Wie können wir in einer unübersichtlichen Welt verantwortungsvoll handeln? Die Philosophin Ina Schmidt erklärt, was es wirklich bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – und das zur Gewohnheit zu machen.
Bio oder billig? Fahrrad oder Auto? Fast oder Fair Fashion? Jeden Tag treffen wir unzählige Entscheidungen, die sich auf unsere Umwelt, vor allem aber auf andere Menschen auswirken. Wie können wir dafür sorgen, dass wir diese Entscheidungen verantwortungsvoll treffen? Und was bedeutet das überhaupt: verantwortungsvoll handeln?
Darüber hat die Philosophin Ina Schmidt ein Buch geschrieben. In beschreibt sie Verantwortung als eine Lebenspraxis, die sich danach richtet, das Gute zu wollen. Spoiler: Was das Gute ist, ist gar nicht so individuell, wie wir manchmal meinen.
Für Ina Schmidt hat Verantwortung mit einer ständigen Suche nach Antworten zu tun, mit dem Hinterfragen unserer Alltagsroutinen.
Und sie hat eine gute Nachricht: Verantwortungsvolles Handeln können wir uns antrainieren.
Katharina Wiegmann:
Wann ist Ihnen das letzte Mal verantwortungsloses Verhalten aufgefallen, das Sie so richtig geärgert hat?
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Ina Schmidt:
Wahrscheinlich bei der Diskussion um Impfdrängler, die mit Falschinformationen versucht haben, sich frühzeitig einen Impftermin zu sichern. Was bringt Menschen dazu? Und wie finden wir Regeln, die möglichst viele nachvollziehen können?
Auch die Debatte darum, wer jetzt wann und auf welche Weise seine Rechte zurückbekommt, hat viel damit zu tun, wie man sich verantwortungsvoll verhält. Wer sich noch an Beschränkungen halten muss, während andere schon eine neue Freiheit genießen können. Das beschäftigt mich gerade sehr: Wie betreffen diese Entscheidungen mich, meine Kinder, meine Eltern? Diese unterschiedlichen Perspektiven sind wesentlich, weil es sehr darauf ankommt, aus welcher Position man versucht, sich ein Urteil zu solchen grundsätzlichen Entscheidungen zu bilden.
In Ihrem Buch erklären Sie die verschiedenen Ebenen von Verantwortung am Beispiel zweier Menschen: der und dem Kapitän Was können wir aus ihren Geschichten über Verantwortung lernen?
Ina Schmidt:
Das Bild des Kapitäns und der Kapitänin, der oder die für ein Schiff verantwortlich ist, macht deutlich, dass es in Situationen, in denen wir mit Verantwortung konfrontiert sind, häufig eine Zuständigkeit – also eine Rollenverantwortung – gibt. Wir werden angesprochen als jemand, der kompetent ist und etwas zu entscheiden hat.
Carola Rackete und Francesco Schettino waren beide in einer sehr ähnlichen Verantwortungsposition. Sie hatten eine ähnliche Rolle und Zuständigkeit. In dem einen Fall für ein Kreuzfahrtschiff, das in Not geraten ist. Hier hat sich der italienische Kapitän in seiner Rolle eindeutig verantwortungslos verhalten und zuerst versucht, sich selbst zu retten. Er hat sich seiner Zuständigkeit als Führungsperson verweigert.
Carola Rackete auf 2 Ebenen Verantwortung übernommen. Nicht nur als Kapitänin, sondern als Kapitänin eines Schiffes mit einer besonderen Aufgabe und Mission. In einer kritischen Situation hat sie sich für diese Mission und gegen geltendes Recht entschieden – und dafür, Menschen zu retten, weil sie es in dem Moment, in dem sie entscheiden musste, für das Richtige hielt. Auf der rechtlichen Ebene wurde ihr, weil ihr Handeln illegal war, daraufhin Verantwortungslosigkeit vorgeworfen.
Was denken Sie über diesen Vorwurf?
Ina Schmidt:
Wir können Verantwortung nie von konkreten Handlungen trennen. Verschiedene Rollen oder Verantwortungsebenen können miteinander in Konflikt geraten, aber wir sind immer aufgerufen, etwas zu tun, was wir für richtig halten, wenn wir verantwortungsvoll sein wollen.
Verallgemeinerbarkeit spielt im Kontext von Verantwortung natürlich eine große Rolle, aber das darf uns nicht lähmen. Wenn wir verantwortlich sein wollen, müssen wir handeln. Carola Rackete hat sich zum Handeln entschieden, weil sie das, was sie tat, für das Richtige hielt, was es unter moralischen Gesichtspunkten ganz sicher auch war. Francesco Schettino hat das Handeln komplett unterlassen – beziehungsweise nur für sich allein gehandelt.
Wir können also von 3 Ebenen der Verantwortung sprechen: Wir haben eine Rollenverantwortung, es gibt eine rechtliche – und schließlich eine moralische Verantwortung.
Sie berichten in Ihrem Buch von einer Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2019, die zu dem Ergebnis kommt, dass Menschen Wir alle haben ähnliche Dinge im Kopf, wenn wir darüber nachdenken, was gut und richtig ist. Erwächst aus dieser Erkenntnis auch ein gemeinsamer Maßstab dafür, was verantwortungsvolles Handeln bedeutet?
Ina Schmidt:
Es gibt den gemeinsamen Wunsch nach einem gelingenden Miteinander, einer Ausrichtung am Guten, am respektvollen Umgang. Wir möchten einander nicht schaden. Wir streben eigentlich ein Das heißt aber noch lange nicht, dass uns das gelingen muss. Denn überall und ständig stellen wir fest, dass es nicht gelingt; dass es entweder Menschen gibt, die sich gar nicht an solchen Maßstäben ausrichten wollen, es vielleicht nicht können, oder dass es große Unterschiede in der Wahrnehmung dazu gibt, was das Gute in einer konkreten Situation ist.
Die grundsätzliche Einsicht, dass Menschen das Gute wollen, bedeutet also noch lange nicht, dass wir uns darüber einig sind, wie verantwortungsvolles Handeln in einer konkreten Situation aussieht?
Ina Schmidt:
Ja, zumal auf den 3 Verantwortungsebenen auch verschiedenes Richtiges miteinander kollidieren kann. Verantwortungsvoll zu handeln heißt erst einmal nur, dass wir uns positionieren und versuchen, von unserem Standpunkt aus eine Antwort zu geben.
Der Philosoph beschreibt das sehr schön, wenn er sagt: »Das Wesentliche an der Verantwortung ist, dass wir uns als Menschen von guten Gründen leiten lassen können.« Wir sind in der Lage, die Position, von der aus wir eine Situation beurteilen und dann nach Handlungsoptionen suchen, zu formulieren und zu kommunizieren. So können wir uns mit anderen Menschen, die andere Gründe haben, verständigen und die eigene Position nachvollziehbar machen.
Ich habe in meinem Buch versucht, das mit dem Beispiel der Himmelsrichtungen zu illustrieren: Mein Sohn hat mich vor vielen Jahren einmal gefragt, in welcher Himmelsrichtung unser Haus steht. Als ich ihm gesagt habe, dass es darauf ankommt, wollte er sich damit nicht zufriedengeben, sondern sagte: »Ich möchte jetzt einfach nur ganz grundsätzlich wissen, in welcher Himmelsrichtung unser Haus steht!«
Das macht es schön plastisch: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine richtige Antwort zu geben. Das heißt aber nicht, dass jeder für sich willkürlich entscheiden kann, was richtig ist. Dieser Unterschied ist wesentlich.
Es hängt davon ab, wo ich stehe.
Ina Schmidt:
Genau. Wenn ich in München stehe, dann ist Norden eindeutig richtig. Wenn ich in Kopenhagen stehe, ist Süden eindeutig richtig. Und trotzdem kann ich mich verständlich machen, auf Basis der Gründe und der Erklärung der Position, aus der heraus ich eine Antwort gebe.
Es gibt auch Situationen, in denen man gemeinsam eine eindeutige Antwort finden muss, weil es naturwissenschaftliche Kriterien oder Erkenntnisse gibt, die so eindeutig sind, dass nur eine einzige Handlung verantwortungsbewusst sein kann. Oder weil wir keinen guten Grund finden können, der eine andere Perspektive rechtfertigt. Zum Beispiel gibt es keinen guten Grund für Gewalt gegen unschuldige Menschen oder die Zerstörung der Natur. Aber gerade in sozialen Praktiken gibt es immer wieder die Notwendigkeit, herauszufinden, von wo aus ich auf etwas schaue, um herauszufinden, was das Richtige ist. Diese Praxis ist es, die verantwortungsvolles Handeln auszeichnet.
»Wenn ich 24 Stunden am Tag damit beschäftigt bin, herauszufinden, was das Richtige ist, wird wahrscheinlich irgendwann mein soziales Umfeld darunter leiden«
Eine ziemlich komplexe Aufgabe. Mein tägliches Handeln hat so viele Berührungspunkte mit anderen Menschen. Es fängt damit an, wie ich mich bei der Arbeit einbringe, beim Umgang mit Freund:innen und Familie, bis hin zu meiner Freizeitgestaltung, meinem Konsum und den Konsequenzen, die er für andere Menschen hat – zum Beispiel für die Näherinnen, Wie weit erstreckt sich meine Verantwortung?
Ina Schmidt:
Es geht darum, zu überlegen, was in meiner Macht steht. An welchen Stellen meines Lebens kann ich tatsächlich wirksam sein? Wo habe ich rechtlich, moralisch oder eben auch in Form einer Rollenverantwortung die Möglichkeit, tätig zu werden, um wirklich etwas zu bewirken?
Macht es tatsächlich einen Unterschied, ob ich heute mit dem Auto oder mit dem Fahrrad fahre? Wahrscheinlich ist es immer besser, das Fahrrad zu nehmen. Aber die Frage ist trotzdem: An welcher Stelle könnte ich noch andere Möglichkeiten des Handelns finden? Wie will ich zur Reduktion der CO2-Belastung grundsätzlich beitragen? Vielleicht kann ich mich noch viel wirksamer einbringen, indem ich politisch tätig werde, mich einer Organisation anschließe. Indem ich mich insgesamt mehr darauf konzentriere, dafür zu sorgen,
Wie erkenne ich die Grenzen meiner eigenen Verantwortung?
Ina Schmidt:
Die Grenzen liegen darin, dass es das Menschenmögliche nicht nur auf rechtlicher, sondern auch auf persönlicher Ebene gibt. Wenn ich merke, dass ich 24 Stunden am Tag damit beschäftigt bin, herauszufinden, was das Richtige ist, dann wird wahrscheinlich irgendwann mein soziales Umfeld darunter leiden,
Auf der anderen Seite ist verantwortungsvolles Handeln aber eben auch etwas, was mit Übung, Überprüfung und Reflexion zu einer Gewohnheit werden kann. Ich kann mir überlegen: Was ist für mich das Wesentliche und wie richte ich dementsprechend meine Handlungen aus, damit ich nicht ständig über die Frage der Verantwortung nachdenken muss?
Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?
Ina Schmidt:
Wenn ich sage, mir ist es grundsätzlich wichtig, meinen Konsum zu überdenken, dann kann ich mich aus dem ständigen Grübeln befreien, indem ich nur ausgewählte Läden zum Einkaufen nutze und nicht ständig im Supermarkt versuche, bei jedem Produkt herauszufinden, ob ich das kaufen sollte oder nicht. Beim verantwortungsvollen Handeln geht es auch darum, wie ich mir Informationen beschaffe, die mein Leben ein Stück weit übersichtlicher machen.
Sie haben gesagt, dass es zu einer Belastung werden kann, wenn man sich zu viel mit der eigenen Verantwortung beschäftigt. Wenn ich hier also eine Auswahl treffen will – besteht dann nicht die Gefahr, dass ich Zusammenhänge ausblende, für die ich zwar auch Verantwortung trage, die ich aber im täglichen Leben nicht sehen muss?
Ina Schmidt:
Natürlich ist das eine Gefahr. Die meisten von uns werden ihre Streamingdienste weiter nutzen, obwohl sie wissen, Wir kaufen Dinge in Plastikverpackungen und wissen nicht immer genau, wo unser T-Shirt herkommt. Wir alle tun Dinge, die wir besser lassen sollten. Aber nur weil wir nicht perfekt sein können, heißt es nicht, dass wir nicht weiter Versuche starten und aus unserer Komfortzone herauskommen können.
Wir sollten uns auf Dinge fokussieren, von denen wir glauben, dass wir sie gut in unser Leben integrieren können. Welches Maß an verantwortungsvollem Handeln kann ich in meinem Leben gut umsetzen, ohne mir ständig Vorwürfe und Gewissensbisse machen zu müssen? Das heißt nicht, dass ich deswegen ausblende und verdränge, sondern dass ich versuche, bestimmte Bereiche zu akzentuieren.
Es gibt auch Menschen, die sagen, ich schaffe das einfach nicht. Ich würde gerne verantwortungsvoll handeln, aber ich kriege es einfach nicht hin. Das ist eine andere Haltung, als zu sagen: Es macht sowieso alles keinen Sinn. Man kann sich auf die Suche nach den Gründen machen und fragen: Was kann ich schaffen? Und wo gibt es Verbindungen zu Menschen, die mir dabei helfen könnten? Das ist ein anderer Zugang, als sich ständig durch Vorwürfe, Kritik und Empörung lähmen zu lassen.
Wir müssen versuchen, in unserer Unvollkommenheit im Gespräch zu bleiben und die Möglichkeiten, die wir haben, zu weiten.
Verantwortung als Privileg
Sie sagen, dass es ein Privileg ist, sich für verantwortungsvolles Handeln entscheiden zu können. Was meinen Sie damit? Und heißt das umgekehrt, dass das in einer unterprivilegierten Situation nicht geht?
Ina Schmidt:
Verantwortung ist die Suche nach einer Antwort, das steckt ja schon im Wort. Es bedeutet einen ernst gemeinten Aufbruch in die Suche nach einer ernst zu nehmenden Antwort. Es bedeutet, zu versuchen, das Gute zu erreichen.
Wenn wir das so herunterbrechen, dann braucht es natürlich bestimmte Voraussetzungen, sich zu drängenden Fragen zu Wort melden zu können. Und um diese Antwort für sich persönlich, aber vielleicht auch in einem größeren Diskurs, überhaupt geben zu können. Sie brauchen ein bestimmtes Wissen und Fähigkeiten, um mit diesem Wissen umzugehen. Die Bedingungen dafür gilt es herauszufinden. Es muss nicht immer ein materieller Wohlstand sein, aber um sich mit manchen Dingen beschäftigen zu können, braucht es Zeit, Bildung, die Möglichkeit, sich von anderen Themen nicht ablenken oder unterbrechen zu lassen.
Was ich mit dem Privileg meine, ist das, was der Philosoph mit dem Begriff der Macht beschreibt – mit dem Begriff der Machbarkeit. Ich kann viele Dinge wollen, möglicherweise aber nicht ändern. Die beiden Kapitäne hatten die Entscheidungsfähigkeit, die Zuständigkeit und die Kompetenz, in einer bestimmten Situation verantwortlich handeln zu können.
Wie kommen wir zu dieser Entscheidungsfähigkeit? Wann wissen wir genug, um eine verantwortungsbewusste Entscheidung treffen zu können?
Ina Schmidt:
Meist gibt es 2 verschiedene Zugänge: Auf der einen Seite gibt es Situationen, in denen ich dem Wissen anderer vertrauen und Experten heranziehen muss, von denen ich annehme, dass sie das, was sie da tun, verstehen. »Dass wir auf Kosten von kommenden Generationen den Planeten derartig ausbeuten, dass ein wohlständiges Leben in Zukunft nicht mehr möglich ist, ist verantwortungslos!«
Ich werde nicht in der Lage sein, die Inhalte so zu hinterfragen, dass ich jeden einzelnen Wissensbaustein oder jede Information persönlich beurteilen kann. Bei diesem Zugang geht es darum, Vertrauen in bestimmte Quellen aufzubauen.
Auf der anderen, moralischen Ebene kommt uns immer das zu Hilfe, was ich, abgeleitet von David Hume, als »Moral Sense« beschreibe. Ganz oft wissen wir eigentlich, was zu tun ist. Wir haben so etwas wie ein Gespür, einen Sinn, ein Empfinden für das Richtige. Obwohl wir uns auch selbst gerne mal in die Tasche lügen.
Die Frage ist: Wie sehr hören wir darauf, wie mischen wir diese beiden Möglichkeiten, wenn wir eine Frage haben, die uns nicht mehr loslässt? Oder wenn wir uns in einer Situation befinden, in der wir uns eigentlich aufgerufen fühlen, etwas zu tun, uns aber in dem Versuch abmühen, uns die Sache vom Leib zu halten? Unser moralisches Empfinden sollten wir als Motivationsgrund für verantwortungsvolles Handeln ernster nehmen.
Dieses Gespür für das eigene Wissen wird uns aber doch eher abtrainiert. Kinder haben manchmal den Impuls, allen Menschen helfen zu wollen, die so aussehen, als würden sie Hilfe benötigen – obdachlosen Menschen zum Beispiel. Als Erwachsene nehmen wir viel Elend um uns herum als normal hin. Ist das nicht verantwortungslos?
Ina Schmidt:
Warum helfen wir Menschen vor der Haustüre, aber nicht am anderen Ende der Welt? Wenn wir Menschen retten sollen, dann dürfte es keinen Unterschied machen, ob sie in Hamburg wohnen oder ob sie in Bangladesch zu Hause sind. Und trotzdem machen wir diesen Unterschied. Wenn ich jemandem auf der Straße helfen möchte, dann ist es etwas anderes, als wenn ich meiner Nachbarin helfe, meinem Kind oder meinen Eltern. Auch in dieser Frage geht es um den Bereich der moralischen Wirksamkeit. Obwohl ich nicht allen helfen kann, kann ich natürlich immer Einzelnen helfen. Aber wie wähle ich das aus?
Sie sagen, dass uns das abtrainiert wird. Das hat natürlich damit zu tun, dass es nicht möglich sein kann, alle Obdachlosen zu mir nach Hause einzuladen. Wir wägen nicht nur ab, was das Richtige, sondern auch was das Mögliche ist.
Wie erklärt man das einem Kind?
Ina Schmidt:
Wir können darüber sprechen oder in diesem Moment etwas spenden, einen heißen Kaffee kaufen, statt peinlich berührt weiterzuziehen.
Das löst nicht das grundsätzliche Problem, aber gerade mit Kindern lässt sich sehr gut darüber nachdenken, wie man in der Welt Gutes tun und wie man für Menschen da sein kann.
Warum Verantwortung nicht immer nur anstrengend ist
Ist die Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein eine individuelle oder eine gesellschaftliche Aufgabe?
Ina Schmidt:
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz hat gezeigt, dass nur die natürlichen Personen, Also nur Einzelpersonen, die sich auf den Weg gemacht und sich als Individuen an eine Institution gewandt haben. Eine Institution, die auf der rechtlichen Ebene dafür zuständig ist, eine verantwortungsvolle Praxis für die Zukunft zu entscheiden, die dann für wirtschaftliche und politische Entscheidungen verbindlich ist.
Das Urteil finde ich ein unglaublich schönes Beispiel dafür, wie sich Wirksamkeit vergrößern kann. Die Entscheidung zwischen Auto und Fahrrad ist eine Ebene, aber ich kann in diesem Staat bestimmte Rechte einfordern. Ich kann mich an Gerichte wenden, die auf einer institutionellen Ebene dafür sorgen können, dass sich Dinge verändern. Das wird nicht immer funktionieren, aber es ist den Versuch wert.
Mit welcher Begründung sollten wir überhaupt Verantwortung für die Zukunft übernehmen, zum Beispiel dafür, dass wir einen bewohnbaren Planeten hinterlassen?
Ina Schmidt:
Es gibt Argumente dafür, dass wir keine Verantwortung für die Zukunft übernehmen können, weil wir nicht wissen, welche konkreten Akteure in der Zukunft bestimmte Probleme lösen werden müssen. Wir können nichts ausrichten für eine Welt, die es noch gar nicht gibt.
Diese Argumentation bleibt aber sehr theoretisch, weil uns das Grundgesetz heute schon rechtlich dazu verpflichtet, für eine Zukunft zu sorgen, die ein ökologisches Existenzminimum sichert. Dass wir auf Kosten von kommenden Generationen den Planeten derartig ausbeuten, dass ein wohlständiges Leben in Zukunft nicht mehr möglich ist, ist verantwortungslos. Es gibt bestimmte Grundbedingungen: die Luft zum Atmen, ein unbelasteter Boden, die Möglichkeit, sich an Rohstoffen zumindest so zu bedienen, dass ein ähnlicher Wohlstand wie unserer möglich ist, wenn auch vielleicht etwas schonender und weniger ausbeuterisch. Das alles gehört zu einer humanistischen Grundvorstellung davon, dass wir als Menschen verantwortlich für das sind, was über uns hinausreicht.
Verantwortung »tragen« wir oder wir »müssen sie schultern«. Ist Verantwortung wirklich so anstrengend?
Ina Schmidt:
Ich habe mein Buch »Die Kraft der Verantwortung« genannt, weil ich glaube, dass mit verantwortungsvollem Handeln schon eine Anstrengung verbunden ist, die Kraft braucht. Aber auch Kraft spendet. Viele Menschen, die sich intensiv ihrer Profession widmen, können bestätigen, dass eine bestimmte Form von Anstrengung unglaublich beflügeln kann und einem nicht immer nur schwer auf den Schultern liegt. Denken Sie an Langstreckenläufer, Bergsteiger oder Feuerwehrleute, aber auch Menschen, die sich geistig oder sozial sehr engagieren. Das ist immer mit Anstrengung verbunden, aber sie führt meist zu etwas, was wir als bereichernd erleben, zu einer Erfahrung von Sinn und Wirksamkeit.
Das, was daran Kraft gibt, ist ja gerade die Tatsache, dass es nicht allein um mich und mein Wohl geht, sondern dass ich an einer gemeinsamen Sache arbeite, dass ich über mich hinaus für das Gute sorgen kann.
Ich würde mir wünschen, dass mein Buch dazu anregt, sich zu fragen: Wie kann ich der Unzufriedenheit, die mir in meinem Leben zu schaffen macht, begegnen, indem ich mich frage, – und damit wirklich in Beziehung zu Dingen und Menschen trete, die mir wichtig sind?
Sie haben angesprochen, dass verantwortungsvolles Handeln eine Gewohnheit ist, etwas, was wir üben müssen. Wie können wir das am besten in unseren Alltag integrieren?
Ina Schmidt:
Ich glaube, dass es damit beginnt, sich in seinem Denken und Handeln selbst zu überprüfen. Das ist nicht einfach, aber wir können sofort damit anfangen. Es ist möglich, sich mit dem, was jeden Tag auf der To-do-Liste steht, neu zu beschäftigen, zu fragen: Was tue ich hier eigentlich? Und warum tue ich das?
Und zwar ohne dass es sofort verändert werden muss. Es geht eher um ein Verstehen, einen ehrlicheren Umgang zu sich selbst, der auch die eigenen Ängste und Schwächen nicht auslässt: Wie treffe ich Entscheidungen? Wie gehe ich mit Menschen um? Warum ist mir dieses oder jenes wichtiger als etwas anderes? Wie gehe ich mit Gefühlen der Überforderung um? Warum belastet mich etwas? Und wenn ich keine Antworten finde: Wen kann ich dazu fragen?
Dieser Impuls, wirklich mal einer Frage nachzugehen und das im besten Fall mit anderen Menschen, bringt manchmal Möglichkeiten zutage, von denen wir gar nicht glauben, dass sie im eigenen Denken schon zur Verfügung stehen.
Dieser Artikel ist Teil des journalistischen Projekts »Tu, was du für richtig hältst!«, das dir helfen soll, dein Verhalten mit deinen Idealen in Einklang zu bringen. Um mehr darüber zu erfahren und herauszufinden, wie groß die Lücke zwischen deinen Idealen und deinem Verhalten ist, klicke hier! Das Projekt erfolgt in Kooperation mit dem Wuppertal Institut (WI) und wird gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.