Braucht Flüchtlingshilfe eine Religion?
Kompetentere Flüchtlingshelfer oder Missionare – hat die muslimische Flüchtlingshilfe Lob oder Kritik überhaupt verdient?
Als die Flucht von Zehntausenden in der Wiener Altstadt endet, kocht Şerif Obayeri Tee. Viel Tee. Jeden Tag. Monatelang. Als sie merkt, dass sie allein gar nicht genug Tee kochen kann, mobilisiert sie andere zum Tee kochen, Essen zubereiten und Geld sammeln. Und als ein Becher heißer Tee nicht mehr ausreicht, um die Menschen im Winter warm zu halten, organisiert sie Decken, Toiletten und Schlafplätze.
Seitdem immer weniger kommen, die Şerif Obayeri mit einem Becher Tee in Österreich willkommen heißen kann, hilft sie denen, die schon da sind; sie verfasst Asylanträge, organisiert Deutschkurse, sucht Wohnungen. Und all das tut sie, während viele meinen,
Wenn in Deutschland und Österreich von über einer Million Geflüchteter die Rede ist, die im Jahr 2015 über die Balkanroute nach Europa kamen, dann kommt man selten bei Geschichten wie jener von Şerifs Obayeris Teestand am Wiener Westbahnhof heraus. Eher schon bei Aussagen wie vom Vorsitzenden der kurdischen Gemeinden in Deutschland, Ali Ertan Toprak,
Wenig Engagement, Missionierung und der Sog in eine Parallelgesellschaft – wie haltbar sind diese Vorwürfe gegenüber Menschen mit muslimischem Glauben in Zusammenhang mit der Flüchtlingshilfe?
Die Ikone vom Westbahnhof
Wer mit Şerif Obayeri einen Nachmittag in einem kleinen Wiener Café verbringt, bekommt ein Bild von muslimischen Flüchtlingshelfern, das es selten in die Medien schafft: Ihre Erzählungen handeln von
Ich habe ihnen gesagt, wir haben 300 Leute, Kinder, Babys, es regnet, es ist kalt. Die haben gesagt, sie kommen in einer halben Stunde. Ich dachte, die machen einen Scherz. Aber sie kamen wirklich.
Und sie erzählt von sich selbst: Von der Tochter türkischer Eltern, die sich schon immer in der Vermittlerrolle sah. Von der ehemaligen Jura-Studentin, die die Bilder geflüchteter Männer, Frauen und Kinder vor den ungarischen Grenzzäunen nicht mehr ertragen konnte. Von der jungen Frau, die ehrenamtlich zu Wiens wichtigster Flüchtlingshelferin wurde, weil sie ein paar Teekannen übrig hatte: »Wir haben sie so empfangen, wie das bei uns kulturell üblich ist. Da wir eine große Familie haben, haben wir auch viele große Teekannen.«
»Was wollt ihr den Geflüchteten beibringen?«
Was im Chaos des Wiener Westbahnhofs als spontane Kooperation muslimischer Akteure begann, geschieht 600 Kilometer entfernt mit System. Nicht an einem Teestand, sondern vor einer Tasse löslichen Kaffees erzählt Projektleiterin Natalia Loinaz vom
Der Verein versucht, muslimische Initiativen zusammenzubringen, die sich in Berlin für Geflüchtete engagieren. Vertreter von rund 40 muslimischen Projekten aus Berlin haben sich dort bereits am Konferenztisch getroffen: von muslimischer Altenhilfe und Pflegeheimen bis zu Moschee- und Kulturvereinen, von Islamverbänden bis zu muslimischen Psychotherapeuten, von migrantischen Frauenvereinen bis zu Studentengruppen. »Viele helfen Geflüchteten, ohne dass Geflüchtetenhilfe draufsteht«, sagt Natalia Loinaz.
Eine Initiative, bei der es draufsteht,
»Ich finde es wichtig zu sagen: Am Ende ist die Geflüchtetenarbeit der Muslime auch »ganz normale« Geflüchtetenarbeit und keine gesondert muslimische Geflüchtetenarbeit«, betont Natalia Loinaz. Einen Vorteil hätten Projekte wie Wegweiser dennoch:
Die Integrationsarbeit, die wir leisten, leben wir auch selbst vor. Es gibt schon Organisationen, da frage ich mich: ›Was wollt ihr den Geflüchteten beibringen, wenn ihr das selbst nicht einmal lebt?‹ Ich finde, das ist ein Widerspruch.
Beispiele dafür, dass muslimische Institutionen gerade dort einspringen, wo Behörden versagen, gibt es viele: Als im wohlhabenden Hamburg immer mehr Geflüchtete in Zelten schlafen mussten,
Die muslimischen Ehrenamtler erarbeiteten sich schnell einen so guten Ruf, dass ihnen der Berliner Senat kurzerhand auch offiziell die Verwaltung einer städtischen Erstaufnahmeeinrichtung übertrug.
Missionieren leicht gemacht?
Auf der sonnigen Terrasse eines Apartmentgebäudes nippt einer der renommiertesten deutschen Migrationsforscher an einem Glas Sprudelwasser.
Muslimische Flüchtlingshelfer würden aufgrund »ähnlicher Religion oder auch Sprachkompetenz oft eine Brückenbauer- oder Vermittlungsfunktion« einnehmen. Von Missionierung sei bei den von ihm untersuchten Initiativen »nichts zu spüren« gewesen, sagt Schiffauer. Stattdessen ginge es meist um ganz praktische Hilfe: »Die Projekte entstehen aus der Not. Die Flüchtlinge kommen zu den Moscheen, nicht andersherum.«
Zum »besonderen Wert« muslimischer Flüchtlingshilfe komme hinzu, dass sich muslimische Gemeinden meist ausschließlich aus Spenden finanzieren, betont Schiffauer. »In christlichen Gemeinden ist das Rückgrat sozusagen ausfinanziert und das Ehrenamt tritt komplementär hinzu. In muslimischen Gemeinden werden fast alle Funktionen von Ehrenamtlern getragen, das bedeutet, dass die Ressourcen schneller erschöpft sind.«
Was an den Vorwürfen von Kritikern der muslimischen Flüchtlingshilfe dran ist? »Haben die empirische Daten?«, fragt Werner Schiffauer. »Na, sehen Sie.« Denn die Daten, die über muslimische Flüchtlingsarbeit vorliegen, bestätigen nicht das Klischee vom Glaubensbruder, der mal untätig bleibt, mal nur auf Missionierung aus ist.
Auf dem Weg zum glokalen Selbstverständnis
Die konkrete Flüchtlingsarbeit wird durch die Skepsis erschwert. »Nach 3 Tagen begannen die Streitigkeiten, ob wir mit unserem Teestand dastehen dürfen«, erinnert sich Şerif Obayeri daran, als am Wiener Westbahnhof eine große christliche Wohlfahrtsorganisation mit Verweis auf »Sicherheitsbedenken« versuchte,
»Viele Muslime denken, dass man gute Taten geheim halten und Lob vermeiden soll.«
»Die Anerkennung für das, was wir tatsächlich machen, ist gering«, sagt auch Natalia Loinaz von Inssan und räumt ein, dass Muslime dafür zumindest zum Teil mitverantwortlich seien: »Viele Muslime denken, dass man gute Taten geheim halten und Lob vermeiden soll. Aber was passiert, wenn man das durchzieht und gleichzeitig Muslime überall negativ dargestellt werden?«
In Zukunft wolle Inssan deshalb stärker versuchen, den Nutzen muslimischer Flüchtlingsarbeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Nicht nur den für Geflüchtete. »Wir haben mittlerweile auch sehr viele nicht-muslimische Mentoren. Ich glaube, für manche ist das so eine Art Statement. Seht her, ich bin gegen AfD, Pegida und Trump und unterstütze deshalb eine muslimische Organisation.«
Auch Migrationsforscher Schiffauer stellt fest, dass Flüchtlingsarbeit in 2 Richtungen wirken kann. Sie integriere nicht nur Geflüchtete in die Kultur ihrer neuen Heimat, sondern auch Deutsche in die multikulturelle Realität ihres Landes – das ist praktisch Integrationsarbeit für Einheimische. Schiffauer spricht von einer neuen
Das ist ein anderes lokales Selbstverständnis, als es bisher war,
Auch Şerif Obayeris Integrationsarbeit hat nicht nur Geflüchtete zum Ziel. Anderthalb Jahre nachdem sie ihren kleinen Teestand am Wiener Westbahnhof aufgebaut hat, will sie in Zukunft auch Österreichern ohne Migrationshintergrund die gemeinsamen Rechte näherbringen. Für die »niederösterreichische Landesausstellung« erklärt die Juristin, der aufgrund ihres Kopftuchs der Weg zur Richterin verwehrt bleibt, Neu- und Alt-Österreichern die Geschichte des österreichischen Rechtssystems.
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