Populismusforscher Cas Mudde urteilt nicht majestätisch vom Elfenbeinturm herab – mit Emojis und messerscharf formulierten Pointen zerlegt er Populismusdebatten in ihre Einzelteile.
14. Juni 2017
– 10 Minuten
cas mudde
Cas Mudde ist genervt. So viel ist nach einem Blick in den Twitter-Feed des Politikprofessors klar. Hier schießt er mit ironischen Spitzen gegen die New York Times, die EU, Islamphobiker oder die britischen Tories. Rabiat dekonstruiert der Niederländer das Bild des distanzierten öffentlichen Intellektuellen. Vielleicht gerade deswegen ist er auf seinem Gebiet ein gefragter Redner und Kommentator. Populismus und Extremismus sind seine Themen. Und schon jetzt sei verraten – die Le Pens, Trumps und Orbáns dieser Welt interessieren ihn weniger. Viel spannender findet der 50-Jährige, warum sie uns solche Angst machen.
»Über persönliche Angelegenheiten spreche ich nicht«, teilt Cas Mudde vor dem Interview für mit. Dabei hätte man diese eine Frage gern gestellt: Welche Rolle spielt die Beziehung zu seinem älteren Bruder für das Forschungsthema? Tim Mudde, Sänger in der Rechtsrock-Band Brigade M, war lange Zeit in rechtsextremistischen Gruppen aktiv und geriet wegen seiner politischen Aktivitäten auch immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz. Im Vorwort zum Buch dankt Cas seinem Bruder, »der seine Forschung zugleich schwierig und möglich« gemacht habe. »Und noch viel mehr dafür, dass wir uns trotz unserer unterschiedlichen Meinungen noch immer respektieren.«
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Ein Hang zum Kämpferischen liegt vielleicht in der Familie. In jüngeren Jahren sympathisierte Cas Mudde mit der distanzierte sich aber, als diese immer deutlicher nach rechts rückte. Mudde teilt verbal aus – auf Twitter, in Meinungsbeiträgen und auch in diesem Interview, für das ich ihn Anfang Juni in Duisburg getroffen habe.
Scrollt man durch deinen Twitterfeed, fällt auf, dass du den Begriff »liberal« wie ein Schimpfwort verwendest. Wen genau meinst du, wenn du von den »Liberals« sprichst? Und wo liegt das Problem?
Cas Mudde:
Ich meine damit die Demokraten in den USA, die ganze moderne Sozialdemokratie, die eher rechts der Mitte steht als links. Es fehlt ihr an Ideen. Die »Liberals« wollen progressiv sein, sind es aber nicht. Sie behaupten, für die Schwachen und Verletzlichen zu sprechen, entscheiden sich aber immer für eine Politik, von denen die ohnehin Bessergestellten profitieren. Leute wie ich.
Wie könnten sie es denn besser machen?
Cas Mudde:
Für die »Liberals« kommt alles Schlechte immer von außen, es gibt keine Selbstreflektion darüber, was man selbst falsch macht. Dafür ist Hillary Clintons Kampagne ein perfektes Beispiel. Es ging nur darum, wie böse Trump ist, nicht darum, warum er so viel Rückhalt gewinnen konnte. Seine Unterstützer wurden als Rassisten bezeichnet oder es wurde über eine Einmischung Russlands gesprochen. Die ganze
nervt mich ungemein. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Russland das Ergebnis der Wahlen beeinflusst hat. Und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte es lediglich die Schwächen des amerikanischen Systems genutzt. Anstatt sich auf die Gefahr von außen zu konzentrieren, sollten die Demokraten lieber über diese Schwächen nachdenken, für die sie selbst mitverantwortlich sind. Gerade gestern habe ich mich über all die geistreichen Tweets zu geärgert. Ich fände es wichtiger, wenn all diese Leute Ideen einbringen würden, wie man Trumps Macht brechen könnte. Von den Demokraten ist während des letzten halben Jahres nichts Konkretes gekommen.
»Wir brauchen alle einfache Erklärungen für die komplexe Realität. Das ist es, was die ›Liberals‹ im Moment beruhigt. Die Probleme kommen alle von außen …«
Warum haben die Deutschen so viel Angst vor sich selbst?
Du gehst mit Vorträgen über Populismus auf Europa-Tour, schreibst Meinungsstücke für Medien wie den twitterst unermüdlich und planst dazu noch den Warum machst du das?
Cas Mudde:
Für Rechtsradikale und Populisten interessiere ich mich eigentlich gar nicht so sehr. Ich fand diese Menschen nie sonderlich interessant oder bemerkenswert. Mich interessiert die Rolle, die sie in unseren Gesellschaften spielen. Ich bin fasziniert von der Angst, die viele Leute vor ihnen haben. Ein Beispiel dafür ist die deutsche Obsession mit oder der AfD. Natürlich kenne ich die Geschichte. Aber in den letzten 70 Jahren hat Deutschland gezeigt, dass es eine der stablisten Demokratien der Welt ist. Und es vertraut sich immer noch nicht selbst? Das ist eine Debatte wert.
»Populisten stellen oft die richtigen Fragen«
Ist es kontraproduktiv, dass der Begriff Populismus in der politischen Debatte derzeit so dominant ist?
Cas Mudde:
Es ist an sich nicht schlecht, dass viel über Populismus gesprochen wird. Die Tatsache, dass der Begriff nicht richtig verwendet wird, allerdings schon. Populismus wird meistens gleichgesetzt oder mit einer Politik, die zu einfache Lösungen für komplexe Probleme verspricht. Das ist aber nichts, was nur Populisten ausmacht. Es ist eine ganz normale Praxis moderner Wahlkämpfe. Es wäre gut, wenn der Begriff konkreter verwendet würde, denn das Phänomen ist ein bedeutsamer Teil zeitgenössischer Politik. Wie derzeit über Populismus gesprochen wird, ist eher verwirrend als erleuchtend.
»Die Wahlen in Österreich, Frankreich und Großbritannien ziehen viel weniger Aufmerksamkeit auf sich als die (Präsidentschafts-)Wahlen in den Niederlanden und Frankreich. Kein populistischer Sieg in Sicht, kein Interesse der Medien.«
Wie könnte man das ändern?
Cas Mudde:
Zunächst mal mit einer sauberen Definition. In der wissenschaftlichen Debatte herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Populisten die Gesellschaft in 2 antagonistische Gruppen teilen – das »reine Volk« auf der einen Seite und die »korrupte Elite« auf der anderen. In diesem Weltbild soll die Politik dem »reinen Volk« gehören. Es stützt sich auf eine Ideologie, an die populistische Führer meiner Meinung nach tatsächlich glauben. Andere Forscher glauben, Populisten nutzen Ideologien nur, um an die Macht zu kommen.
In sprichst du über Occupy Wall Street – und bezeichnest die amerikanische Protestbewegung als populistische Organisation. Kann man jede Ideologie mit Populismus voranbringen?
Cas Mudde:
Populismus kann einen positiven Effekt auf liberale Demokratien haben, indem er Themen politisiert, die vorher nicht auf der Tagesordnung standen. Populismus stellt oft die richtigen Fragen, gibt aber die falschen Antworten. fragte: Warum explodiert die ökonomische Ungleichheit in den Vereinigten Staaten? Die Bewegung gab aber eine falsche Antwort, indem sie die Gesellschaft in 99% und 1% teilte – und argumentierte, dass 99% arm sind und 1% korrupt. Natürlich finden sich in diesem einen Prozent korrupte Leute, es gibt aber auch diejenigen, die nach den Regeln des Systems spielen, sich an die Gesetze halten und eben nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Genauso, wie viele in der anderen Gruppe nur auf ihren Vorteil bedacht sind.
Das ändert nichts an der enormen
Cas Mudde:
Obwohl die Unterschiede zwischen den 99% und dem 1% groß sind – die Unterschiede innerhalb der 99% sind noch viel größer. Occupy Wall Street war zum Beispiel besessen vom Thema Studienkredite und Verschuldung. Das ist nur für diejenigen wichtig, die an einer Uni sind: eine Minderheit in der Gruppe der 99%. Ich war damals im Zuccotti Park, als er von Occupy besetzt war. Auf der einen Seite campierten die überwiegend weißen Studenten, auf der anderen gab es einen kleinen Teil mit Obdachlosen. Diese Gruppen haben nicht miteinander gesprochen, ihre Agenden waren einfach zu verschieden. Der vereinfachte Rahmen der Unterscheidung in 99% und 1% ist schädlich, besonders wenn er zu einer moralischen Abgrenzung zwischen »guten« und »bösen« Menschen stilisiert wird. Moralische Abgrenzung polarisiert.
Cas Mudde bei der Veranstaltungsreihe »Science & Cocktails« am 16. Mai 2017 in Kopenhagen
In liberalen Demokratien bekommen Populisten ein Problem
Du beschreibst typische Sprachmuster von Populisten: »wir« sind die Opfer der herrschenden Verhältnisse. Wie kommt man am besten gegen diese Sprachmuster an?
Cas Mudde:
Es gibt 2 Wege: Für einen kurzfristigen Sieg könnte man sich die Sprachmuster einfach zu eigen machen. Das ist allerdings riskant, denn manche Populisten sind richtig gut: zum Beispiel oder Lässt du dich in der Auseinandersetzung mit solchen Leuten auf Populismus ein, wirst du wahrscheinlich verlieren. Aber selbst wenn du gewinnst: Du schaffst Probleme. Du weckst Hoffnungen in der Bevölkerung, du bestätigst die Konfliktlinie zwischen dem »reinen Volk« und der »korrupten Elite«. Wenn du damit brechen willst – was du in einer solltest – bekommst du ein Problem. Weil du die Welt als eine andere beschrieben hast.
Und der zweite Weg? Wie kann man Populisten langfristig das Wasser abgraben?
Cas Mudde:
Für einen langfristigen Erfolg ist es wichtiger, eine eigene Agenda zu setzen und über die Themen zu sprechen, die für deine Bewegung wichtig sind und damit natürlich für einen signifikanten Teil der Bevölkerung. Im globalen Norden sind die meisten Populisten radikal rechts. Ihre Themen sind Sicherheit, Einwanderung und der Islam. Natürlich gibt es eine Bevölkerungsgruppe, für die das wichtig ist. Es gibt aber eine viel größere Gruppe, der andere Themen wichtiger sind. Der Wohlfahrtsstaat zum Beispiel, oder Arbeit. Sprich über diese Themen! Und sprich deutlich. Nicht vereinfachend, aber klar. Die Welt ist komplex, aber wenn du etwas nicht in ein paar Sätzen erklären kannst, hast du es wahrscheinlich selbst nicht verstanden.
Wie verhalten sich Populismus und Extremismus zueinander?
Cas Mudde:
Sie kommen beide von außerhalb des Mainstreams. Populismus akzeptiert aber Grundprinzipien der Demokratie. Er akzeptiert, dass die Mehrheit ihre Führer wählt. Populisten haben allerdings Probleme mit liberaler Demokratie: mit Minderheitenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung. Extremismus ist in seiner Essenz antidemokratisch. Extremismus ist heute ein marginales Phänomen, es gibt nur ganz wenige Parteien, die mit einer extremistischen Agenda Unterstützer gewinnen. in Griechenland ist eine davon. Die meisten extremistischen Gruppen sind aber sehr klein. Medienaufmerksamkeit bekommen sie nur, weil sie gewalttätig sind.
»Hier ein typisches Beispiel dafür, wie ›Liberals‹ den rechtsradikalen Wald vor (den seltenen) rechtsextremen Bäumen nicht sehen.«
Gretchenfrage an die EU: Wie hältst du’s mit den Populisten?
Du hast 2 Jahre lang an der Central European University in Budapest gelehrt – einer Institution, die der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am liebsten sofort schließen würde. Seine Partei FIDESZ ist eine der erfolgreichsten populistischen Parteien in Europa. Mit Verfassungsänderungen, Druck auf die Medien und dem neuen entfernt sich Ungarn unter Orbáns FIDESZ immer weiter von einer liberalen Demokratie. Inzwischen wird die EU in ihrer Kritik daran immer deutlicher. Wie wahrscheinlich ist es, dass Orbán einlenkt?
Cas Mudde:
Die EU ist für Orbán keine große Gefahr. Merkel könnte ihn zum Einlenken bringen, das wird sie vor den Wahlen aber nicht tun. Die CSU gehört zu seinen größten Fans und Merkel braucht die CSU, um zu gewinnen. Das weiß er und er ist bereit, es auszusitzen. Das Auslösen des mit der Drohung, Subventionen zu streichen, war eine immense Niederlage für Orbán. Allerdings: Unter den Abgeordneten der Europäischen Volkspartei, die gegen das Verfahren gestimmt haben, waren Solange CDU und CSU auf seiner Seite sind, spielt er auf Risiko.
In einem sagtest du, dass du dir um die keine Sorgen machst. Das war 2015. Siehst du das heute noch genauso?
Cas Mudde:
Ich bin ja selbst Euroskeptiker, deshalb mache ich mir um Euroskeptizismus als solchen nicht so viele Sorgen. Obwohl der Brexit meine Meinung ein wenig geändert hat. Die rechtspopulistischen Fraktionen spielen eine marginale Rolle im Europäischen Parlament. Die größte Gefahr für das europäische Projekt als das, was es sein will, nämlich eine Wertegemeinschaft und ein Leuchtturm der Demokratie, kommt aus dem Mainstream: aus der der auch Orbáns FIDESZ angehört. Wenn man in einer solchen Gemeinschaft duldet, ist man scheinheilig. Sollte es jemals eine Präsidentin Le Pen geben, hat man keinerlei moralische Argumente. Was würde man ihr sagen: Du darfst so nicht handeln, mein Freund Viktor aber schon?
Schwächt das die EU?
Cas Mudde:
Die EU ist heute so stark wie schon lange nicht mehr. Brexit und Trump haben eine phänomenale Möglichkeit für die EU geschaffen, sich vorwärts zu bewegen. Macron glaubt an die EU wie lange keiner vor ihm, und Solange Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten, funktioniert die EU. Die Frage ist nur: Werden sich ihre Führer etwas einfallen lassen, ist nicht mehr so populär wie in den 1990er-Jahren. Eine Wertegemeinschaft, Reisefreiheit, Bildung – damit kann die EU inspirieren. Aber nicht, wenn sie illiberale Demokratien in ihren Reihen akzeptiert.
Themen nicht isoliert betrachten
Was können Wissenschaftler tun, um etwas zu bewegen?
Cas Mudde:
Mir folgen viele Journalisten auf Twitter, dessen bin ich mir sehr bewusst. Wenn Wahlen stattfinden, bei denen Populisten eine Rolle spielen, kann ich innerhalb von einer halben Stunde tweeten und weiß, dass meine Sichtweise die Berichterstattung zumindest einiger Medien beeinflusst. Ich habe mich immer an öffentlichen Debatten beteiligt und Kommentare geschrieben. In den letzten 2 Jahren schreibe ich mehr für Medien als für akademische Publikationen. Öffentlich Stellung zu beziehen, ist mir wichtig.
Ich würde mir wünschen, dass mehr Akademiker Themen nicht isoliert betrachten, sondern in ihrem weiteren Kontext. Nur so kannst du einen Beitrag zur Debatte liefern. Man sollte nicht Wissenschaftler werden, weil es ein interessanter Job ist. Wenn du dich nicht um die Gesellschaft als Ganzes sorgst, wirst du wahrscheinlich kein guter Wissenschaftler.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.