»Ich bin mehr als ein Wegwerfprodukt!«
Gezüchtet für die Biotonne? Eine Zimmerpflanze erklärt, wie es anders geht und was sie wirklich braucht.
20,4 Millionen. Das ist die Zahl der in diesem Jahr in Deutschland produzierten und verkauften Weihnachtssterne – fast 1/4 der Einwohnerzahl unseres Landes. Vor der Recherche zu diesem Text machte ich mir keine Vorstellungen davon, wie viele dieser kleinen roten Zimmerpflanzen jährlich über die Ladentische wandern. Acht Wochen in den Regalen reichen, um die »Poinsettien«, wie Weihnachtssterne auch heißen, auf
November, Dezember – dann ist die »Saison« wieder vorbei und der Weihnachtsstern landet in der Biotonne; spätestens zu Ostern. Für ein paar Wochen hübsch auszusehen, scheint ihr einziger Daseinszweck zu sein, wenn man sich jährliche Produktion und Vertrieb anschaut.
Mir hat es nie gefallen, Pflanzen als »Produkte« zu betrachten. Nach der Recherche zu diesem Text bin ich in dieser Ansicht noch gefestigter: Denn was wir mit den Weihnachtssternen machen, zeigt, wie arglos unsere Gesellschaft mit manchen lebenden Wesen umspringt und sie zu Wegwerfprodukten degradiert.
Oder wusstest du, dass …
- Weihnachtssterne gar keine einjährigen Pflanzen sind? Und mit richtiger Pflege als Topfpflanze weitaus älter
- wilde Weihnachtssterne in der Natur sogar länger als 20 Jahre leben und zu 4 Meter hohen Büschen heranwachsen?
- die
Wie solltest du auch. Weihnachtssterne haben keine Lobby in unserer Gesellschaft und können nicht selbst darüber berichten, wie sie als »Produkt« jährlich verheizt werden, was sie wirklich bräuchten und wie du ihnen helfen könntest. In diesem Text können sie es.
Ich bin eine dieser Pflanzen …
Ich bin eine Topfpflanze, ein Weihnachtsstern von so vielen aus dem Supermarkt. Als du mich im Regal nahe der Eingangstür fandest und mitnahmst, war ich bereits halb erfroren. Die winterlichen Temperaturen und der Zugwind haben mir zugesetzt. Jedes Mal, wenn sich die Tür automatisch öffnete, erzitterte ich. Sie öffnete sich sehr oft. Ich versuchte durchzuhalten, suchte die Sonne, richtete mich mit letzter Kraft auf. Das, was du gesehen hast, als du von meinem roten Kleid so entzückt warst, war ein Kampf um Leben und Tod im Stillen.
Später auf deinem Wohnzimmertisch suche ich immer noch die Sonne, während mich die Erschöpfung überrollt. Von Weihnachtsbeleuchtung kann ich nicht leben. Mir ist egal, wie schön dein Wohnzimmer glänzt. Auch im eisigen Januar wird es nicht besser. Die Tage sind kurz, das Licht zu wenig. Nun bröckelt meine Fassade und mein rotes Kleid fällt – Blatt für Blatt. Du weißt nicht, was du tun sollst.
Darum werde ich bald in der Biotonne landen, wie Millionen meiner Artgenossen jedes Jahr. Ich habe meinen Zweck erfüllt, glaubst du. Du hast deswegen kein schlechtes Gewissen, bist es nicht anders gewohnt. Du hast gehört, ich sei nur eine von vielen, leicht ersetzbar, überempfindlich und schwer zu halten. »Da kann man nichts machen«, sagen sie.
Und ob man das kann.
Es könnte alles anders sein. Ich erkläre dir gern, wie du mich retten kannst. Doch dafür musst du zuerst mehr über mich wissen, etwa woher ich komme und wie ich zu dir gekommen bin.
Geburtsort Afrika
Knapp 7 Monate vor Weihnachten und 6.000 Kilometer südlich von deinem Supermarkt. Es ist warm, hell und windstill. Das Thermometer zeigt 23 Grad Celsius, eine normale Temperatur für Mai in Uganda und eine absolute
Meine Mutterpflanze wird ein paar Jahre leben, bis sie ausgedient hat oder zu groß wird. Anders als sie werde ich Afrika verlassen. Ich lande in einem Tuch und dann in einer Frischhaltebox, zusammen mit Millionen anderen Ablegern. Es ist kalt und dunkel. Ich verfalle in eine Art Kälteschlaf. Von meiner Fahrt zum Flughafen nehme ich nur das Holpern des Kühlwagens auf den unebenen Straßen Ugandas wahr.
Keine 72 Stunden nachdem ich gepflückt worden bin, findet sich meine
Kinderstube in den Niederlanden und in Deutschland
Das nächste Mal, dass ich
Dort verbringe ich die längste Zeit meiner Aufzucht, fast 4 Monate. Damit übernehmen die Gärtnereien einen Großteil meiner Erziehung – und die ist rigoros. Ich wachse und gedeihe in Rekordzeit, wie ein Kind, das zu allem Zugang im Überfluss hat. Die Bedingungen im Gewächshaus sind optimal – Wärme, Licht, Luftfeuchtigkeit, alles wie zu Hause –, herrlich! Und das, obwohl wir nun schon Herbst haben. Inzwischen habe ich ein stattliches grünes Blattkleid. Meine Tausenden Geschwister und ich bekommen regelmäßigen Besuch von Menschen, die uns in die Hand nehmen und mein Blätterkleid hochheben. Sie haben es auf Trauermücken, Schmierläuse und andere ungewünschte Mitbewohner:innen abgesehen. Eine schmerzhafte Sache, solch ein Befall, wie ein Pflanzennachbar ihn hat. Am Tag darauf ist er verschwunden, die anderen um ihn herum auch.
Jede fünfte in Deutschland produzierte Zimmerpflanze ist ein Weihnachtsstern
Dann werden einige von uns in größere Plastiktöpfe umgetopft. Pflanzen, die klein bleiben sollen, bekommen wachstumshemmende Wirkstoffe oder werden in einen anderen Teil des Treibhauses gerollt, wo sie
Tage später kommen viele steril gekleidete Menschen und inspizieren uns eingehend. Sie kleben etwas auf meinen Blumentopf und stellen mich auf ein Plastiktablett in einen Rollwagen. Fahrtrichtung: Einzelhandel, pünktlich im November. Von meiner Entwicklung her bin ich gerade mal ein Teenager.
Supermarkt – Wohnzimmer – Biomüll. Das muss nicht sein!
Wo ich nun – wieder in ausreichend Plastik eingepackt – per Lkw hingeschleppt und ausgestellt werde, weißt du ja bereits: in den Supermarkt. Wie es mir geht, weißt du auch: Ich stehe als Sonderangebot im zugigen Eingangsbereich, den ich so gar nicht gewohnt bin und wo mich jeder sehen kann. 1,99 Euro steht auf dem Preisschild. Die Sonderbehandlung ist vorbei.
Einen halben Tag nachdem mich eine Mitarbeiterin ins Regal eingeräumt hat, kommst du vorbei. Bist ganz entzückt und hebst mich am Plastiktopf hoch. Du schaust dir den aufgeklebten
Was passiert nun mit mir, wenn ich bei dir zuhause gelandet bin? Bestenfalls beachtest du die folgenden beiden Punkte:
- Optimaler Standort: Als subtropische Laubpflanze mag ich
- Die richtige Menge an Feuchtigkeit: Trockene Heizungsluft zieht mir das Wasser aus der Erde, bis meine Wurzeln verdorren und meine neugewonnenen roten Blätter eines nach dem anderen abfallen. Doch mich jetzt noch mehr zu wässern, ertränkt mich eher. Um mir wirklich zu helfen, kannst du mich für ein paar Minuten in ein Wasserbad stellen, bis sich die Erde wieder vollgesogen hat. Danach gieß mich immer dann, wenn die oberste Erdschicht trocken ist.
Wenn du alles richtig machst, bin ich
Doch da geht noch mehr: Obwohl wir in einer Pflanzen-Wegwerf-Gesellschaft leben, kannst du kleine Schritte tun, uns Weihnachtssternen (und allen an unserer Aufzucht beteiligten Menschen!) ein besseres Leben zu ermöglichen. Hier sind 5 Tipps von Weihnachtsstern zu Mensch:
- Kaufe Pflanzen nicht im Supermarkt, sondern im Gartencenter oder im Blumengeschäft. Dort weiß man artgerecht mit ihnen umzugehen und es gibt genügend Papier, um sie für den Weg ins warme Auto wind- und kältesicher einzupacken.
- Besorge Pflanzen nur als Geschenk, wenn du auch weißt, dass die andere Person mit dem Lebewesen umgehen kann und
- Regionale oder heimische Weihnachtssterne gibt es nicht. Das ist auch bei vielen anderen Pflanzen der Fall, wie bei Amaryllis, Orchideen oder Monstera. Du kannst jedoch darauf achten, aus welchen Anbaugebieten die Pflanzen stammen
Biopflanzen sind leider noch ein Nischenmarkt. Doch es gibt immer wieder Pflanzenzüchter:innen, die sich bemühen, - Es gibt inzwischen viele verschiedene Arten von Weihnachtssternen: mit roten, weißen und rosa Blüten, runden oder gezackten Blättern. Manche Unterschiede kannst du gar nicht sehen, wie die
- Man muss nicht alles neu oder auf den letzten Drücker kaufen. Pflanzen sind keine Produkte, wir sind Lebewesen. Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, aber: Warum nicht ein wenig mehr Mühe machen und von deinem Weihnachtsstern ein paar Stecklinge abknipsen? Selbst gezüchtet – so wie in Afrika, nur ganz ohne Konsum und Lieferkette.
Mit Illustrationen von Aelfleda Clackson für Perspective Daily