Selbst wenn du wolltest: Du kannst nicht alles selbst entscheiden
Alles entscheiden zu wollen, ist eine schlechte Entscheidung: Es lähmt uns und macht uns unglücklich. Wann lohnt es sich trotzdem, den Autopiloten abzuschalten?
»Take back Hier schreibt David Ehl über die 3 möglichen Brexit-Szenarien die Brexit-Kampagne im Jahr 2016 dominiert – und damit alle vereint, die sich gegen die etablierte Politik stellten. Der Slogan passt ins grundlegende Dogma der westlichen, aufgeklärten Gesellschaft: Um unser Wohl zu maximieren, benötigen wir maximale individuelle Freiheit. So sind wir in der Lage, unser Leben zu kontrollieren und die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Niemand anderes entscheidet für uns und wir sind frei von Manipulationen.
– »Übernimm wieder die Kontrolle!« Der Slogan hat nicht nur»Have it your way.« – Burger King
Und weiter: Je mehr Auswahl, desto besser. So können wir unsere Bedürfnisse passgenau befriedigen. Sei es bei der Auswahl zwischen 78 Kekssorten im Supermarkt-Regal, 23 neuen Smartphone-Modellen beim Online-Händler oder 14 Arzneimitteln gegen
Das Dogma ist jedoch irreführend. »Take back control« spielt nicht nur mit unserem Drang zur individuellen Entfaltung, sondern unterstellt auch: Wir haben die Kontrolle – und damit ein Stück Freiheit – verloren. Wir hatten jedoch nie die vollständige Kontrolle über unsere eigenen Entscheidungen. Dafür ist unser Gehirn schlichtweg nicht ausgelegt.
Wie zu viel Auswahl uns unzufrieden macht
Beginnen wir mit der Annahme: Je mehr Auswahl, desto besser. Ist die Auswahl zu groß, zeigt unser Gehirn tatsächlich Lähmungserscheinungen – und zurück bleibt ein demotiviertes Individuum. Genau das zeigten die beiden Psychologen Sheena Iyengar und Mark Lepper im Jahr 2000 erstmals Erste Studie zum Phänomen der Auswahl-Überlastung (Choice Overload) (englisch, 2000) in einer Reihe von Experimenten. Ihre Testpersonen hatten eine süße Aufgabe: Sie durften Marmelade probieren. In einem Gourmetladen mit 6 verschiedenen Sorten kauften 30% der Teilnehmer nach dem Probieren ein Glas. Standen 24 Geschmäcker zur Auswahl, kauften nur 3% der Teilnehmer
»Das Geheimnis zum Glück ist: Senke deine Erwartungen!« – Barry Schwartz, amerikanischer Psychologe
In einem zweiten Experiment wählten Studenten entweder aus 6 oder 30 Gourmet-Schokoladen ihren persönlichen Favoriten. Diejenigen, die nur aus 6 Sorten wählen durften, zeigten sich im Anschluss zufriedener mit der eigenen Wahl und waren geneigter, Schokolade statt Geld als Vergütung für ihre Teilnahme an der Studie zu wählen.
Je größer die Auswahl, desto größer die Gefahr, die falsche Wahl zu treffen. Vielleicht gibt es doch noch ein Hotel mit besserem Preis-Leistungs-Verhältnis? Wer sagt mir, dass nicht doch der Käsekuchen mit Rosinen
Warum sollte ich mich jetzt für eine feste Beziehung entscheiden, wenn da draußen vielleicht doch der Traumpartner wartet?Solche Gedanken sorgen dafür, dass Review-Studie zum Bereuen von Entscheidungen (englisch, 1995) die Entscheidung an sich schwerer fällt und wir die gemachten Entscheidungen weniger genießen können.
Hier wird die Werbekampagne von Zalando beschrieben
»Wir shoppen nicht! Wir entscheiden!« – Werbekampagne für Männer bei Zalando
Mit einer größeren Auswahl steigen auch die Erwartungen. Der Hier eine Übersicht über ein paar Varianten Slim Fit, Straight Leg, Skinny, Loose Fit, … entscheiden. Die Erwartung hat sich von »ich brauche eine neue (zunächst schlecht-sitzende) Jeans« zu »bei so viel Auswahl muss ich die best-sitzende Hose finden« geändert. Und selbst wenn man den Laden mit einer scheinbar maßgeschneiderten neuen Jeans verlässt, denkt man: »Vielleicht hätte ich noch besser wählen können.« So lange unsere Erwartungen mit den Auswahlmöglichkeiten steigen, haben wir zwar ein besseres Leben –
beschreibt das so: Während es vor ein paar Jahrzehnten genau ein (schlecht-sitzendes) Jeans-Modell gab, muss man sich jetzt zwischenKommt all das zusammen – also: viel Denkarbeit vor einer Entscheidung, Reue, verpasste Möglichkeiten und hohe Erwartungen – gilt es, einen Schuldigen zu finden. Bei einer geringen Auswahl fällt die Wahl leichter auf »die Welt«, schließlich hatten die nur 2 Jeans, kein Wunder, dass die schlecht sitzt. Hatten wir selbst die Auswahl zwischen 23 Hosen, liegt es stattdessen näher, die Schuld bei uns zu suchen.
Das Leben ist eine Entscheidung nach der anderen
Sicher ist es trivialer, zwischen Slim Fit und Loose Fit zu entscheiden, verglichen mit wichtigen Entscheidungen, die unsere Gesundheit, Karriere und unser Sozialleben betreffen. Einfach gesagt, ist unser Leben nichts anderes als eine Entscheidung nach der anderen.
Müssten wir ständig alles selbst entscheiden, wären wir schnell überfordert. Darum lagern wir viele Entscheidungen aus an Dritte – vom besten Freund und Arzt bis zum Vermögensberater – und automatisieren andere. Dabei helfen bestimmte Mechanismen im Gehirn, die Wie wir schlechte Gewohnheiten erfolgreich loswerden zum Beispiel bei Gewohnheiten auf

Das Dogma, wir hätten die Kontrolle über unsere eigenen Entscheidungen (also die, die wir nicht an Dritte abgeben), ist daher falsch. Denn mit dem Einschalten unseres Autopiloten geben wir die Kontrolle ab.
»Alles Manipulation!«
Der Gedanke, dass wir nicht Herr oder Frau unserer Entscheidungen sind, mag frustrierend oder sogar beängstigend sein – ist aber unvermeidbarer Teil unseres Lebens. Egal wie sehr wir uns Kontrolle wünschen.
Beginnen wir ganz einfach: Wie ein Raum eingerichtet oder wie eine Website designt ist, beeinflusst unser
Zum Beispiel, ob wir uns setzen oder nicht, wo wir klicken und wo nicht. Wenn wir im Restaurant die Karte aufschlagen, beeinflusst die Anordnung der Gerichte, welches wir auswählen. Unsere Vorliebe für einstellige Zahlen sorgt dafür, dass die Fernsehsender 1 bis 9 mehr Zuschauer haben als die Sender mit höheren Nummern – auch wenn der Aufwand zu wechseln verschwindend gering ist.»Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.« – Arthur Schopenhauer, Philosoph
Vieles in unserem Leben wird mit Übersicht über die Auswirkungen von Defaults auf Organspenden (englisch, 2003) passiert das verhältnismäßig selten. Das beginnt bei deinem Handy, das mit bestimmten Programmen und Voreinstellungen geliefert wird, aber betrifft auch Standard-Einstellungen, die beispielsweise staatliche Gesundheitssysteme prägen und über Leben und Tod entscheiden können: In Ländern, in denen jeder zunächst als Organspender gilt und Bürger sich aktiv dagegen entscheiden müssen, wenn sie dies nicht wollen, ist die durchschnittliche Rate an Organspendern viel höher als in Ländern, in denen Menschen die umgekehrte Wahl haben.
ausgeliefert. Auch wenn wir die Freiheit haben, sie zu ändern,
Das kann zu verschwörerischen Gedanken führen Bevor wir jedoch brüllen, dass wir manipuliert würden, müssen wir genauer hinschauen: Für eine bedarf es einer verdeckten,
Wir werden ständig beeinflusst – da kommen wir nicht drum herum.Entscheiden, wann du entscheiden willst
Statt zu rufen »Übernimm wieder die Kontrolle!«, müssten wir also – abhängig vom Kontext – eher fragen:
- Wann will ich nicht alle Möglichkeiten kennen?
Vielleicht lohnt es sich, die nächste Einkaufstour auf 2 (Online-)Geschäfte zu beschränken, wenn es um die Auswahl der nächsten Jeans oder des neuen Smartphones geht. Trotz scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten lohnt es sich auch bei komplexen Entscheidungen wie der Partnerwahl und gesundheitlichen Maßnahmen, nicht alle Möglichkeiten kennen zu wollen. - Wann und wo willst du die Kontrolle übernehmen?
Muss es der süße Snack an der Supermarktkasse, die Wenn wir nicht mehr anders können, als online zu gehen 5. Episode der aktuellen Lieblingsserie auf Netflix in Folge oder der nächste Griff zum Smartphone sein? Wenn du dich fragst, ob du das »Gratis«-Angebot von 2 Extra-Limoflaschen beim Kauf von 10 wirklich annehmen willst (obwohl du nur 3 kaufen wolltest), kontrollierst du deine Entscheidung. Und entscheidest so, wann du das Steuer vom Autopilot übernehmen willst. - Wann sollten wir Werkseinstellungen ändern?
Unser Leben wird durch zahlreiche Werkseinstellungen bestimmt, vorgegeben durch Hersteller von Produkten, gesellschaftliche Normen und unsere eigene Biologie. Letztere außen vor gelassen, kommt hier die Verantwortung von Wirtschaft und Staat ins Spiel. Sie entscheiden, ob unser Handy standardmäßig Nikola Schmidt im Interview mit Datenschutz-Aktivist und Künstler Adam Harvey deine GPS-Daten weiterleitet oder jeder Bürger als Organspender eingetragen ist. Sie an diese Verantwortung zu erinnern, liegt an uns.
Und was hat das mit dem Brexit zu tun? Ganz einfach: Jeder Wähler, der mehr Kontrolle fordert, fragt implizit auch nach mehr Verantwortung. Wann wir diese Kontrolle überhaupt ausüben können – und wollen – hängt von vielen Faktoren ab. Vor allem von den beiden begrenzten Ressourcen Zeit und Gehirnkapazität.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Kritischen Denken!
Mit Illustrationen von Robin Schüttert für Perspective Daily
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