»Ich kann aussprechen, was sich die Parteien nicht trauen«
Lu Yen Roloff blockierte mit Extinction Rebellion die Straßen Berlins. Jetzt will sie das politische System von innen heraus verändern – und tritt als freie Kandidatin zur Bundestagswahl an.
23. August 2021
– 11 Minuten
Am 26. September ist Bundestagswahl – an diesem Tag entscheidet sich, welche Menschen künftig im Parlament sitzen und die Politik des Landes in den nächsten Jahren mitgestalten werden. Zur Wahl stehen nicht nur erfahrene Politiker:innen, sondern auch Menschen, die zum ersten Mal gewählt werden wollen. Manche haben gute Chancen, über Listenplätze in den Bundestag einzuziehen, andere müssen sich als Direktkandidat:innen in ihren Wahlkreisen behaupten. Wir stellen euch in den kommenden Wochen einige dieser Menschen vor. Was sind ihre Ziele und Hoffnungen? Was motiviert sie, Politik zu machen? Die Gründe sind so vielfältig wie die Parteifarben der Bewerber:innen.
Dass es in Deutschland auch die Möglichkeit gibt, ganz ohne Partei in den Bundestag gewählt zu werden, möchte mit ihrer Kandidatur beweisen. Bis vor Kurzem war sie Vollzeitaktivistin bei und hat die Bewegung in Deutschland mit aufgebaut. Jetzt tritt sie in Potsdam als unabhängige Direktkandidatin an – im selben Wahlkreis wie Annalena Baerbock und Olaf Scholz. Während unseres Videointerviews ist sie gerade in ihrem Büro im Rechenzentrum, einem der letzten DDR-Bauten in der Potsdamer Innenstadt, die als Kultur- und Kreativzentrum genutzt wird. Im Gespräch erzählt sie davon, wie die Arbeit in der Klimabewegung sie geprägt hat, warum sie nicht bei den Grünen ist und welche Veränderungen sie sich für unsere Demokratie wünscht.
Bevor du dich entschlossen hast, für den Bundestag zu kandidieren, warst du in der Klimabewegung aktiv. Wie bist du damals dazu gekommen?
Lu Yen Roloff:
Zuerst war ich bei Greenpeace angestellt. Da dachte ich, ich rette beruflich die Welt. Als ich aber einmal zusammenstellen sollte, hatte ich plötzlich 20 Seiten voller Fakten vor mir, jeder Satz ein Schlag in die Magengrube: Wir töten 79 Milliarden Tiere jedes Jahr. Es gibt mehr Plastikteile im Ozean als Sterne in der Galaxie. Und immer so weiter. Da saß ich völlig erschlagen vor dem Rechner und Ich hatte das Gefühl: Dagegen kommt auch eine der größten Umweltorganisationen der Welt nicht an.
Und dann?
Lu Yen Roloff:
Im November 2018 habe ich Extinction Rebellion (XR) entdeckt, als sie ihre ersten Brückenblockaden in London gemacht haben. Dass Menschen konsequent handeln, leisten und das alles kreativ und bunt, hat mich wahnsinnig gereizt. Deshalb habe ich mich im Februar 2019 der Lokalgruppe in Hamburg, wo ich damals gewohnt habe, angeschlossen.
Wie unterscheidet sich die Arbeit von Greenpeace und XR?
Lu Yen Roloff:
Greenpeace ist keine Graswurzelbewegung, sondern eine Kampagnenorganisation. Auch wenn sich Aktivist:innen ehrenamtlich engagieren, steckt eine hierarchische Struktur mit vielen Ressourcen dahinter. An XR fand ich so spannend, dass es ganz normale Leute sind – Mütter, Opas, Jugendliche. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die sich als Privatpersonen entschließen, nicht länger zuzusehen, wie sich die Klimakrise weiter entfaltet und die Welt den Bach runtergeht.
XR ist dezentral organisiert mit vielen kleinen Gruppen. Teilweise wissen die einen nicht, was die anderen machen und trotzdem ergibt es am Ende ein großes Ganzes. Es ist außerdem sehr niedrigschwellig, jede:r kann mitmachen.
Ziviler Ungehorsam und eine Kandidatur für den Bundestag sind 2 fast gegensätzliche Herangehensweisen. Wie passt das zusammen?
Lu Yen Roloff:
Ohne Corona wäre ich auf jeden Fall weiter bei XR geblieben. Wir hatten gerade eine Aktion in Brüssel geplant, mit Gruppen aus ganz Europa, doch dann kam der Lockdown. Deswegen wusste ich: Das Thema Pandemie begleitet uns mindestens ein halbes Jahr, massenhafter ziviler Ungehorsam wird in nächster Zeit nicht möglich sein. Aber gleichzeitig drängt eben die Zeit. Deswegen habe ich überlegt, welche politischen Hebel ich als Individuum noch habe.
Warum bist du nicht einfach einer Partei beigetreten?
Lu Yen Roloff:
Ich wollte den Spirit der Bewegung mit in den Wahlkampf nehmen. Als parteiunabhängige Kandidatin habe ich ganz andere Möglichkeiten, mich auszudrücken. Es gibt für mich keinen keine Parteidisziplin, ich muss mich mit keiner Abteilung abstimmen. Ich kann also weiterhin wie bei XR die Wahrheit sagen und zum Beispiel aussprechen, Es sagt auch keine:r, dass wir in Deutschland schon bei Dass dementsprechend ein Plan, das 1,5-Grad-Limit mit einer Klimaneutralität bis 2045 einzuhalten, rein mathematisch nicht aufgehen kann.
»Wir müssen uns vollständig transformieren: anders leben, anders arbeiten, anders kollaborieren«
Ich habe schon das Gefühl, dass die Klimakrise bei den meisten Parteien ein wichtiges Wahlkampfthema ist.
Lu Yen Roloff:
Trotzdem höre ich selbst von den Grünen viel zu wenig darüber, wie ernst die Lage tatsächlich ist. Wir haben in den letzten Wochen einen Einschlag nach dem nächsten erlebt: bei der viele Menschen gestorben sind und ein ganzes Dorf abgebrannt ist. Der das
Mir fehlt die Dringlichkeit, das Alarmschlagen. Das Anerkennen, dass die Klimakrise an manchen Orten schon eine Katastrophe ist. Das fehlt mir in jeder Partei. Ich hoffe, mit meiner Kandidatur Menschen nicht nur das Thema Klima nahezubringen, sondern allgemein auf die Alle natürlichen Lebensgrundlagen – Wälder, Wasser, sind ja gefährdet.
Mit welchen Lösungen kommen wir deiner Meinung nach aus diesen Krisen wieder heraus?
Lu Yen Roloff:
Wir müssen uns vollständig transformieren: anders leben, anders arbeiten und uns weiterbilden, anders verreisen, anders essen und auch anders miteinander kollaborieren. Das schaffen wir aber nur, wenn wir viele Menschen an der Transformation beteiligen und neue gemeinsame Ziele für die Gesellschaft definieren. Wir müssen alle Gesellschaftsbereiche am Umwelt- und Klimaschutz dürfen nicht gegen soziale Belange ausgespielt werden.
Deshalb brauchen wir auch ein Die Leute, die Politik machen, sind nicht vielfältig genug. Das Durchschnittsalter ist zum Beispiel viel höher als das der Gesellschaft.
Was ist mit der im Juni auf Bundesebene gegründeten Partei ? Deren Ziele klingen deinen sehr ähnlich.
Lu Yen Roloff:
Inhaltlich kann ich mich allem, was die Klimaliste sagt, anschließen. Ich finde es auch eine super Initiative, die auf kommunaler und Landesebene das Richtige ist. Versuche, bundesweit eine Partei zu etablieren und über die 5%-Hürde zu kommen, sind in den letzten 10 Jahren aber meist gescheitert. Ich sehe die Gefahr, dass diese Stimmen am Ende der progressiven Mehrheit fehlen.
Anmerkung der Redaktion: Inzwischen hat die Klimaliste Deutschland Direktkandidat:innen gekürt. Als Bundespartei mit Landeslisten tritt sie nicht an.
Wenn dir Leute ihre Stimme geben, besteht diese Gefahr nicht?
Lu Yen Roloff:
Das Direktmandat, das ich anstrebe – die Bewerbung um die Erststimme –, kann keinen großen Schaden anrichten. Ich kandidiere gegen Annalena Baerbock und Olaf Scholz, die beide auf ihrer jeweiligen Landesliste auf Platz 1 stehen und so automatisch im Bundestag landen. Die Erststimme kann eine Art Joker sein, relativ risikolos eine Alternative zu wählen. Mir geht es mit meiner Kandidatur auch darum, den Menschen zu zeigen, dass es in unserer Demokratie andere Möglichkeiten im Bundestagswahlkampf gibt. Auf kommunaler Ebene sehen wir bereits immer mehr parteilose Es gibt also wenig zu verlieren und viel zu gewinnen.
»Nur 2% der deutschen Gesellschaft sind in Parteien organisiert«
In den Bundestag haben es allerdings das letzte Mal 1949 geschafft, bei den ersten Wahlen nach dem Krieg.
Lu Yen Roloff:
Ich glaube, die Zeit für parteilose Kandidat:innen, diesen Anlauf zu wagen, war nie besser als jetzt. Die großen Parteien, CDU und SPD, sind inzwischen richtige Scheinriesen. Sie haben in den letzten Jahrzehnten die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Nur 2% der deutschen Gesellschaft ist in Parteien organisiert. Das ist superwenig dafür, dass diese Parteien die Lebensgrundlagen und Regeln für uns bestimmen. Aber was machen sie zwischen den Wahlen? Hier braucht es neue Angebote, Demokratie lebendig zu machen.
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Wieso bist du in diesen prominenten Wahlkreis gezogen, in dem ausgerechnet auch Annalena Baerbock und Olaf Scholz antreten?
Lu Yen Roloff:
Ich wollte aus Hamburg weg und habe gleichzeitig einen Ort gesucht, an dem ich kandidieren kann. Ich habe einen Freundeskreis hier in Potsdam, war ständig zu Geburtstagen, an verlängerten Wochenenden, über Silvester zu Besuch. Potsdam ist wunderschön, Brandenburg und die Nähe zu Berlin gefallen mir. Es war zunächst eine private Entscheidung. Dann habe ich strategisch geschaut, wo die SPD und CDU unter 30% gerutscht sind. Das bedeutet, dass das Direktmandat mit ca. 50.000 Stimmen gewonnen werden kann.
Olaf Scholz war, bevor ich mich für den Umzug entschieden habe, mal mein Bürgermeister in Hamburg. Dass er in Potsdam wohnt, wusste ich bis zu seiner Kandidatur gar nicht. Annalena Baerbock war schon hier, aber noch nicht Kanzlerkandidatin. Als das bei beiden bekannt wurde, habe ich erst gezweifelt, ob ich meine Kandidatur weiterverfolgen soll. Aber dann haben mein Team und ich uns dafür entschlossen, weil viel Aufmerksamkeit auf unserem Wahlkreis liegt und wir diese Plattform nutzen können, um eine andere Art von Politik bekannt zu machen.
50.000 Stimmen zu erhalten, könnte in diesem Wahlkreis aber besonders schwierig sein. Ist deine Kandidatur eher symbolisch zu verstehen?
Lu Yen Roloff:
Nein, definitiv nicht. Es verbessert auf jeden Fall meine Chancen nicht, wenn mich die Presse von vornherein »Die chancenlose Kandidatin« nennt. Dass die politische Berichterstattung auf Spitzenkandidat:innen fokussiert ist, ist auch ein Problem. Der Sieg wird mir natürlich nicht auf dem Silbertablett gereicht, aber er ist grundsätzlich möglich. Und deswegen lohnt sich der Versuch!
So wählte Potsdam bei der letzten Bundestagswahl
Im Jahr 2017 gewann die SPD das Direktmandat im Wahlkreis 61 (Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II).
Positionierst du dich im Wahlkampf gegen Annalena Baerbock oder siehst du sie aufgrund ihrer Inhalte doch eher als Verbündete?
Lu Yen Roloff:
Ich möchte viel lieber eine junge Frau als Kanzlerin haben als einen Armin Laschet oder Olaf Scholz. Deshalb sehe ich mich eher als Unterstützung für sie. Wir haben unterschiedliche Rollen. Ich kann das formulieren, was sie nicht formulieren kann – zum Beispiel, – und so den Raum des Sagbaren erweitern.
Bei all den Herausforderungen, die wir vor uns haben, halte ich diesen Kampf der Parteien gegeneinander für nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen parteiübergreifende Lösungen und müssen die besten Lösungen zusammentragen.
Wie möchtest du die Menschen konkret erreichen und von dir überzeugen?
Lu Yen Roloff:
Wir haben einen Wahlstand entwickelt, der in ein E-Lastenrad passt und mit dem wir durch den Wahlkreis fahren. Wir haben verschiedene Mitmachelemente, zum Beispiel ein Bodenplakat, auf dem der ganze Wahlkreis abgebildet ist. Die Leute können überlegen, was ihre Themen sind, und sie auf dem Plakat verorten. Außerdem wollen wir Menschen dazu ermutigen, auf Wahlveranstaltungen anderer Kandidat:innen organisiert aufzutreten und kritische Fragen zu stellen.
Generell orientieren wir uns an Methoden, die aus dem Gewerkschaftskontext stammen oder bei den Kampagnen von Barack Obama, Bernie Sanders und schon lange praktiziert wurden. Es geht darum, dass sich jede:r im Wahlkampf einbringen kann, der:die möchte, ohne sich vorher 10 Jahre in einer Partei hochdienen zu müssen. Alle können Flyer verteilen, an Haustüren klingeln, Menschen anrufen oder mit persönlichen Kontakten über Politik sprechen. Jeder Mensch hat Ressourcen, Kontakte, Zeit, Geld – damit können wir Politik einfach machen.
Benjamin Fuchs hat mit Noreen Thiel gesprochen, die im Ostberliner Bezirk Lichtenberg für die FDP in den Bundestag gewählt werden will:
Katharina Wiegmann hat mit Clara Bünger einen Spaziergang zum Kanzleramt gemacht. Sie ist Juristin und tritt als Direktkandidatin für Die Linke im Erzgebirge an:
Die Klimakrise ist eine Ressourcenkrise. Wasser, fruchtbarer Boden, bewohnbarer Lebensraum – all das wird immer ungleicher auf der Welt verteilt sein, je stärker sich die Erde erhitzt. Maria fragt sich: Wie können wir Ressourcen künftig klüger und gerechter nutzen? Nicht nur materielle, sondern auch persönliche. Also: Wie können einzelne Menschen etwas in der Welt bewegen?