Stolz und Vor(ur)teile: Was uns mit Europas Osten verbindet
Einst war die Liebe groß. Jetzt kriselt es zwischen den Visegrád-Ländern und dem Westen. Gibt es ein Happy End?
Im November 1956 sandte der Chefredakteur der ungarischen Nachrichtenagentur MIT, kurz bevor sein Büro von der Artillerie dem Erdboden gleichgemacht wurde, per Fernschreiber die verzweifelte Botschaft an die ganze Welt, dass der russische Angriff auf Budapest begonnen habe. Das Fernschreiben endete mit den Worten ›Wir sterben für Ungarn und für Europa‹.
So beschreibt der tschechische Schriftsteller
Sehnsucht nach Europa hatten die Menschen zu der Zeit auch in
Ungarn in der Defensive
April 2017, Brüssel, Europäisches Parlament. Der belgische Politiker
Ungarn ist der Europäischen Union 2004 beigetreten. Sie und Ihre Vorgänger haben sich den
Das Video wurde ein viraler Hit. Es passt gut in das Bild, das wir uns in Deutschland und Westeuropa gerade von den Nachbarn im Osten machen. Nationalistisch, unsolidarisch, undankbar.
Knapp 3 Jahrzehnte nach der Rückkehr der Visegrád-Gruppe zu der Geliebten aus dem Westen, für die die Menschen 1956 sogar bereit waren zu sterben, ist der Beziehungsstatus also: kompliziert. Wenn der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 den Weg frei machte für eine Liebesheirat des europäischen Westens mit dem europäischen Osten – wie hat sich die Beziehung seitdem entwickelt?
Die Rückkehr
»Bis zum heutigen Tag ist 1956 die letzte Chance gewesen, dass unsere Nation den Weg der westlichen Entwicklung betritt und wirtschaftlichen Wohlstand schafft.« – Viktor Orbán
In seiner Rede im April sagte Guy Verhofstadt zu Viktor Orbán auch Folgendes: »Sie waren 1989 der Emmanuel Macron Ungarns.« Wie bitte? Damit spielt er wohl vor allem auf die Hoffnung an, die viele Europäer in den neuen französischen Präsidenten setzen.
Denn auch Viktor Orbán war einst ein politischer Hoffnungsträger für die
Der junge Orbán forderte freie Wahlen, den Abzug der russischen Truppen – und reklamierte, für all jene Jugendlichen zu sprechen, »die heute für die Verwirklichung einer europäischen bürgerlichen Demokratie kämpfen.«
Vom Liberalen an den rechten Rand – so wird Viktor Orbáns Werdegang nicht nur von Verhofstadt gezeichnet. In diesem Schwarz-Weiß-Bild fehlen allerdings einige Grautöne.
Der Osten wusste immer mehr über den Westen als umgekehrt … Und den Westen interessierte der Osten auch nie.
Die im Westen vorherrschende Idee war, dass die »Osteuropäer« nun
Dabei wären die Revolutionen im Jahr 1989 nicht möglich gewesen, wenn es im Inneren nicht gebrodelt hätte. Eine besondere Rolle spielten die Dissidenten mit ihrer
Die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn wollten nicht genau so sein wie Deutschland oder Frankreich. Der tschechische Dissident Václav Havel, der polnische Gewerkschafter Lech Wałęsa – und auch Viktor Orbán – hatten ganz eigene Vorstellungen davon, wie und wohin sich ihre Heimatländer entwickeln sollten. Bei allen gründete sie auch auf ihren besonderen historischen und kulturellen Hintergrund – der von Polen über die Tschechoslowakei bis nach Ungarn ein europäischer war.
Gemeinsamer Alltag
Mit dem Beitritt zu NATO (1999) und EU (2004) haben die V4-Länder – aus ihrer Perspektive – ihren Platz in der europäischen Mitte wieder eingenommen. Besonders seit 2004 gestalten sie mit in Europa. Nach der langen Zeit der Katastrophen und der gewaltsamen politischen Trennung gab es zwar Phasen des Fremdelns. In Deutschland sorgten sich beispielsweise viele darum,
Schließlich ließ man sich wieder aufeinander ein und erlangte eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander. Deutsche und polnische Polizisten arbeiten an der Grenze eng zusammen, mit Tschechien gibt es einen »Strategischen Dialog«, hunderttausende Touristen reisen jährlich nach Budapest – um nur einige Beispiele zu nennen.
Die V4-Staaten wurden selbstbewusster, die Wirtschaft wuchs, der Lebensstandard kam dem der Nachbarn im Westen zumindest näher. Vor einigen Jahren war Polen gar als
Die Ehekrise: Ein heißer Sommer und seine Folgen
Manchmal wird eine falsch ausgedrückte Zahnpastatube zur Belastungsprobe für eine Beziehung. Im Fall unserer Ost-West-Liebe waren es Fischstäbchen und Nutella. Auf dem Gipfel der V4-Staaten in Warschau Anfang März 2017 ging es unter anderem darum, dass Nutella in der EU nicht gleich Nutella ist.
Lebensmittelkonzerne verwenden für den (mittel-)osteuropäischen Markt manchmal minderwertige Zutaten für dieselben Produkte. Das ist durch Untersuchungen belegt und schon seit
Geht es hier wirklich um Nutella? Wenn Schokocreme für so viel Aufsehen sorgt, steckt meistens mehr dahinter.
Richtig gekracht hat es im Sommer 2015. Merkels »Willkommenspolitik« wurde in Mittelosteuropa vehement abgelehnt, zum besonderen Aufreger wurde die von der EU-Kommission angestoßene
Die Menschen vertrauten Brüssel, weil sie dachten, es sei ihr Verbündeter gegen die korrupten lokalen Eliten. Jetzt wird es als Verbündeter der Elite gegen den Willen des Volkes wahrgenommen.
Mit ihrer lautstarken Verweigerungshaltung haben die Regierungen der V4-Staaten wesentlich dazu beigetragen, dass der Osten in den Köpfen wieder da ist: als
Im Flüchtlingscamp von Idomeni betreute das Tschechische Team das Warenlager.
So kümmerten sich tschechische Aktivisten
Schöne Augen Richtung Russland und China
Ungarn entfernt sich unter Orbán immer weiter von der Demokratie, die er einst auf dem Budapester Heldenplatz forderte. Die Freiheit von Wissenschaft und Presse ist in Gefahr, Minderheitenrechte werden missachtet.
Was für ein Happy End spricht
Beobachten wir gerade den Anfang vom Ende einer Beziehung, für die so lange leidenschaftlich gekämpft wurde? Oder – und das wäre fast genauso traurig – eine Zweckehe, in der alle Seiten versuchen, das Beste für sich rauszuholen, während sie sich so gut wie möglich aus dem Weg gehen? Eine Ehe, die nur noch auf dem Papier besteht?
Mindestens 3 Punkte sprechen für ein mögliches Happy End:
- Die gemeinsame Vergangenheit: Woher kamen Sigmund Freud, Edmund Husserl und Gustav Mahler? Auch wenn dir außer Wien nichts einfällt – Philosoph Husserl und Komponist Mahler werden heute selbstverständlich als Teil der deutschsprachigen und somit »westeuropäischen« Kultur vereinnahmt. Dabei waren sie alle gebürtige »Osteuropäer«. Sigmund Freud verbrachte die ersten Jahre seines Lebens im mährischen Příbor, Edmund Husserl wurde in Prostějov geboren, Mahler stammt aus Kaliště. Bis 1918 gehörten all diese Orte zur Habsburgermonarchie – einem Vielvölkerstaat. Heute liegen sie in Tschechien.
In allen V4-Staaten wurden bis zum Zweiten Weltkrieg selbstverständlich mehrere Sprachen gesprochen. Jahrhundertelang lebten auch deutsche Minderheiten in Mittelosteuropa. Nach dem Krieg wurden die meisten zwar vertrieben. Die Verbände der Verbliebenen und ihrer Nachfahren werden allerdings noch heute von der deutschen Regierung - Die gemeinsame Gegenwart: Bisher ging es hier viel um Geschichte und darum, welche unterschiedlichen Sichtweisen wir auf das Geschehene einnehmen können. Zeit für einen Sprung in die Gegenwart. Im Prag Franz Kafkas wurde in vielen literarischen Salons auf Deutsch diskutiert. Der Journalist Egon Erwin Kisch schrieb seine berühmten Unterwelt-Reportagen auf Deutsch. An Karl IV., einen der bedeutendsten Könige der böhmischen und deutschen Geschichte, wurde Anfang dieses Jahres in einer »bayerisch-tschechischen Landesausstellung« erinnert. Womit wir im Europa des 21. Jahrhunderts angekommen wären.
Im Prager Café Neustadt, das im Hinterhof des Neustädter Rathauses liegt, wird Kaffee aus einer Berliner Rösterei serviert. Den trinkt hier eine junge, gebildete Schicht, die dieselbe Musik wie ihre Altersgenossen aus Warschau oder Madrid hört, mit denselben Fernsehformaten aufgewachsen ist, und auf Facebook die Schlagzeilen des britischen Guardian oder der New York Times liest. Und auch das: Als die nationalkonservative Regierung in Polen im letzten Jahr das Abtreibungsgesetz verschärfen wollte, gingen Menschen nicht nur dort zu Tausenden auf die Straße – Proteste gab es auch in Berlin, Paris und Brüssel. All das zeigt: Es gibt längst Milieus in Europa, in denen gemeinsam getanzt, diskutiert – aber auch demonstriert wird, wenn lokale Regierungen über die Stränge schlagen. - Wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten: In der Debatte um Geflüchtete und die mangelnde Solidarität der V4-Staaten gab es einen Begriff mit Vorschlaghammer-Effekt: EU-Subventionen. Tatsächlich fließt viel Geld in die 10 Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind: Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei gehören zu
Mit ihrem dramatisch-polternden Auftreten haben die V4-Regierungschefs eines erreicht: Sie werden vom Westen wieder wahrgenommen – und vielleicht auch ein bisschen ernster. Europa diskutiert so intensiv über Werte wie schon lange nicht mehr. Und zwar auch auf der Straße.
Im Grunde also für »Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte«. Für die Grundwerte der Union, die Verhofstadt Orbán im Europäischen Parlament um die Ohren gehauen hat.
Titelbild: Roman Boed - CC BY-SA 3.0