricht sie über die und den Angriff auf das Kapitol Anfang Januar – aber der größte Teil ihres Gedichts handelt von Hoffnung: »For there is always light. If only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it.« (»Denn es gibt immer Licht. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.«)
In nur 5 Minuten zeigt Amanda Gorman, welche Kraft Poesie im richtigen Moment entfalten kann. wuchs in den 14 Stunden nach ihrem Auftritt von ein paar Zehntausend Followern auf über 2 Millionen.
Gedichte können bei der Verarbeitung von Krisen helfen, sie können trösten und Hoffnung machen. Das hat auch der junge deutsche Dichter erkannt und vor einigen Wochen in sozialen Medien dazu aufgerufen, die Erfahrungen im Lockdown gemeinsam mit Lyrik zu verarbeiten. Auch hier war die Resonanz groß. Ist es möglich, dass es in dieser irren Zeit ausgerechnet Lyrik zurück in den Mainstream schafft? Ich habe mit Fabian gesprochen, um herauszufinden, warum Gedichte gerade jetzt so großen Anklang finden.
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Felix Franz:
Wie kamst Du auf die Idee, dass Menschen mithilfe von Gedichten besser durch den Lockdown kommen könnten?
Fabian Leonhard:
Ich habe auf meinem Instagramaccount ein Gedicht über Corona mit dem Hashtag »Lockdownlyrik« veröffentlicht. Daraufhin hat mir jemand einen eigenen Text über die Zeit im Lockdown geschickt. Da dachte ich mir: Eigentlich hat gerade jeder etwas zu dem Thema zu sagen. Ich habe einen Aufruf gestartet, und ziemlich schnell kamen unglaublich viele Texte über Videokonferenzen und Jogginghosen.
Warum kommt das Projekt gerade so gut an?
Fabian Leonhard:
Ich glaube, es kommt gerade alles zusammen. Die Leute haben mehr Zeit. Das letzte Jahr war einfach besonders lang. Man liest und reflektiert mehr. Mich freut es, wenn Leute anfangen zu schreiben, weil es ein Innehalten ist. Diese kurze literarische Form passt außerdem sehr gut zu unserer Zeit, in der die sinkt. In dieser Hinsicht sind die sozialen Medien Fluch und Segen zugleich. Dort kann man ein kurzes Gedicht gut verbreiten. Ich glaube, dass Lyrik noch eine gute Zukunft vor sich hat.
Glaubst du, Gedichte schreiben kann helfen, um mit schwierigen Situationen klarzukommen?
Fabian Leonhard:
Ja, auf jeden Fall. Aber ich will trotzdem betonen, dass Gedichte schreiben nicht nur Selbsttherapie ist. Das kann es sein – es wird auch aber Schreiben kann viel mehr sein. Es kann auch einfach Spaß machen, witzig sein. Es verändert dein Denken. Du entwickelst einen Blick fürs Kleine und gehst offener durch die Welt, interessierter an der Umgebung. Ich glaube, Gedichte schreiben hilft, ein bisschen den Scheuklappenblick abzulegen.
Gibt es Themen, die in den Lockdowngedichten immer wieder vorkommen?
Fabian Leonhard:
Es gibt diese Traurigkeit, die geht manchmal Das Ergebnis sind schwere, schwermütige Texte. Es hätte mich auch gewundert, wenn die nicht gekommen wären, denn natürlich ist vieles an der Pandemie schwierig. Dann gibt es aber auch Texte, die optimistisch in die Zukunft gucken oder auf die positiven Dinge hinweisen. Was alles wiederkommen wird, wenn es vorbei ist. Und dann, was ich sehr cool finde, kommen viele lustige Gedichte, die trotzdem clever sind, mit Wortwitz und Alltagskomik.
Und von wem kommen die Gedichte?
Fabian Leonhard:
Das ist völlig gemischt. Die jüngsten Lockdownlyriker sind 9–10 Jahre alt, die älteste Lyrikerin über 80. Männer und Frauen sind gleichermaßen dabei und bei den Berufsgruppen haben wir Studierende, Ärzte, Lehrerinnen, aber auch Kassierer oder Leute, die gerade im Krankenhaus arbeiten.
Kannst du ein Beispiel geben für ein Gedicht, das du besonders gut fandest?
Fabian Leonhard:
Es sind wirklich viele tolle Gedichte dabei. Diese 3 kamen alle sehr gut an:
Hast du noch weitere Pläne für das Projekt? Was passiert mit den Gedichten, außer dass sie bei Instagram gepostet werden?
Fabian Leonhard:
Jeden Tag kommen hier über 100 Gedichte rein. Die Schwarmintelligenz schafft richtig gute Texte. Deswegen kam die Idee auf, ein Buch daraus zu machen. Am Ende wollen wir die besten 100 Gedichte finden, die noch mal überarbeiten, ein gutes Cover und vielleicht noch gute Illustrationen von einem Künstler hinzufügen. Und dann haben wir einen ehrlichen Gedichtband, der die Lockdownstimmung abbildet. Der Bucherlös soll zu 100% an Obdachlose gehen, die besonders hart von der Pandemie betroffen sind – gerade jetzt im Winter. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass es jetzt schnell geht.
Auch dem Kultursektor geht es gerade schlecht. Kultur ist ein Spiegel der Gesellschaft, in dem Themen und Trends aufgezeigt werden. Glaubst du, die Lockdownlyrik ist ein Vorgeschmack auf das, was kulturell nach dem Lockdown kommt?
Fabian Leonhard:
Ich glaube nicht. Deshalb möchte ich auch, dass das Buch schon im Februar kommt. Wir brauchen diese Kunst jetzt. Ich glaube, dass die Leute, wenn es im Frühjahr hoffentlich besser wird, wirklich auf alles Lust haben. Dass sie ins Theater wollen, auf Konzerte, zu Lesungen.
Du meinst also, von der Lockdownlyrik wird nicht viel bleiben?
Fabian Leonhard:
Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Arbeit das Gedichteschreiben wieder populärer machen würde. Und wer weiß, vielleicht kann es sogar so etwas wie eine neue Lyrikbewegung in Deutschland geben? Ich würde mich freuen, wenn auch mal ein paar Gedichtbände in den Buchläden vorne liegen, nicht immer nur Kriminalromane. Nichts gegen Krimis, die lese ich auch gern. Aber Gedichtbände sind auch cool.
Bis zum 31. Januar 2021 können noch Gedichte über den Account @lockdownlyrik auf Instagram eingereicht werden. Bereits wenige Wochen später soll das Buch mit den 100 besten Gedichten über das Leben im Lockdown im Trabantenverlag erscheinen.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Felix Franz arbeitet als freier Journalist in Paris und Berlin für internationale Fernsehsender wie die BBC und schreibt Reportagen, wenn er unterwegs ist. Manchmal filmt er auch mit seinem Gimbal und kombiniert die unterschiedlichen Formate. Er interessiert sich für Demokratie, Gesellschaft und Umwelt.