Ein neuer Hirnschrittmacher für Depressionen wirft Fragen auf
Sarah wollte nicht mehr leben, dann ließ sie sich auf eine experimentelle Studie ein. Nach einem Jahr spürt sie ihre schwere Depression kaum noch.
Dann erfuhr sie von einer neuartigen und experimentellen Methode, Depressionen zu bekämpfen. Sie wandte sich an die beteiligten Forscher:innen und ließ sich operieren. Ein Jahr später ist sie heute fast symptomfrei.
Das belegt eine nun veröffentlichte Studie aus San Francisco über Sarahs Fall, die in der Oktoberausgabe des renommierten Fachmagazins »Nature Medicine« erschienen ist. Die Forscher:innen sind sichtlich stolz und sprechen von einem
Das Bedenkenswerte daran: Die experimentelle Methode, der Sarah sich unterwarf, ist nicht etwa ein neues Medikament – sondern ein elektronisches Gerät, das nach einer aufwendigen Operation nun in Sarahs Gehirn und Schlüsselbein sitzt.
Wenn du jetzt ein wenig gegruselt bist, ist das absolut richtig. Denn die Studie wirft vor allem viele Fragen auf.
Warum der »Hirnschrittmacher« wichtig ist und wie er funktioniert
Eine Depression ist eine schwere seelische Erkrankung, die in jedem Alter auftreten kann. Sie zählt zu den häufigsten Erkrankungen heutzutage.
Eine schwere Depression, wie sie bei Sarah diagnostiziert war, bedeutet, dass das Krankheitsbild mit allen Hauptsymptomen stark ausgeprägt ist und viele Nebensymptome dazukommen. Die gute Nachricht: Normalerweise haben auch solche schweren Verläufe, die etwa bei 5% aller von Depressionen Betroffenen festgestellt werden, gute Heilungschancen.
Doch bei einer kleinen Gruppe wirkt diese Therapie eben auch nicht. Zu der gehörte Sarah. Dann bleibt nur, mit der Krankheit leben zu lernen –
Depressive Menschen trauen sich oft nicht zum Arzt. Du denkst, du oder ein:e Nahestehende:r brauchen Hilfe, und du weißt nicht, was du machen kannst? Dann rufe die Telefonseelsorge an! Sie ist 24 Stunden am Tag kostenfrei und anonym erreichbar unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.
Natürlich erscheint in einer solchen Situation eine neue Heilmethode verlockend. Und vielleicht berichtet der Hauptautor der Studie, Andrew Krystal, deshalb so optimistisch von den Ergebnissen: »Wir haben einen präzisionsmedizinischen Ansatz entwickelt, der die behandlungsresistente Depression erfolgreich behandelt«,
Tatsächlich ist das, was die Forschungsgruppe in ihrer Studie darlegt, bisher Neuland in der Neurowissenschaft. Sie haben die Bereiche in Sarahs Gehirn identifiziert, die eindeutig mit ihren Symptomen verbunden sind, und implantierten Sonden in eben diesen Gehirnregionen, die elektrische Impulse abgeben können – ganz ähnlich einem Herzschrittmacher. Die Sonden sind dabei mit einem zweiten Gerät an Sarahs Schlüsselbein verbunden, das die Impulse sendet.
Die Technik dahinter nennt sich Tiefe Hirnstimulation (englisch Deep brain stimulation (DBS)) und wird bereits bei den Behandlungen von Parkinson und des Tourettesyndroms erfolgreich eingesetzt. Seit 2005 forschen Mediziner:innen an zusätzlichen Anwendungsmöglichkeiten für
Die kalifornische Technologie der neuen Studie könnte hier ein Durchbruch sein: Die Forscher:innen analysierten Sarahs Gehirn und ihre speziellen Depressionsmuster und erstellten daraufhin eine eigene Sondenkonfiguration – die nur dann
Sehr vereinfacht gesagt: Wenn Sarah von negativen Gedanken verfolgt wird, springt der Hirnschrittmacher an und vertreibt diese.
Das klingt vielversprechend, aber …
Die neue kalifornische Studie mit Sarah kombiniert Meilensteine und Fortschritte auf dem Gebiet der Neurowissenschaft und Depressionsforschung. Für Sarah ist das Ergebnis eine große Erleichterung, wie sie selbst sagt:
Doch man muss das, was wie ein medizinisches Wunder klingt, nüchtern relativieren: Die Studie zeigt den Erfolg einer einzelnen Patientin. Sie ist damit erst mal ein erster »Machbarkeitsnachweis«. Ob dieser Therapieansatz auf andere Menschen mit Depressionen übertragbar ist, muss weiter untersucht werden. Ebenso ist noch offen, ob der Erfolg dauerhaft anhält.
Außerdem ist ein Hirnschrittmacher kein Ersatz für herkömmliche Hilfe, das betont auch Sarah selbst: »Ich habe festgestellt, dass das Gerät die Therapie und Selbstfürsorge, die ich als Patientin gelernt habe, verbessert.«
Darüber hinaus wirft die Studie sehr grundsätzliche Fragen auf, wie sie auch der australische Ethiker Frederic Gilbert, der sich intensiv mit Schnittstellen zwischen Technik und Hirn beschäftigt, als Reaktion nach ihrer
- Wie trennen wir die nützlichen negativen Gedanken von den schädlichen? Menschen haben ab und zu negative Gedanken als Reaktion auf Ereignisse, wie etwa Beerdigungen oder das Ende einer Beziehung. Das ist normal und gehört zur Verarbeitung und Trauerarbeit dazu. Gilberts Sorge ist, dass ein Hirnschrittmacher nicht den Kontext solcher Gedanken erkennt, sie nicht von Depressionen unterscheiden kann und damit auch die normale Arbeit des Gehirns behindert.
- Wie wollen wir auf Depressionen schauen? Depressionen sind ein sehr komplexes und vielfältiges Krankheitsbild, das teilweise von realen Erlebnissen ausgelöst wird und ganz individuell behandelt wird. Neurowissenschaftliche Lösungen wie ein Hirnschrittmacher könnten dieser nuancierten Sichtweise entgegenstehen und suggerieren: Jetzt gibt es einen Schalter, das »abzustellen«.
- Was heißt überhaupt geheilt?
- Wie kann die Technik missbraucht werden? Um herauszufinden, wann depressive Gedankenmuster erscheinen, mussten die Forscher:innen die Funktionsweise von Sarahs Gehirn auslesen und aufzeichnen. Doch diese »Neurodaten« könnten unsere innersten Gedanken offenlegen. Wenn Forscher:innen besser verstehen, sie auszulesen, ist dies ein Eingriff in die innersten Konzepte vom »freien und geheimen« Denken. Darüber hinaus lässt Sarahs Behandlung Anwendungen erahnen, die Parallelen zu dunklen Kapiteln moderner Medizin haben: So ist es zumindest denkbar, mit ähnlichen Geräten Suchtgedanken (bei Menschen mit Abhängigkeiten) oder aggressive Gedankenmuster (etwa bei Straftäter:innen) entgegenzuwirken. Warum die medizinische »Behandlung« sozial abweichenden Verhaltens höchst problematisch ist, zeigt die
Gilberts Überlegungen machen deutlich, dass bei allem Potenzial und Technikenthusiasmus eine offene Debatte um Ethik und Anwendungsmöglichkeiten des Hirnschrittmachers unerlässlich bleibt.
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Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily