Eines war in München sicher: Einer ist immer schuld
Egal ob Irakkrieg oder Krim-Annexion: Je nach Weltsicht ist der Sündenbock ein anderer. Begründen lässt sich das immer. Warum die Schuldfrage uns nicht weiterhilft.
Rafid Ahmed Alwan könnte »schuld« am Tod des 3-jährigen Alan Kurdi sein. Beide Namen kennen die wenigsten. Aber jeder kennt das Foto des ertrunkenen kleinen Alan, wie er leblos am Mittelmeerstrand liegt. Ein Sinnbild für das Versagen der Weltgemeinschaft.
Rafid Ahmed Alwan könnte über dieses Einzelschicksal hinaus für schier Unvorstellbares verantwortlich sein. Er ist möglicherweise »Königsmacher« von Trump, bescherte uns – das ist nicht ausgeschlossen – die Flüchtlingskrise. Mit Gewissheit war er ursächlich dafür, dass am vergangenen Wochenende auf der
Rafid Ahmed Alwan könnte für Millionen Kriegstote und -verletzte die »Schuld« tragen. Für das Leid von Abermillionen Angehörigen. Für die Furcht und den Schrecken von Milliarden.
Ein Mensch soll all das angerichtet haben? Dieser »Beweis« lässt sich führen. Soweit man den Qualitätsmaßstab an Logik und Argumentation anlegt, der am vergangenen
Im Hotel Bayerischer Hof verfolgte ich vergangenes Wochenende, wie etliche Staatenlenker über Zukunft von EU, Ukraine, Syrien und vor allem über die allgegenwärtige Frage »Was sagen die USA zur NATO?« diskutierten.
Für die große Frage nach einer neuen Weltordnung war leider keine Podiumsdiskussion vorgesehen. Dabei stand sie – teils ausdrücklich ausgesprochen – ebenfalls allgegenwärtig im Raum. Was waren die Positionen? Wie wurden sie begründet? Und welche Schlüsse können daraus gezogen werden? Darum geht es hier und heute.
Es herrschte Einigkeit – auf abstrakter Ebene
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist die weltweit größte Zusammenkunft von politischen Entscheidungsträgern, Militärs und Rüstungsindustriellen. Seit 2009 leitet sie der ehemalige Diplomat Wolfgang Ischinger. Etwa 1.000 anwesende Medienvertreter entscheiden unter Hochdruck, was wichtig ist und was nicht.
Nach Brexit-Abstimmung und
Inwiefern spielte das Thema »Weltordnung« (sprich Völkerrecht) eine Rolle? Auch wenn Zwietracht und Unsicherheit fürs Publikum auf den ersten
- Die Menschheit befindet sich inmitten einer großen Transformation, deren Ausgang ungewiss ist.
Wir sind mittendrin in einer Neuordnung der Welt. Wir haben den Wechsel von der alten zur neuen Weltordnung noch nicht vollzogen.
- Internationale Kooperation ist erforderlich, da sich viele Probleme nur gemeinsam lösen lassen.
Werden wir weiter gut gemeinsam agieren können oder fallen wir alle in unsere individuellen Rollen zurück? Ich rufe uns auf […]: Lassen Sie uns gemeinsam die Welt besser machen!
Wir müssen für ein regelbasiertes System eintreten!
- Die Welt wird immer komplexer.
Ich habe den Kalten Krieg erlebt, die bipolare Welt. Ich war Premierminister während einer unipolaren Welt. Momentan […] sind wir in einer chaotischen Situation, die vermutlich zu einer multipolaren Welt führt.
Auf so viel Einigkeit sollten wir doch aufbauen können. Vor allem, wenn es gelänge, das umzusetzen, wofür der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif warb – und was er forderte: »Wir kooperieren gerne, wenn wir mit Respekt behandelt werden. Zwang und Druck sind kontraproduktiv.« Und weiter: »Schluss mit den Schuldzuweisungen! Sie führen nicht weiter.«
Doch diese Botschaft verhallte zwischen Konferenzsaal, »Prinz Carl Palais« und bilateralen Gesprächen im Hotel Bayerischer Hof: Statt auf dieser Einigkeit aufzubauen und Vorschläge für die Zukunft zu konkretisieren, richtete sich der Blick der Redner allzu oft auf die Vergangenheit. Immer wieder ging es um die Frage, wer Schuld an dem ganzen Schlamassel trage. Ein paar Beispiele:
Solche Schuldzuweisungen funktionieren auf diplomatischer Ebene ähnlich wie auf privater: Vorhandenes Misstrauen wächst, Lösungen werden schwieriger. Menschen und Staatsvertreter schotten sich ab. Zwischenstaatlich droht eine Dauerkrise. Denn wir sind ja voneinander abhängig.
Was also tun, damit Kooperation besser gelingt?
Die Schuld der Anderen
Auch hier unterschieden sich die Einschätzungen im Hotel Bayerischer Hof. Die folgenden 2 Positionen zur Weltordnung veranschaulichen, wie unterschiedlich die Vorstellungen davon sind, woran gearbeitet werden muss:
- Der Westen fürchtet den Bedeutungsverlust und appelliert nach innen. Die Botschaft: Gemeinsam waren wir immer stark und haben für das Gute gesorgt! Wir müssen wieder eine kräftige Stimme entwickeln, um
- Russland sieht in diesem Verständnis die Wurzel allen Übels. Die Nato sei ein Relikt des Kalten Krieges. »Ein Elite-Club an Staaten regiert die Welt«, beschwerte sich Außenminister Sergej Lawrow am Samstagvormittag im Haupt-Konferenzraum und forderte eine »post-westliche Weltordnung«.
Obgleich man sich beim großen Ganzen (siehe die 4 Punkte oben) also einig war, wurden die Meinungen immer dann kontrovers, sobald die Schuldfrage auf den Tisch kam. Irgendwer muss doch schließlich für all die Krisenherde verantwortlich sein. Feindbilder, die die Welt in »Gut« und »Böse« kategorisierten, führten zu unterschiedlichen Interpretationen. Und die wiederum führten zu unvereinbaren Schlussfolgerungen.
Brauchen wir also so etwas wie einen zweiten Mahatma Gandhi, um uns aus dem Schlamassel zu befreien? So zumindest ein »Lösungsansatz« Ischingers. Im September 2016 traf er sich als Leiter der MSC mit Kritikern der Projektgruppe »Münchner Sicherheitskonferenz verändern«. Befragt, wie Abrüstung auf der MSC besser thematisiert werden könnte, äußerte er den Wunsch, eine Persönlichkeit mit internationaler Glaubwürdigkeit zu finden. Eine Art Weltgewissen – wie Gandhi eben.
Nur leider ist derzeit kein Weltenretter in Sicht.
Geht es auch ohne Gandhi?
»Wir erleben, wir Einflusszonen neu definiert werden unter Missachtung des Völkerrechts« – Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin
Der Ruf nach einem charismatischen Erlöser zeigt, wie die Fähigkeit der Weltgemeinschaft, erfolgreich zu kooperieren, versagt. Woran liegt das? An »denen da oben«? Der Rohstoffindustrie? Am Bildungssystem oder am Internet? In einer zunehmend vernetzten Welt gibt es viele Antworten, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen, bei näherer Betrachtung aber einen mehr oder weniger großen Teil der Realität ausblenden. Deswegen führt die Suche nach Schuldigen allein selten weiter.
Versuchen wir es mal mit der Gegenhypothese: Es geht auch ohne Gandhi. Wir können das tatsächlich schaffen. Der kontrollierte Weg zu einer neuen Weltordnung ist möglich. Eine hilfreiche Voraussetzung: ein
Wir Menschen haben eine Schwäche für Feindbilder, die die Welt in
Die Tatsachen, auf die sich Bundeskanzlerin Merkel beruft, sind korrekt. Die Annexion der Krim war völkerrechtswidrig. Sie
Das kann man so sehen. Aber ein zwingender Schluss ist das nicht. Denn nicht nur die Russen brechen das
Alternative Bewertungen sind viel gefährlicher als alternative Fakten
Natürlich: Die Intervention im Irak unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Krim-Annexion – zum Beispiel wurde sie mit (zwar falschen, aber immerhin) geheimdienstlichen Hinweisen auf
Das mag so richtig sein – doch hier geht es um die Plausibilität einer alternativen Erklärung. Denn es lässt sich ebenfalls folgendermaßen argumentieren: Der Irakkrieg der USA ist »schuld« an der Annexion der Krim. Eine solche Hypothese können wir nicht im Labor untersuchen, geschweige denn beweisen, denn wir können verschiedene Szenarien nicht in »alternativen Welten« durchspielen. Aber es ist eine mögliche, alternative Perspektive auf den Lauf der Dinge. Und wer das Weltgeschehen aus dieser Perspektive betrachtet, für den könnte nicht die Krim-Annexion, sondern der Irakkrieg die Weltordnung ins Wanken gebracht haben.
Der Irakkrieg fußte auf der (zumindest objektiven) Lüge eines US-amerikanischen Präsidenten. Welche Folgen hatte er?
- Etwa
- Ein (weiterer) Vertrauensverlust in die Vormachtstellung der USA. Eine Erosion ihrer Legitimation als Weltpolizei. Futter für Thesen wie »Die USA machen, was sie wollen« oder »Die USA sind die Wurzel allen Übels«.
- Auch dem Vertrauen in die Verbindlichkeit des Völkerrechts dürfte dieser Krieg nicht dienlich gewesen sein. »Wir wollen niemandem unseren Lebensstil aufzwingen, sondern mit leuchtendem Beispiel vorangehen und für das westliche Lebensmodell werben«, so US-Vizepräsident Mike Pence am vergangenen Samstag auf der MSC. Auch innerhalb der USA dürfte vielen bewusst sein, dass der Irakkrieg nicht hilfreich war, um dieses Selbstverständnis glaubwürdig in der Welt zu vertreten. Stattdessen verstärkte sich der Eindruck »Wenn es hart auf hart kommt, machen Großmächte sowieso, was sie wollen«.
- Noch ein anderes Bild wurde durch den Irakkrieg gestärkt: das einer internationalen Zwei-Klassen-Gesellschaft. Dieser Vorwurf gegenüber dem Westen ist nicht neu, er ist aus vielen komplexen Gründen Alltag bei den Vereinten Nationen und spiegelt sich in der Forderung des russischen Außenministers Lawrow nach einer »post-westlichen Welt«.
Eine Menge weiterer Weltgeschichte lässt sich auf den Irakkrieg zurückführen: Der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staats (IS), der erst durch das
»Wir wollen einen Dialog zum Nutzen aller« – Sergej Lawrow, russischer Außenminister
Wie könnte Putin diese jüngste Weltgeschichte beurteilt haben? Nicht nur aus russischer Sicht haben die USA die Regeln gebrochen und damit das Signal gesetzt: »Die Regeln gelten nur für jene, die nicht stark genug sind, sich darüber hinwegzusetzen.«
Hätte Russland die Krim annektiert, wenn es weder Irakkrieg noch IS gegeben hätte?
Eine Lüge, die zu einem Krieg führte
Sicher ist nur eines: Wir werden es nie erfahren. Aber es gibt sowohl für als auch gegen eine solche Behauptung plausible Gründe. Höher lag der Anspruch an die Qualität von Argumenten auch auf der MSC nicht, wenn es darum ging, Weltgeschichte zu erklären: »Schuld« ist, je nach Konflikt, hier der
Was hilft uns diese Erkenntnis? Tragen jetzt die USA oder Russland die Verantwortung für die Eskalationsspirale? Oder doch der Iran? Saudi-Arabien?
»Wir möchten Frieden zwischen Israel und den Arabern erreichen« – Abdel bin Ahmed Al-Jubeir, saudi-arabischer Außenminister
Die Schuldfrage bringt uns zurück zu Rafid Ahmed Alwan. 1999 kam er aus dem Irak nach Deutschland und beantragte Asyl. Unter dem Namen »Curveball« erlangte er Berühmtheit als Quelle der US-amerikanischen Geheimdienste: Er erzählte deutschen Behörden, er sei an der Entwicklung irakischer
Ohne Rafid Ahmed Alwan wäre der Irakkrieg womöglich nie geführt worden. Ohne Irakkrieg womöglich keine Annexion der Krim und kein Aufstieg des sogenannten IS. Ohne IS kein derart zerstörerischer Krieg in Syrien. Alan Kurdi wäre mit seiner Familie vielleicht in seiner Heimat geblieben. Stattdessen ist er ertrunken und seine angeschwemmte Leiche zum Sinnbild internationalen Versagens geworden.
Waren es also am Ende weder die Amerikaner noch die Russen – sondern Rafid Ahmed Alwan, der die Welt destabilisierte?
Solange man nur nach einem einzigen »Schuldigen« sucht, wird die eine Antwort so gut oder so schlecht sein wie die andere. Das verlässlichere Miteinander, das sich alle Beteiligten in München wünschten, gelingt so nicht. Eine gemeinsame Reform der Weltordnung erst recht nicht. Wie dann?
Die Macht des Einzelnen
Jedenfalls nicht mittels Feindbildern – egal, welche. Das Feindbild »Politiker« ist ebenso kontraproduktiv wie andere Feindbilder auch. »Verantwortlich« sind auch Journalisten, wenn sie Zwietracht aufbauschen und Einigkeit oder Fortschritt oft verschweigen. Verantwortlich sind die USA, Russland, die EU, die NATO. Verantwortlich ist Donald Trump und auch Angela Merkel. Verantwortlich bist du. Verantwortlich bin ich.
Wenn man Schuld so definiert, wie es auf der MSC getan wurde – nämlich aus ausgewählten Fakten Verantwortung ableiten – dann sind wir alle ein bisschen schuld – je nachdem, welche Fakten zählen. Doch kann man überhaupt von Schuld sprechen, wenn wir die Zusammenhänge weder mit unseren Sinnen wahrnehmen noch – zum Teil – intellektuell begreifen können? Hier gibt es darauf keine Antwort. Denn gerade dieser (selektive) rückwärtsgewandte Blick löst kein Problem.
Wie könnte es möglich sein, unsere Konflikte beizulegen?
Der neue UN-Generalsekretär setzt darauf, Feindbilder abzubauen. Der effektivste Weg dahin funktioniere nicht über Moral, sondern über Interessen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warb mit ähnlichen Argumenten, auf gemeinsame Interessen zu setzen: »Die
Doch in München wurde am vergangenen Wochenende auch deutlich, dass diese Erkenntnis allein nicht reichen wird. Die Welt ist inmitten einer Transformation – und noch kristallisiert sich nicht heraus, wohin diese Änderungen führen. Und inwiefern wir (Entscheidungsträger, Eliten, Zivilgesellschaft) sie tatsächlich aktiv gestalten.
Eine der schwierigsten Herausforderungen wird es sein, wie mit vergangenem Unrecht umgegangen wird. Werden heute verfeindete Gruppen einander jemals vergeben? Vermutlich nicht ohne Entschuldigungen. Und die waren am vergangenen Wochenende Mangelware.
Ich habe nur eine einzige gehört, bei der Diskussion zur »Rolle der Medien in einer postfaktischen Welt«. Stephen Erlanger von der New York Times gestand die Verantwortung seiner Zeitung für den Irakkrieg: Nach dem Schock des 11. Septembers 2001 herrschte nicht nur im Weißen Haus ein gewisses Bedürfnis nach Rache. Auch die New York Times schenkte vorschnell den Berichten der US-Geheimdienste Vertrauen, dass es Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak gebe. Ein historischer Fehler, der sich nicht wiederholen dürfe.
Es gibt viele Ursachen, warum die Welt gerade so ist, wie sie ist. Rafid Ahmed Alwan alias »Curveball« ist eine davon. Aber wenn ein einziger Mensch für derlei Gräueltaten ursächlich sein kann, belegt das letztlich auch, wie viel ein Individuum bewirken kann. Das gilt auch mit Blick nach vorn.
Titelbild: msc / Kuhlmann - copyright