Bürgergeld statt Hartz IV: Kernsanierung oder nur neue Fassade?
Was hält der Koalitionsvertrag für Armutsbetroffene bereit? Einiges wird wohl besser – doch harte Zahlen fehlen. Teil 3 der Reihe über Armut in Deutschland.
Dieser Artikel ist der vorläufige Abschluss der Reihe über Armut in Deutschland. Falls du die bisherigen Texte verpasst hast, findest du hier Teil 1 und hier Teil 2.
»Meine Armut ist politisch.« Das hat Sasa Zatata schon zu Anfang dieser Artikelreihe gesagt – und sie fügte hinzu: »Grundsätzliche Veränderung kann nur in den Parlamenten geschaffen werden.« Die 35-Jährige ist chronisch krank und weiß, wie es sich anfühlt, arm zu sein. Und sie wird – im Gegensatz zu den meisten anderen armutsgefährdeten und armen Menschen im Land – die Gelegenheit haben, mit
Arme Menschen haben keine Lobby, das zeigt auch der Koalitionsvertrag.
Was meint sie damit? Was steht auf diesem mehr als 170 Seiten starken Digitalpapier zum Thema Armutsbekämpfung?
Die zentralen Stellen dazu haben sich Aktivist:innen und Expert:innen von »EineSorgeWeniger«, »Sanktionsfrei«, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge angeschaut und für Perspective Daily kommentiert.
Der Elefant im Raum – ist Hartz IV Geschichte? Nein!
Eines ist klar: Die künftige Koalition hat stark auf ihre Wortwahl geachtet. Es ist von Würde die Rede, von mehr Teilhabe und Entbürokratisierung. Vor allem soll Hartz IV nicht mehr Hartz IV heißen. Ein neuer Name allein bedeutet aber noch keine grundlegende Veränderung. Facebook heißt jetzt
»In Bezug auf Hartz IV wurden meine Erwartungen enttäuscht, obwohl ich eigentlich gar keine hatte. Schade.« Das sagt Aktivistin Helena Kilian-Steinhaus. Sie ist Gründerin des
Sie argumentiert, dass sich an der Logik des Systems Hartz IV nichts ändere. Denn: Es wird weiter eine sogenannte »Mitwirkungspflicht« geben und ebenso Sanktionen, wenn Betroffene diese Pflicht verletzen. Zwar gibt es ein Moratorium für Sanktionen, die einen Menschen unter das Existenzminimum bringen, aber nicht, um sie ganz abzuschaffen, sondern um sie künftig verfassungsgemäß zu gestalten.
Neben der Frage, wohin sich die Sanktionspraxis genau entwickeln wird, ist auch nicht klar, ob der Regelsatz steigt. Aktuell ist eine Anpassung von 3 Euro pro Monat ab 2022 geplant.
Wenn man nicht einmal die Teuerung ausgleiche, würden armutsbetroffene Menschen noch ärmer gemacht, ergänzt Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge. Im Wahlkampf hatten die Grünen noch eine sofortige Anhebung des Satzes um 50 Euro gefordert, SPD und FDP hatten in diese Richtung gar nichts versprochen. Auch von den 50 Euro der Grünen ist keine Rede mehr. Bisher bedeutet das: Ab 2022 gibt es bis auf Weiteres 449 Euro Regelbedarf pro Monat. »Um es klar zu sagen: Ich halte das Bürgergeld für Etikettenschwindel, wenn kein Inflationsausgleich erfolgt. Denn die materielle Lage der Betroffenen verbessert sich dadurch real nicht«, so Butterwegge.
Was er dagegen lobt, ist eine konkrete Veränderung: Der »Vermittlungsvorrang« soll wegfallen. Bisher mussten Hartz-IV-Beziehende auch niedrig bezahlte Jobs annehmen, selbst wenn sie gerade in einer Weiterbildungsmaßnahme steckten. Das soll sich jetzt ändern – die Ampel-Koalition will bei Menschen ohne Erwerbsarbeit auf mehr berufliche Weiterbildung setzen und damit eine langfristige Verbesserung ermöglichen.
Außerdem können Jugendliche, deren Eltern Hartz IV oder eben Bürgergeld bekommen, laut Koalitionsvertrag bald Geld hinzuverdienen, ohne dass es auf die Leistungen angerechnet wird. Es gibt also durchaus Erleichterungen – innerhalb des alten Hartz-IV-Rahmens.
»Was sich nicht ändert, ist die Stigmatisierung, der Generalverdacht der Faulheit, unter dem Hartz IV-Beziehende weiter stehen werden«, sagt Helena Kilian-Steinhaus. Besonders bitter für chronisch kranke Menschen wie Sasa Zatata. Das Stigma und die Armutsprobleme treffen auch sie weiterhin. »Leider denkt die Vereinbarung Menschen, die nicht (mehr) arbeiten können, wieder nicht mit«, sagt sie und meint damit neben dauerhaft Erkrankten auch Menschen, die Angehörige pflegen oder Kinder großziehen. Eine Möglichkeit, aus den materiellen Engpässen herauszukommen, wird für sie wohl nicht entstehen.
Mehr Sicherheit für Kinder – nur wie genau?
Ganz aus dem Hartz-IV-Kontext raus sollen Kinder. Bisher sind die Jobcenter nicht nur für Hartz-IV-Beziehende selbst zuständig, sondern auch für deren Kinder. Weil Kinder aber keine kleinen Arbeitssuchenden sind, sollen sie nun künftig auch nicht mehr so behandelt werden. Das Mittel dazu lautet Kindergrundsicherung. In der Praxis soll die Kindergrundsicherung, wie das Bürgergeld auch, digital zugänglich sein und automatisch von einer Stelle ausgezahlt werden.
Der Aufbau ist 2-teilig: Es gibt einen für alle Kinder gleich hohen Garantiebetrag, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Hinzu kommt ein Zusatzbetrag, je nachdem, wie hoch das Einkommen der Eltern ist. Die konkrete Höhe – unklar.
Für Markus M. Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung weist die Koalitionsvereinbarung hier in die richtige Richtung. Der Ökonom arbeitet für das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine große kontinuierliche Studie zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. »Die Kindergrundsicherung ist ein ganz entscheidender Schritt, um den Anteil der Personen, die von Armut bedroht sind, zu reduzieren.«
Grundsätzlich bewerten alle Befragten die Kindergrundsicherung positiv. Natalie Schöttler von
Der Mindestlohn kommt, die Minijobgrenze steigt
Ein Schritt zu mehr materieller Sicherheit könnte der höhere Mindestlohn sein. Die noch amtierende Große Koalition hatte bereits einen Anstieg auf 10,40 Euro zum 1. Juli 2022 beschlossen. Nun sollen 12 Euro kommen, und zwar gleich auf einen Schlag. Der Haken: Unklar ist, wann. Im Prinzip könnte es auch erst Ende der Legislaturperiode, zum Beispiel 2024, so weit sein. Bis dahin kann die Teuerung schon wieder einen Teil des Aufschlags auffressen. Je früher aber 12 Euro Realität werden, desto früher kann die Mindestlohnkommission auch von diesem Punkt ausgehen und gegebenenfalls Anpassungen mit Blick auf die Inflation oder andere Entwicklungen auf Basis dieses neuen Betrags vornehmen.
Wegen des höheren Mindestlohns soll auch die Minijobgrenze steigen: 520 Euro peilt der Koalitionsvertrag hier künftig als Grenze an, statt der 450 Euro, die bisher galten. Klingt im ersten Moment vielleicht nicht ganz verkehrt, doch Markus M. Grabka vom DIW ist da ganz anderer Meinung: »Die Zahl der Minijobber ist in Deutschland mit einem Anteil von 19% aller Arbeitnehmer deutlich zu hoch. Entscheidend wäre eigentlich gewesen, die Minijobs in die
Zur Erklärung: Midijobs sollen einen Übergangsbereich zwischen Minijobs und Vollzeitbeschäftigungen schaffen. Derzeit gehen Midijobs bei einem Verdienst von 451 Euro los und reichen bis zur Schwelle von 1.300 Euro. Arbeitnehmer:innen zahlen hier bereits in die Sozialsysteme ein und profitieren anschließend auch davon, zum Beispiel bei der Rente. Mit steigendem Verdienst steigen im Midijobbereich auch die Sozialabgaben, bis sie bei 1.300 Euro das reguläre Niveau erreichen. Läge die Schwelle bereits bei 300 Euro, wie Markus M. Grabka es vorschlägt, würden mehr Minijobs praktisch automatisch zu sozialversicherungspflichtigen Jobs. Die geplante Erhöhung der Schwelle auf 520 Euro könnte es dagegen attraktiver machen, im Minijob zu bleiben.
Zu wenig Sozialabgaben sind übrigens nicht nur ein individuelles Problem:
Ist die Ampel in der Armutsbekämpfung bei gelb hängen geblieben?
Auffällig ist: Richtig zufrieden ist niemand. Der Vertrag beinhaltet wenig Konkretes, Zahlen und angepeilte Umsetzungszeitpunkte fehlen oft. Vielleicht auch, weil SPD und Grüne in Sachen Sozialstaat am Ende an den Liberalen hängen geblieben sind.
Der Koalitionsvertrag gleicht einem Neckermann-Katalog ohne Preise und Bilder.
Vieles deutet darauf hin, dass noch keine detaillierten Einigungen auf dem Tisch liegen. Markus M. Grabka vom DIW vermisst einen Punkt, der seiner Meinung nach vor allem Alleinerziehenden das Leben verbessern könnte: »Die Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Deutschland wurden zwar ausgebaut, was aber fehlt, sind 24-Stunden-Kitas.« Vor allem Mütter, die im Schichtdienst oder bis spätabends im Einzelhandel arbeiteten, seien ohne diese Option kaum in der Lage, Kinderbetreuung und Job unter einen Hut zu bringen. Auch ausgebildete Fachkräfte sitzen deswegen oft zu Hause, anstatt sich beruflich einzubringen, und damit auch deren finanzielle Lage deutlich zu verbessern.
Wie geht es weiter?
Wohlgemerkt: Eine Koalitionsvereinbarung ist kein geltendes Recht und sie ist auch nicht bindend. Am Ende könnte es sein, dass es in strittigen Bereichen auf einen Stillstand hinausläuft. Die letzte Große Koalition hat allerdings ihre Versprechen ziemlich diszipliniert abgearbeitet.
An eine Aufhebung der Sanktionen wird sich die Koalition nicht wagen. Es bleibt beim Geist des »Forderns und Förderns« der Hartz-Schröder-Ära mit mehr Konzentration auf das Fördern. Das liegt sicher auch an der FDP, die immer wieder davon gesprochen hat, vor allem Chancen zur Selbsthilfe anzubieten.
Sasa Zatata trägt angesichts der Ampelpläne einen Zwiespalt in sich, wenn sie über den Vertrag abstimmen muss: Sie sieht viele positive und progressive Punkte in gesellschaftlichen Bereichen – wie die Abschaffung des Informationsverbots bei Abtreibungen oder die Legalisierung von Cannabis. Sie selbst nutzt medizinisches Cannabis zur Linderung der Schmerzen ihrer rheumatischen Erkrankung. Die Betonung der Weiterbildungsmöglichkeiten für Arbeitslose findet sie gut, aber dass es keine konkrete Ankündigung einer Hartz-IV-Erhöhung gibt, enttäuscht sie.
Ich hoffe, dass bei der Ausarbeitung der Gesetze auch Betroffene mitreden können und gehört werden.
Zustimmen will sie der Vereinbarung schon. Auch das sei am Ende eben Demokratie – dass nicht immer die Maximalforderungen ins Ziel gebracht werden können. Natalie Schöttler und Konstantin Seefeldt von »EineSorgeWeniger« werden wohl auch weiterhin gebraucht, wenn Kleidung, Lebensmittel oder Elektrogeräte fehlen. Eigentlich hatten sie sich etwas anderes gewünscht: Nämlich möglichst bald überflüssig zu sein.
Für sie und Armutsbetroffene wie Sasa Zatata geht der Kampf also weiter. Sichtbar bleiben, Forderungen stellen, Rechte einfordern – um so die gesamte Gesellschaft mahnend daran zu erinnern, dass Armut und Schuld nicht 2 Seiten der gleichen Medaille sind.
Edit am 1. Dezember: In einer früheren Version des Textes habe ich die Formulierung »Werbeverbot« bei Abtreibungen verwendet. So wird der Sachverhalt
Hier findest du die anderen beiden Teile der Serie:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily