Für diese Menschen ist Corona längst nicht vorbei. Was wir über Long Covid wissen
Die Covid-Spätfolgen könnten in Deutschland Hunderttausende treffen. Was hilft ihnen, zurück ins Leben zu finden?
Eine Studentin, die Texte liest, sie aber nicht mehr versteht. Ein ehemaliger Triathlet, der nach einer halben Stunde Gehen völlig ausgelastet
Das sind nur 3 Beispiele von Menschen, die sich nach einer Coronainfektion nicht mehr so richtig erholt haben. »Long und Post Covid« haben sich als Begriffe dafür etabliert. Je nach Studie klagt etwa eine:r von 10 Infizierten über diffuse Symptome, die auch nach Ende der Erkrankung
Doch wie groß könnte das Problem Long Covid noch werden? Und was können Ärzt:innen bereits jetzt tun, um Betroffenen zu helfen? Um das herauszufinden, haben wir mit 2 Menschen gesprochen, die gerade jeden Tag daran arbeiten, Patient:innen mit Long Covid zu helfen – und die genau wissen, welche Herausforderungen uns noch bevorstehen.
»Menschen sitzen weinend vor mir«
Jördis Frommhold ist
Auch wenn sich die
Es liegt mir völlig fern, Panik zu verbreiten. Aber der Mensch hat ein Recht auf Aufklärung. Wir haben teilweise Patienten gesehen, die nicht mehr in der Lage sind, ihr Studium zu machen, die keine kompletten Sätze mehr bilden oder ihrem Beruf nachkommen können.
Frommhold erzählt von einer Dialyse-Krankenschwester, die mit 40 Jahren plötzlich ihre Küche überflutet, weil sie den Wasserhahn aufgedreht und vergessen hat. Von einer Erzieherin, die sagt, sie habe Angst, wieder zu arbeiten, weil sie nicht mehr wisse, welche Kinder zu ihrer Gruppe gehören, und sie nicht merken würde, wenn eines fehlt. »Diese Leute sagen, sie können weder ihrem Körper noch ihrem Geist trauen«, so Frommhold.
Es könnte Hunderttausende Betroffene geben
Wie viele Long-Covid-Fälle es in Deutschland aktuell gibt, ist nicht sicher, noch sind sie nicht zentral dokumentiert. Das Ausmaß der zweiten und dritten Coronawelle in Deutschland wird sich wohl erst in den kommenden Monaten zeigen. »Es gibt Studien, die sagen, man müsse bei etwa 10–20% der Infizierten mit Long- oder Post-Covid-Symptomen
Frommholds Schätzung geht von 10% der Coronainfektionen aus, die bislang in Deutschland registriert
Jung zu sein schützt nicht vor Long Covid
Long-Covid-Symptome treffen häufig Menschen, die mit der Infektion selbst keine allzu großen Probleme hatten. Das weiß auch Daniel Vilser. Der Kinderkardiologe leitet an der Uniklinik Jena eine Long-Covid-Ambulanz für Kinder, also für genau die Altersgruppe, bei der sich viele Menschen bislang weniger Sorgen um die Folgen einer Covid-Erkrankung gemacht haben.
Vilser berichtet uns von einem 14-jährigen Mädchen ohne jegliche Vorerkrankungen, das mit Schwindel und diffusen Erschöpfungssymptomen in die Klinik kam. Ihre Mutter musste sie mit dem Rollstuhl ins Krankenhaus schieben.
Später stellte sich heraus, dass sie unter den Folgen ihrer Covid-19-Erkrankung litt – auch wenn diese fast vollständig ohne Symptome verlaufen war. Damit ist sie nicht allein. Fälle wie diese beobachteten Vilser und sein Team immer häufiger. Weil die diffusen Beschwerden oft die Zusammenarbeit mehrerer Fachbereiche erfordern, eröffneten Vilser und seine Kollegen eine der ersten Covid-19-Ambulanzen für Kinder. Noch sind die Ressourcen knapp, etwa 5 Kinder pro Woche können er und das Team in Jena begutachten, die Liste der Anfragen sei deutlich länger.
Was Vilser und Frommhold berichten, macht deutlich, wie wichtig es ist, Long Covid nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Betroffene haben es verdient, dass man sie ernst nimmt
Während
Besonders bei Kindern würden die diffusen Symptome häufig als Lockdown-Folgen abgetan, sagt Daniel Vilser. In einigen Fällen trifft das zu, in vielen anderen jedoch nicht. Auch erkrankte Erwachsene stoßen noch zu oft auf Unverständnis, so Jördis Frommhold. Sie spricht unter anderem viel mit Medien, um das zu ändern.
Ein Punkt, der Frommhold wichtig ist: Die Folgen einer Corona-Erkrankung unterscheiden sich von Patient:in zu Patient:in. Zwar wird in der Öffentlichkeit oft allgemein von Long oder Post Covid gesprochen, doch bei genauerem Hinsehen lassen sich Genesene in 3 Gruppen einteilen:
- Tatsächlich Genesene: Dazu zählen Patient:innen mit milden Verläufen, die sich erholt und die Krankheit überwunden haben. Diese Gruppe ist die größte.
- Post-Covid-Patient:innen: Das umfasst Patient:innen mit schweren Verläufen, die länger beatmet wurden und nun Symptome haben, die mit dem schweren Krankheitsverlauf zusammenhängen: Schwere Atmung, Neigung zu Hyperventilation oder auch neurologische Schäden. Diese Patient:innen hätten gute Chancen, durch Reha-Maßnahmen wieder 80–90% ihrer Leistungsfähigkeit zurückzuerlangen, so Frommhold.
- Long-Covid-Patient:innen: Menschen dieser Gruppe hatten oft milde bis moderate Verläufe und waren nicht auf der Intensivstation. Sie entwickeln im Abstand von 1–4 Monaten neue Symptome, die von starker Erschöpfung bis hin zu chronischen Entzündungen reichen.
»Diese dritte Gruppe macht mir deutlich mehr Sorgen als die anderen, weil sie praktisch unter dem Radar fliegt. Diese Patient:innen haben kaum Anlaufstellen«, sagt Frommhold. Während Post Covid alle schwer Erkrankten treffen könne, sei es bei Long Covid anders. »Betroffen sind meist Menschen zwischen 20 und 50,
Manchmal erfordert es Durchhaltevermögen, mit seinen Beschwerden überhaupt ernst genommen zu werden. Ein Problem: Gerade die Erschöpfungssymptome werden oft als depressive Beschwerden missdeutet. Betroffene von ME/CFS kennen das seit Jahrzehnten und kämpfen dafür, dass ihre Krankheit stärker erforscht und Therapieansätze entwickelt werden. Immerhin gehen Schätzungen von 240.000–300.000 Betroffenen in Deutschland aus. Die Fatigue ist oft eine Folge von Infektionskrankheiten wie der Grippe, dem Epstein-Barr-Virus oder jetzt eben Covid-19.
»Long Covid ist aktuell eine Ausschlussdiagnose«, sagt Daniel Vilser. Das heißt: Wenn es keine andere Erklärung gibt und eine Coronainfektion nachweisbar war, ist es vermutlich Long Covid. Nicht immer wissen Menschen mit Long-Covid-artigen Beschwerden jedoch, dass sie eine Coronainfektion hatten. »Das Wichtigste ist, dass die Wahrnehmung geschärft wird: Wenn es Symptome gibt, sollte man mit dem Arzt sprechen und nach Antikörpern suchen«, sagt Daniel Vilser. Das gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.
Ist die erste Hürde genommen – nämlich das Erkennen der Krankheit –, stellt sich die Frage, was Ärzt:innen dagegen unternehmen können.
Lässt sich Long Covid behandeln?
Bisher stehen die Behandlungsansätze noch am Anfang.
Wer zu Jördis Frommhold nach Heiligendamm kommt, hat die erste große Hürde bereits hinter sich gebracht. »Wir haben 120 Betten zur Verfügung und sind seit Monaten überbelegt«, sagt Frommhold. Waren vor einem Jahr noch 10–15% der Betten im Rehazentrum mit Long-Covid-Patient:innen gefüllt, sind es heute 80–90%.
Oft geht es in der Reha-Therapie nicht ausschließlich darum, durch Atem- und Konditionsübungen die Leistung zu verbessern, sondern sich in dem neuen Leben einzurichten, in dem einfach nicht mehr so viel möglich ist wie zuvor. Das gilt besonders für die Menschen, die mit Erschöpfungssymptomen und neurologischen Problemen zu kämpfen haben.
Die neuen Einschränkungen müssen oft psychologisch begleitet werden
Wenn es für junge Menschen plötzlich zur Herausforderung wird, einen gelesenen Text zu verstehen oder eine Treppe in einem Anlauf zu erklimmen, hat das meist auch psychische Folgen. »Wir müssen diesen oft jungen Menschen erklären, dass das ein chronisches Krankheitsbild ist, für das es im Moment keine medikamentöse Therapie gibt«, sagt Frommhold. In einer
Gerade junge Menschen wollen das nicht wahrhaben, sie kommen oft aus einer guten sozialen Situation heraus, sind berufstätig gewesen und wollen dahin wieder zurück. Sie wollen eben wirklich genesen sein. Für viele ist es sehr schwer zu akzeptieren, dass das nicht immer geht. Deshalb ist auch psychologische Unterstützung sehr wichtig.
Zum Reha-Programm im Covid-Zentrum in Heiligendamm gehört es deshalb zu lernen, sich nicht zu überfordern und Auszeiten einzuplanen. »Besonders an guten Tagen haben Patient:innen das Gefühl, sie müssten auf einmal alles aufholen und an einem Tag erledigen – und dann geht es ihnen an den nächsten 5 Tagen umso schlechter«, erklärt Frommhold.
Um Menschen zu helfen, denen es schwerfällt, mit den eigenen Leistungsminderungen umzugehen, ist auch die gesellschaftliche Akzeptanz von derartigen Erschöpfungssymptomen wichtig –
Die Suche nach einem Medikament
Neben Akzeptanz bleibt aber die Suche nach Heilmitteln essenziell – denn auf vielen Betroffenen lastet ein hoher Leidensdruck. Doch um ein Medikament zu finden, ist mehr Forschung nötig. »Wir hoffen beispielsweise, dass wir vielleicht einen
Das derzeitige Problem: Es braucht mehr Arbeitskraft und mehr Geld, um mehr herauszufinden.
Ich stehe momentan vor der Entscheidung, ob ich den Kindern und Eltern helfe, die gerade mit akuten Problemen zu mir kommen. Oder ob ich meine Zeit damit verbringe, Anträge für Fördermittel für die Forschung zu schreiben – und bislang habe ich mich lieber für die Direkthilfe entschieden. Aber natürlich müssen wir unsere Daten auch irgendwann auswerten. Nur wenn wir mehr wissen, können wir die Patienten optimal behandeln.
Passiert also noch zu wenig, um dem Problem Long Covid gerecht zu werden?
Das muss passieren, um Betroffenen noch besser zu helfen
Selbsthilfegruppen wie
- Einrichtung von Long-Covid-Kompetenzzentren: Hier soll die Erkrankung erforscht und behandelt werden.
- Schaffung eines bundesweiten Netzwerks von Mediziner:innen: Im Netzwerk sollen sich die Fachleute über neue Erkenntnisse aus Forschung und Praxis austauschen können.
- Die zentrale Erfassung von Betroffenen in einem Register: Diese Maßnahme soll helfen, einen besseren Überblick über die Lage zu erhalten.
- Bündelung von Ressourcen für Erforschung und Behandlung von ME/CFS und Long Covid: So können am Ende noch mehr Menschen von der Forschung profitieren.
»Ganz wichtig ist: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. In allen Medien. Und ärztliche Fortbildung«, sagt Jördis Frommhold. Aber kommt an, was sie und ihre Kolleg:innen fordern?
Mittlerweile hat auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung Maßnahmen ergriffen, um die Forschung an Long Covid voranzutreiben, und
Etwa für das
In anderen Ländern wird noch mehr Geld in die Hand genommen: Das US-amerikanische National Institute of Health will zum Beispiel
Auch wenn die Forschung noch etwas Zeit braucht, bleibt sie relevant
Viele der geplanten Forschungsprojekte werden allerdings erst in einigen Jahren Ergebnisse liefern. Zu spät? »Weil Long Covid nicht heilbar ist, wird die Forschung lange relevant bleiben – der Optimalfall wäre, wenn wir die Mechanismen hinter der Entstehung der Krankheit verstehen und ein Medikament entwickeln könnten«, sagt Frommhold.
Die Fortschritte sind dabei nicht nur für Betroffene in Deutschland wichtig. »Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie in allen Ländern vorbei ist.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily