Packt Informatik in die Schultüte!
Nur Programmierer brauchen Informatik? Stimmt nicht! Wir alle benutzen die Prinzipien im Alltag. Darum sind sie genauso wichtig wie Lesen und Schreiben.
Es ist mitten in der Nacht und Karl kann mal wieder nicht einschlafen. Er greift unter sein Bett und holt ein leeres Blatt Papier hervor. Darauf übt er zu schreiben – immer wieder, aber ohne Erfolg.
Tagsüber ist das anders: Dann ist Karl ein großer Redner. Er spricht Latein wie seine Muttersprache Die Szene beschreibt der Mönch Einhard in der Kaiserbiographie Vita Karoli Magni (englisch) Grammatik und Astronomie.
ist geschult inist König und Kaiser. Er regiert ein Reich, das die Fläche von Deutschland und Frankreich umfasst. Aber er kann weder richtig lesen noch schreiben. Im Mittelalter ist das nichts Außergewöhnliches: Fürs Schreiben gibt es Spezialisten, die Kleriker. Wenn Karl ein Dokument unterzeichnen will, setzt einer seiner Hofschreiber die Unterschrift unter den Text. Karl setzt ein Häkchen daneben.
– Richard Riley
Einem Kind, das heute geboren wird, könnte es als Erwachsenem ähnlich ergehen wie dem ersten deutschen Kaiser: Es ist umfassend gebildet, spricht mehrere Sprachen fließend, aber es weiß nicht, wie die neuen Technologien, die es jeden Tag benutzt, funktionieren.
Wer im 21. Jahrhundert selbstbestimmt leben will, muss Prinzipien der Informatik kennen – genauso wie Lesen und Schreiben.
Worum es bei Informatik wirklich geht
Wer an Informatik denkt, hat schnell ein Bild im Kopf: Ein junger Mann, der im Dunkeln vor seinem Computer sitzt. Sein Lebensinhalt: Programmieren.
Dieses Bild des
hat mit der Realität relativ wenig zu tun. Wir alle nutzen Prinzipien aus der Informatik und zwar täglich. Nicht nur wenn wir unser Smartphone in die Hand nehmen, sondern auch wenn wir Waffeln backen. Denn ein Rezept ist nichts anderes als ein Algorithmus, also eine genau definierte, schrittweise Handlungsvorschrift. Steht eine Entscheidung an, heißt das: Wenn A, dann B. Im Waffelbeispiel also: Wenn der Teig zu fest ist, gib Milch hinzu – wenn nicht, kannst du alles verrühren.
Das Waffelbacken ist kein Einzelfall für Informatik im Alltag, erklärt Jeannette Wing. Sie ist Professorin für Informatik an der Carnegie Mellon University in den USA.
– Jeannette Wing, Informatik-Professorin
Wenn wir Prinzipien der Informatik im Alltag nutzen, spricht Jeannette Wing von In diesem Aufsatz beschreibt Jeannette Wing ausführlich das Konzept des Computational Thinking (englisch, 2006) »Computational Thinking«. Und das ist mehr als Programmieren: Die Fähigkeit, Probleme in einzelne Schritte und Regeln zu zerlegen, um sie zu lösen. So sind wir mit der Zeit auch in der Lage, bestimmte Muster zu erkennen und anzuwenden. Wir lernen, uns auf das Wesentliche zu beschränken und zu verstehen, wo wir Fehler gemacht haben, um sie beim nächsten Mal zu vermeiden.
Ein beliebtes Alltags-Beispiel ist der eigene Schreibtisch: Wenn sich darauf mal wieder Briefe, Bücher und Notizblätter stapeln, wird es Zeit aufzuräumen. Besser noch ist es, sich ein System zu überlegen. Alles, was neu ankommt, landet im Eingangskorb, dessen Inhalte du jeden Morgen weiter verteilst. Was heute wichtig ist, landet auf dem Tagesstapel, was du nicht mehr brauchst, wandert in den Müll oder an einen festen Platz, zum Beispiel im Regal. Sobald eine Aufgabe erledigt ist, wandern Unterlagen wieder zurück an Ort und Stelle.
Sieht der Schreibtisch nach einer Weile wieder aus wie vorher, ist das System nicht gut genug – Zeit, es auf Fehler zu prüfen und zu verbessern. Oder beim Kollegen vorbeizuschauen. Vielleicht hat der ein System, das du übernehmen kannst?
Jeannette Wing beschreibt »Computational Thinking« als eine Grundfähigkeit für alle, nicht nur für Informatiker. »Jedes Kind sollte diese analytischen Fähigkeiten erlernen, genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen.« Mit anderen Worten: Informatik gehört zur Allgemeinbildung!
Informatik für alle? Deutschland ist spät dran
Der deutsche Schulalltag sieht allerdings anders aus. Informatik ist nur in Stand des Informatikunterrichts in Deutschland (2010) anderen Bundesländern muss sich dafür engagiertes Personal finden. Einige bieten Informatik im Wahlpflichtbereich an, andere haben Arbeitsgemeinschaften. Die meisten Heranwachsenden kommen in der Schule also nie mit dem Fach in Kontakt.
ein Pflichtfach, zumindest in einigen Jahrgangsstufen. InIst das schlimm? Schließlich wachsen Kinder und Jugendliche mittlerweile mit technischen Systemen auf. JIM-Studie zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen (2016) Über 90% der Jugendlichen zwischen 12 und 19 besitzen ein Smartphone und einen Internetzugang. Mehr als 70% haben einen eigenen Laptop. In den 200 Minuten, die Kinder und Jugendliche jeden Tag durchschnittlich online sind, lernen sie allerdings wenig. Sie chatten, spielen oder schauen sich Videos an. können Computer und Software bedienen – Ergebnisse der ICILS-Studie (2013) wie Programme arbeiten, wissen sie aber selten.
Der Tweet und die Bildungsdebatte (2015)
»Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.«
– Naina
Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel: Ein Großteil unserer Kommunikation findet bereits digital statt und auch unsere Wirtschaft befindet sich mitten in der Transformationsphase von der analogen in die digitale Zeit. Wirtschaftsverbände wie Bitkom Chef Kempf fordert Pflichtinformatik (2014) Pflichtfach Informatik für alle Schüler.
rufen deswegen regelmäßig nach einemDabei geht es nicht darum, sämtliche Kinder und Jugendliche zu IT-Fachkräften zu machen. Wir alle haben eine Idee davon, warum eine Glühbirne leuchtet, obwohl wir keine Physiker sind. Genauso sollten Schüler verstehen, wie Software funktioniert, auch wenn sie keine Informatiker werden.
Geht das nur mit einem eigenen Schulfach?
Kinder und Computer: Kann das (lange) gut gehen?
Die Kritiker haben einige Gegenargumente auf ihrer Liste:
- Die Lehrpläne sind voll! Immer wieder tauchen Vorschläge für neue Schulfächer auf, die dringend unterrichtet werden müssten. Worauf genau soll Schule eigentlich vorbereiten? Und wenn Informatik so wichtig ist, was kürzen wir dafür?
- Kein Geld für moderne Technik! In der Grundschule lässt sich Informatik auch ohne Computer unterrichten – und dann? Deutsche Schulen sind technisch veraltet und generell marode. Ist das Geld für das neue Schuldach oder die Heizung nicht sinnvoller investiert?
- Die hängen eh schon den ganzen Tag vorm Bildschirm! Die Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung (2014) Wechselwirkungen zwischen digitalen Medien und der Entwicklung von jungen Menschen sind äußerst komplex. Ob überwiegen, hängt von der Nutzungsdauer, den Inhalten und dem Alter ab. Unter 2-Jährige sollten am besten gar nicht vor dem Meta-Studie zur Bildschirmnutzung von Kindern unter 3 (englisch, 2013) Bildschirm sitzen. Für Grundschulkinder werden maximal Empfehlungen der Initiative »Schau hin!« 1–2 Stunden pro Tag empfohlen.
- Wir haben schon genug Medienbildung! Nicht nur verwechseln informatisches Wissen regelmäßig mit Medienkompetenz. Ihr Argument: Wenn Schüler in jedem Unterrichtsfach ab und zu ein paar Übungen mit neuen Medien machten, reiche das aus.
Diese 4 Punkte gelten für alle Schulformen. Die Grundschule bringt noch eine Besonderheit mit sich: Sie ist ein Schutzraum, in dem sich Kinder entwickeln sollen, um elementare Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft spricht sich deswegen für eine Ilka Hoffmanns Gastbeitrag bei Sofatutor (2016) Grundbildung ohne Informatik aus.
– Ilka Hoffmann, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
NRW geht voran: Pilotprojekt Informatik für Grundschüler
Früh zu beginnen hat aber auch mindestens 2 Vorteile:
- Bildung für alle: Jedes Kind erhält ein Verständnis von den Prinzipien der Informatik – unabhängig von der Schulform.
- Kein Gender Gap: Im Moment besuchen vor allem Jungen den Informatikunterricht. Grundschüler haben noch keine Den Weg zur Informatiklehrkraft zeigt dieser Artikel der Uni Wuppertal (2015) Rollenbilder der Gesellschaft verinnerlicht. Für sie sind Studie zu Informatik in österreichischen Grundschulen (2011) Mädchen und Jungen für das Fach gleich talentiert. Das ändert sich in der Pubertät. Damit sind wir wieder beim Anfangsbild, dem Bild vom typischen Informatiker: männlich, Außenseiter, Nerd.
Zumindest in Nordrhein-Westfalen soll sich das jetzt ändern, damit am Ende der Grundschule jedes Kind Prinzipien der Informatik im Alltag entdecken und anwenden kann. Seit dem Schuljahr 2015/16 läuft ein Modellprojekt an 5 Grundschulen in mehreren Doppelstunden im Sachunterricht der 3. und 4. Klasse. Das Pilotprojekt besteht aus
- Digitale Welt: Die Kinder beschäftigen sich mit den Grundsätzen der Das Modul »Digitale Welt« der RWTH Aachen (2016) Informationsverarbeitung: Wie werden Daten im Internet übertragen? Wie kommt meine E-Mail von Münster nach New York? Und warum kann mein Computer so viele Bilder speichern?
- Wie funktioniert ein Roboter? Die Grundschüler basteln einen kleinen Das Modul »Wie funktioniert ein Roboter?« der Uni Paderborn (2016) Papp-Roboter, der dann über ein Blatt Papier wandert. Rechts, links, geradeaus oder zurück. Die Schüler bestimmen den Ablauf, sie legen einfach die Karten in einer Kette auf den Tisch – Grundschritte jeder Programmierung.
- Das kannst du nicht lesen! Wie lassen sich Nachrichten verschlüsseln?
Schon die alten Griechen verschlüsselten mit Skytalen ihre Nachrichten. – Quelle: GNU Free Documentation License CC BY-SA
»Der Computer ist wie ein Fahrrad fürs Gehirn.« – Steve Jobs
Im NRW-Projekt arbeiten die Schüler ohne Computer, sie entdecken die Prinzipien der Informatik spielerisch. Die 3 Module greifen auf die didaktischen Prinzipien des Grundschulunterrichts zurück: Schüler arbeiten mit Beispielen aus ihrer Lebenswelt wie dem Roboter, den viele Kinder als Spielzeug kennen. Indem die Schüler den Papp-Roboter eigenständig über das Papier steuern, werden sie selbst aktiv. Auf dieser praktischen Ebene können Kinder informatische Prinzipien bereits im Übersicht über die Forschung zu Informatik in der Grundschule (2013) anwenden und verstehen.
»Das erste Feedback zu den 3 Modulen ist positiv«, erklärt Ludger Humbert, Professor für Didaktik der Informatik an der Uni Wuppertal. Wohin das Modellprojekt langfristig führen werde, sei aber unklar.
– Ludger Humbert, Informatik-Didaktiker
Erstklässler am PC im britischen Stil
In Großbritannien gehören diese Fragen der Vergangenheit an. Seit 2014 ist Informatik dort Pflichtfach ab der 1. Klasse. Damit ist das britische Königreich nicht allein: Informatik als Schulfach in Europa (englisch, 2015) 16 europäische Länder haben das Fach in ihre Lehrpläne integriert.

In den ersten 3 Jahren Computing-Lehrplan in Großbritannien (englisch, 2013) lernen die Schüler in Großbritannien, was ein Algorithmus ist, wie Programme auf ihrem Smartphone funktionieren und wie sie sicher mit ihren Daten umgehen können.
Der neue Lehrplan mit dem Fach »Computing« kommt einer kleinen Revolution gleich: Seit den 1990er-Jahren stand Bericht zum Stand von ICT, S. 6f. (englisch, 2009) »Information and Communication Technology« auf dem Lehrplan. Das Problem: Die Schüler lernten dort nur, wie sie mit Word, Excel und Co. arbeiten. Das wussten sie aber bereits. Keiner nahm das Fach wirklich ernst und der Unterricht wurde auf fachfremde Lehrkräfte abgewälzt. Informatik in den höheren Jahrgangsstufen genoss folglich keine große Popularität unter den Schülern.
»Es ist eine Art Kultur des Schenkens. Du lernst von anderen die Dinge, die sie gut können.« – Simon Peyton Jones. CAS-Vorsitzender
2007 entstand deswegen eine Graswurzelbewegung aus Lehrern, Universitäten, Unternehmen wie Google und Microsoft und IT-Fachverbänden. »Computing at School« (CAS) verlieh den Unterstützern für ein »echtes« Schulfach Informatik
Aus dieser Basisbewegung ist ein Netzwerk geworden, das die Lehrerfortbildung für »Computing« organisiert. Dafür bekommt die Organisation 1 Million Pfund (ca. 1,2 Millionen Euro) pro Jahr von der britischen Regierung. Die Fortbildungen sind für die Lehrkräfte freiwillig, wer interessiert ist, wird CAS-Mitglied und kann sich weiterbilden.Das Überblick zum CAS-Netzwerk (englisch) Netzwerk beruht auf dem Prinzip der Unterstützung vor Ort – von Lehrern für Lehrer. Die komplexe Struktur dahinter beruht auf 3
- Meister-Lehrer: Diese besonders erfahrenen Lehrkräfte (aktuell 400) werden für einen halben Tag pro Woche von der Schule freigestellt. In dieser Zeit erarbeiten sie neue Materialien und bilden andere Lehrer weiter.
- Lokale Anlaufstellen und Regionalzentren: Über das ganze Land verteilt finden sich lokale Anlaufstellen. Dort können sich Lehrer treffen, Ideen austauschen und über ihre Probleme sprechen. Sie stehen in Kontakt mit den 10 Regionalzentren. Diese werden jeweils von einer Universität getragen und bilden die Meister-Lehrer weiter.
- Vorreiterschulen: Diese Schulen haben Computing bereits fest in ihren Lehrplänen verankert. Sie unterstützen Partnerschulen, die sich mit der Umsetzung schwer tun, indem sie gelungene Unterrichtsbeispiele austauschen und zusammen in Prozessen arbeiten.
Trotz erster Erfolge gibt es noch viel zu tun, betont der CAS-Vorsitzende Simon Peyton Jones.
– Simon Peyton Jones, CAS-Vorsitzender
Es bleibt die Frage: Können wir vom britischen System lernen?
Was sich vom britischen Stil übertragen lässt
»Das ist gut für alle Kinder in ihrer Erziehung und übrigens: Das ist auch gut für ihre späteren Jobs und für das Wohlergehen der ganze Nation« – Simon Peyton Jones, CAS-Vorsitzender
Das britische Vorbild zeigt: Veränderungen im Bildungssystem brauchen Zeit, sind aber möglich. CAS ist in Großbritannien deshalb erfolgreich, weil die Organisation es geschafft hat, unter ihrem Banner viele gesellschaftliche Gruppen und Organisationen zu vereinen. Weil sie mit einer Stimme sprachen, hörte auch die Regierung zu. Potenzieller Kandidat in Deutschland: die Website der Gesellschaft für Informatik Gesellschaft für Informatik. Wichtige Zutat ist eine starke Botschaft: Informatik ist gut für die Gesellschaft – nicht nur für den Arbeitsmarkt.
Wer Veränderungen in der Schule will, muss auch ein Unterstützersystem für die Lehrkräfte aufbauen. Nur dann werden sie bereit sein, das neue Fach mitzutragen und erfolgreich zu gestalten. Das gilt insbesondere für Grundschulen, wo fachfremde Lehrkräfte Informatik unterrichten (werden).
Auch das britische System hat Probleme, betont Ludger Humbert. Eine Zusammenarbeit mit Unternehmen wie Microsoft sieht er sehr kritisch.
– Ludger Humbert, Informatik-Didaktiker
Die Die Ziele der Calliope GmbH gemeinnützige Calliope GmbH könnte dieses Problem lösen. Die Firma hat einen Mini-Computer entwickelt, mit dem Grundschüler sich der Welt der Informatik spielerisch nähern sollen. Software und Lehrmaterialien sind frei zugänglich – den Mini-Computer sollen die Schüler umsonst bekommen. Seit Oktober läuft das Projekt im Saarland, dieses Jahr kommt Bremen dazu. Informatik als Schulfach hat in Deutschland viel Potenzial: 16 Bundesländer bedeuten auch
Die Prinzipien der Informatik zu verstehen ist wie eine Sprache zu lernen. Es erschließt sich eine neue Welt, die nicht mehr fremd ist, sondern aktiv mitgestaltet werden kann.
Mit Illustrationen von Lukas Oleschinski für Perspective Daily
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