So gelangt der Impfstoff zu Menschen, die sonst übersehen werden
Während in Villenvierteln kaum jemand erkrankt, sind die Coronazahlen in armen Gegenden hoch. Ein Besuch bei einem Kölner Impfprojekt, das zum Vorbild für ganz Deutschland werden könnte
Das rot-weiße Absperrband flattert so wild und raumgreifend hin und her, dass man darüber hüpfen könnte wie über ein Springseil: An diesem Mittag peitscht ein Sturmtief mit pfeifenden Böen über den Liverpooler Platz in Köln-Chorweiler, die wohl
Mal reißt die zerzauste Wolkendecke auf und gewährt einen flüchtigen Blick auf die Maisonne, im nächsten Moment hat der Wind wieder Regen und sogar Hagelkörner im Gepäck – und treibt sie fast waagerecht gegen die Mäntel der 30–40 Menschen, die hier gerade hintereinander in einer Warteschlange stehen: Sie alle warten geduldig auf die Impfung, die sie gegen die Aerosolwolken immunisieren soll, die
In Chorweiler zu leben gilt nun als Risikofaktor
Arme Menschen erkranken häufiger an Covid-19
Dass arme Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt sind, an Covid-19 zu erkranken und auch daran zu sterben, ist schon lange bekannt. In den USA lag im ersten Jahr der Pandemie die
Wissenschaftliche Argumente für die Impfaktion
Es gibt 2 Argumentationen für dieses Vorgehen – der Epidemiologe Hajo Zeeb vom
Neben diesem epidemiologischen Argument gebe es auch eines aus der Public-Health-Ethik: Es sei angebracht, »dort, wo besondere Risiken herrschen, auch vordringlich zu handeln. Das ist gut für die lokale Bevölkerung, aber auch für die Gesamtheit«, schreibt Hajo Zeeb.
Hotspots identifizieren und helfen
Auch andere Expert:innen stellten sich früh hinter die Idee: Der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, forderte zum Beispiel, dass Städte ihre jeweiligen Corona-Hotspots identifizieren und den Bewohner:innen helfen,
In Chorweiler hat die Stadt Köln, 12 Kilometer entfernt vom eigentlichen Impfzentrum auf dem Messegelände, ein solches mobiles Impfzentrum aufgeschlagen: Geimpft wird in einem umgebauten Bus, vorgeschaltet ist ein Containerbüro für die Registrierung und Aufklärung der Impflinge. Die Mitarbeitenden sprechen insgesamt 12 verschiedene Sprachen, damit auch die Migrant:innen erreicht werden, die nur wenig Deutsch sprechen.
Manchen fehlen grundlegende Informationen zur Pandemie
»Viele wissen nicht, was Corona ist oder was das Impfen bringt, weil viele kein Deutsch verstehen«, sagt Franziska Weingarten, die die Essensausgabe der Tafel in Chorweiler leitet. Es werde immer noch zu wenig öffentlich erklärt und viele Menschen informierten sich nur über ihre Heimatkanäle – »und bekommen dort keine Informationen über Corona in NRW«, sagt Weingarten. »Wenn wir hier eine hohe Inzidenzzahl haben und in ihrem Land vielleicht gerade eine niedrige ist, dann verstehen sie nicht, warum hier auf einmal ein Impfbus steht.«
Franziska Weingarten wohnt im benachbarten Stadtteil Seeberg, der direkt hinter dem Liverpooler Platz anfängt und für den das Impfangebot ebenfalls
»Die Impfbereitschaft war nie das Problem«
Das Chorweiler Impfprogramm sei eine »ganz tolle Sache«, findet Musa Deli. Der Leiter des Kölner Gesundheitszentrums für Migrantinnen und Migranten beklagt im Zoomcall, dass das öffentliche Gesundheitswesen ansonsten kaum auf die Lebensrealität von Migrant:innen eingeht. »Wenn man sich interkulturell öffnet, dann würde man sehr viel sparen«, erklärt Deli. Menschen mit Migrationserfahrung nähmen hierzulande seltener Vorsorgeangebote wahr, dafür seien sie in der akuten Versorgung überrepräsentiert.
Viele gehen erst zum Arzt, wenn es zu spät ist, das kostet viel Geld und Menschenleben und gefährdet uns alle.
Deshalb sei es richtig, »dass wir dorthin gegangen sind und nicht gewartet haben, bis die Menschen zu uns kommen.« Die Impfbereitschaft sei dabei nie das Problem gewesen, sagt Deli. »Ich habe die Menschen wirklich sehr impfbereit erlebt, sie haben sich einfach nur schlecht informiert gefühlt.«
Musa Deli erklärt Autor David Ehl im Video-Interview, wieso es so wichtig sei, den Impfstoff zu den Menschen zu bringen:
Aus Delis Sicht sind die folgenden Punkte besonders wichtig für die Angebote in Vierteln wie Chorweiler:
- Verschiedene Sprachen: »In Chorweiler haben sie das gut gemacht. Die haben die Menschen sofort in ihrer Muttersprache aufgeklärt«, sagt Musa Deli. Wichtig sei neben Türkisch und Bulgarisch auch Italienisch, denn die Bedürfnisse von Zugewanderten aus dem EU-Land Italien würden häufig unterschätzt.
- Informationsangebote: Kommunen erreichen die betroffenen Bürger:innen besser, wenn sie Moschee- und Synagogengemeinden oder Kulturverbände mit einbeziehen. »Die haben einen direkten Zugang zu den Menschen und die werden auch gehört. Wenn ein Imam eine Predigt hält, wird er natürlich sehr ernst genommen.« Auch das hat Köln umgesetzt und schon in einigen Moscheen und Synagogen geimpft.
- Niedrigschwelliger Zugang: »Wenn man sich alleine die Impfanmeldung anschaut, dann ist das sehr schwierig, sogar für einen Muttersprachler«, sagt Musa Deli. Beim Impfmobil in Köln-Chorweiler ist keine vorherige Anmeldung nötig – es genügt ein kurzer Blick auf den Personalausweis, um anhand der Adresse die Impfberechtigung nachzuweisen.
In 15 Minuten zur Impfung
Die Stadt Köln hat in Chorweiler also vieles richtig gemacht. Mit dafür verantwortlich ist Christian Miller, der Chef der Kölner Berufsfeuerwehr. Man muss für Coronaverhältnisse ungewohnt nah an ihn herantreten, damit sich seine Stimme vom vielsprachigen Rauschen im mobilen Impfzentrum abhebt: »Wir haben natürlich über die städtischen Kanäle, Social Media und so weiter auf dieses Impfangebot hingewiesen«, sagt Christian Miller. »Aber aus meiner Sicht sind die Schlüssel zum Erfolg tatsächlich die lokalen Netzwerke. Das heißt, wir haben über das Bürgeramt die Gemeinschaften, die Pfarreien, die Bürgerinitiativen, auch die kulturellen Vereine hier angesprochen und konnten damit wirklich eine hohe Mobilität der Menschen erzeugen.«
Über die Website der Stadt Köln hat Michaela, die lieber nur ihren Vornamen nennen will, von dem Impfangebot erfahren. Sie hat gerade gemeinsam mit ihrer Tochter Lara jeweils eine Impfung erhalten, dazu einen Zettel mit Informationen zur zweiten Dosis, die sie ebenfalls hier erhalten sollen. Kaum 15 Minuten habe der ganze Vorgang gedauert und das Personal sei sehr nett gewesen. »Einfacher geht’s nicht«, sagt die Frau mit der grauen Wollmütze mit grellpinken Sternen: »Sonst haben wir immer so viel Bürokratie in Deutschland, aber das geht!«
Hinter den Kulissen lief nicht alles glatt
Hinter den Kulissen ist zum Start aber nicht alles glatt gelaufen: Eigentlich wollte das Land NRW für die Aktion 1.000 Dosen des Impfstoffs von Johnson & Johnson bereitstellen – der den beträchtlichen Vorteil hat, dass nur einmal geimpft werden muss. Das erleichtert nicht nur die Planungen, sondern umgeht auch das Risiko, dass Menschen möglicherweise ihre Zweitimpfung nicht mehr wahrnehmen.
Allerdings war der Impfstoff zum Start des Modellprojekts noch gar nicht ausgeliefert, sodass umdisponiert werden musste: Vorerst gab es 750 Dosen Moderna pro Tag aus den Notrationen der Stadt, erst später traf der Johnson-&-Johnson-Impfstoff ein. Doch die einmalige Lieferung von 1.000 Dosen war angesichts der großen Nachfrage nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Bereits am vergangenen Donnerstag drohte das vorläufige Aus für die Impfaktion, weil der Nachschub knapp wurde. Das konnte jedoch abgewendet werden – am Freitag starteten Impfungen auch in der Hochhaussiedlung »Am Kölnberg«.
Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann versprach daraufhin 100.000 zusätzliche Impfdosen für
Ein Konzept auch für andere Städte?
Von wackelnden Impfstoffmengen einmal abgesehen – die Idee, in sogenannten
- Im Mannheimer Stadtteil Hochstätt haben mobile Impfteams nach dem Kölner Vorbild ein ähnliches Modellprojekt gestartet. Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha will ähnliche Aktionen im ganzen Land – dabei ist er aber auf die Mitwirkung der Kommunen angewiesen. Stuttgart wertet gerade die Infektionslage im Stadtgebiet aus, allerdings gibt es auch Städte wie Heilbronn, dessen Oberbürgermeister pauschal erklärte, es gebe keine Hotspots.
- In Berlin hat der Senat bereits 10.000 Impfdosen für Impfaktionen in »sozialen Brennpunkten« freigegeben. Wie genau die Kampagne organisiert werden soll, ist jedoch noch umstritten. Ein Amtsarzt forderte zum Beispiel
- In Nordrhein-Westfalen könnte das Kölner Modellprojekt bald ausgeweitet werden: Das Gesundheitsministerium wolle nach einem Zwischenbericht aus Köln darüber entscheiden, sagt ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage von Perspective Daily. Die Stadt Duisburg hat bereits Interesse bekundet, das Ministerium wolle laut einem Sprecher gegebenenfalls auch auf andere Städte und Kreise zugehen.
Welche Maßnahmen sind entscheidend, damit diese Projekte auch anderswo gelingen können? Darüber sind sich alle Fachmenschen, die für diesen Artikel befragt wurden, überraschend einig: Auf die Kommunikation komme es an. »Der Schlüssel zum Erfolg ist aus meiner Sicht, den Impfstoff zu den Menschen zu bringen, ein niedrigschwelliges Angebot zu machen und die lokalen Netzwerke mit einzubinden«, sagt Feuerwehrchef Christian Miller und schließt sich damit dem Rat des Sozialpsychologen Musa Deli an.
Mehrsprachig, barrierefrei, kostenlos: In Köln läuft vieles gut
Epidemiologe Hajo Zeeb unterstreicht, was in Köln aus seiner Sicht gut läuft: »Es gibt gute mehrsprachige Informationen, es ist barrierefrei, keine Kosten – das scheint es schon zu einem ganz guten Vorbild zu machen. Ich bin sehr dafür, in enger Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort Derartiges auch an anderen sogenannten Brennpunkten zu machen.«
Franziska Weingarten klingt 2 Tage nach ihrer Impfung am Telefon sehr zufrieden: »Ich bin schon froh, dass ich jetzt geimpft bin. Das hätte sonst viel länger gedauert.« Sie hatte nur leichte Schmerzen im Arm, das sei aber nicht so schlimm. Von ihrer Arbeitsstätte an der Chorweiler Tafel kann sie sehen, dass immer noch jeden Tag viele Menschen geduldig anstehen: »Man sieht, dass die Leute Interesse haben, sich impfen zu lassen«, sagt sie.
So ähnlich hat das auch Michaela bestätigt, die Frau mit der grau-pinken Wollmütze, die sich eine halbe Stunde vor Franziska Weingarten impfen ließ: »Wir hungern alle nach unserem Leben, das wir vorher hatten. Und das mit dem Impfen ist wirklich so eine kleine Sache für eine große Wirkung. Und zwar für alle, weltweit.«
Titelbild: David Ehl - copyright