Wetten: Du weißt nicht, aus welchem Land derzeit die meisten EU-Einwanderer kommen!
Migranten, Geflüchtete, Gastarbeiter – auf eine Million Ukrainer in der EU trifft kein Begriff so richtig zu. Spricht deshalb keiner über sie?
Am 11. Juni 2017 landeten Flugzeuge aus Kiew in Warschau, Prag und München. An Bord: Hunderte Ukrainerinnen und Ukrainer, die einen historischen Tag erlebten. Außer ihrem Reisepass mussten sie bei den Kontrollen nichts vorweisen. Seit Juni 2017 brauchen Bürger der Ukraine kein Visum mehr, wenn sie in die EU einreisen. Kein Schlangestehen vor der Botschaft, keine kritischen Blicke an der Grenze. 90 Tage dürfen sie bleiben – für Urlaubsreisen, Business-Trips oder Verwandtenbesuche.
»Es fühlt sich gut an, ohne Beschränkungen reisen zu können«, sagt eine Ukrainerin, die nach ihrer Ankunft am Prager Flughafen von einem Fernsehteam interviewt wird. »Es zeigt, dass wir den anderen Europäern gegenüber endlich als gleichwertig betrachtet werden!«
Auch die italienische EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini kommentierte den historischen Moment. »Wir bauen heute eine Barriere ab zwischen den Bürgern der Ukraine und den Bürgern der EU«, sagte die Diplomatin am Abend zuvor in einer Videoansprache.
Schaut man sich die Einwanderungsstatistiken der letzten Jahre an, wundert man sich jedoch ein wenig über die Aussage Mogherinis. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer sind schon längst da. Allein im Jahr 2015 erhielten 500.000 von ihnen ganz offiziell eine Aufenthaltserlaubnis in der EU. Die meisten von ihnen suchen Arbeit in Polen und Tschechien, wo sich seit den 1990er-Jahren ein ganz eigener »ost- und zentraleuropäischer Migrationsraum« ausgebildet hat, wie die Wissenschaftlerinnen Olena Fedyuk und Marta Kindler schreiben. Sie stellen fest, dass die Ukrainer in den europäischen Debatten um Migration weitgehend ausgeblendet werden –
Was macht es mit einem Land, wenn Millionen Bürger temporär oder über Jahrzehnte hinweg Hunderte Kilometer zwischen Arbeitsort und Familie pendeln?
Für 2 Euro die Stunde auf dem Bau
Im April 2017 bestellt der heute 27-Jährige in einem Prager Biergarten einen Latte Macchiato. Er kommt gerade von seinem Job als Hausmeister in einem Hostel, trägt Jogginghose, Augenbrauenpiercing, seine Haare sind zu einer Igelfrisur gegelt. Er mag seine Arbeit, wohnt mit seiner Freundin und 3 anderen Bekannten in einer ganz normalen 2-Zimmer-Wohnung.
Als Mykola das erste Mal in Tschechien arbeitete, war er gerade 15 Jahre alt und nutzte die Sommerferien in der Schule für Schreinerarbeiten in einer tschechischen Kleinstadt, wo schon sein Vater Arbeit gefunden hatte.
Mit 17 kam er wieder. Lange Zeit konnte er sich nur wenig leisten. Als Minderjähriger arbeitete er ohne Vertrag und Versicherung für 45 Tschechische Kronen (heute wären das knapp 2 Euro) die Stunde für einen Subunternehmer des größten tschechischen Bauunternehmens. Damals schlief er in einem Wohnheim, die stattliche Miete für das Bett im Schlafsaal kassierte sein Chef. »Wir waren sehr viele Ukrainer auf dem Bau«, erzählt Mykola. »Wir haben alles gemacht, was immer uns gesagt wurde. 3 Monate habe ich gearbeitet, dann bin ich wieder nach Hause.« Das Touristenvisum war abgelaufen. Seitdem hat er alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft: Er hat mit einem polnischen Visum in Tschechien gearbeitet, schließlich bekam er ein Studentenvisum, heute ist er als Selbstständiger registriert.
Die meisten Ukrainer und Ukrainerinnen, die als Bauarbeiter, Handwerker oder Putzfrauen in Tschechien arbeiten, pendeln. Sie suchen keine neue Heimat, sondern hoffen darauf, dass die Situation zu Hause irgendwann besser wird.
Ich wollte mehr. Schön wohnen, mir auch mal etwas kaufen. Mir war egal, ob ich auf dem Bau arbeite oder irgendwo anders. In Tschechien kann ich normal Geld verdienen, zu Hause ging das nicht.
Jobs gibt es auch in der Ukraine. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 10% und entspricht somit
Eine Million ukrainische Geflüchtete?
Auch wenn
Die
Polnische Arbeitsvisa für alle!
Ukrainer brauchen erst seit dem Jahr 2003 überhaupt ein Visum, um in Polen arbeiten zu dürfen – in Vorbereitung des Beitritts zur EU (2004) und zum
In Prag, wo Mykola in Hostels und Hotels Toiletten repariert, Klimaanlagen entlüftet und neues Mobiliar zusammenzimmert, ist Schwarzarbeit dank neuer Gesetze und strenger Kontrollen heute bedeutend schwieriger als früher. Es gibt aber noch immer Lücken im System, von denen Arbeitgeber reichlich Gebrauch machen. Mykola und viele seiner Kollegen und Freunde sind scheinselbstständig. Sie arbeiten mit einem Gewerbeschein und stellen ihrem Arbeitgeber am Ende des Monats eine Rechnung. Das hat auch für sie finanzielle Vorteile – versichern müssen sie sich allerdings selbst, und gesetzlich verankerte Arbeitnehmerrechte stehen ihnen so natürlich auch nicht zu. Wer krank ist und auf Risiko gespielt hat, hat Pech.
Mykola hat sich trotzdem für diese Option entschieden. »Solange ich meine Steuern zahle, ist doch alles okay. Manche Ukrainer sind aber 10, 20 Jahre hier und bezahlen ihre Steuern nicht. Irgendwann kriegen sie dann Probleme.« Das Leben in der Halblegalität erfordert auch Geschick im Umgang mit der Bürokratie.
Pendeln als Dauerzustand
Mykola hat in den letzten Jahren in Prag genug gespart, um zusammen mit 2 Freunden ein Restaurant in seinem Heimatort nahe der rumänischen und slowakischen Grenze eröffnen zu können. So richtig gut läuft es noch nicht. Das Pendlerdasein geht für ihn erst mal weiter. Inzwischen sieht er Prag als ein zweites Zuhause. Das liegt vielleicht auch daran, dass er hier nicht allein ist: Seine Mutter arbeitet für dieselbe Hostelkette.
Warum der Ukrainer und seine Familie nach Tschechien gekommen sind? Eine wichtige Rolle spielt die Sprache. »Ukrainer lernen schnell Tschechisch«, bestätigt er. Sein Heimatort Rachiw habe zudem früher zur Tschechoslowakei gehört, es gebe also auch eine historische Nähe. Zudem gibt es für die Ukrainer in Prag und anderen tschechischen Städten – ebenso wie in Polen – etablierte Netzwerke. Hoteliers müssen nicht inserieren, wenn sie neue Zimmermädchen suchen. Die, die schon da sind, bringen Freundinnen und Verwandte mit.
Früher war für die meisten klar, dass sie zurückgehen, sobald es möglich ist, erzählt Mykola. Seitdem die Ukraine mit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg im Osten von einer Krise in die nächste taumelt, hat sich etwas in der Routine verschoben. »Viele Leute, die können, bleiben hier. Vorher haben alle in ihren Heimatorten Häuser gebaut oder die Kinder an die Uni geschickt. Diejenigen, die eine dauerhafte Aufenthaltsbestätigung haben, kaufen jetzt in Tschechien Immobilien, nehmen Kredite auf usw. Früher sind 90% zurückgegangen, jetzt sind es vielleicht noch 60%«, schätzt er.
Wenn es in der Ukraine gut bezahlte Arbeit gäbe, würden 99% wieder nach Hause fahren. Wir reden ständig darüber.
Dass es eines Tages so kommen könnte, fürchten viele polnische und tschechische Arbeitgeber, die auf die ukrainischen Migranten angewiesen sind. Die Arbeitslosigkeit in beiden Ländern ist auf dem niedrigsten Stand seit dem Jahr 1991, viele offene Stellen können nicht besetzt werden. Ukrainer als billige Arbeitskräfte aus dem Osten helfen dabei – wie umgekehrt Polen, Rumänen und Bulgaren bei uns in Deutschland.
Und wer deckt die ukrainischen Dächer?
Wir laufen und beten für die Wiedervereinigung der Familien. Und auch für die Regierung, damit sie Gesetze erlassen kann, die Jobs für uns in der Ukraine schaffen. Damit wir hier genug zum Überleben verdienen und nicht so weit weggehen müssen.
Eine Frau mit blau-gelbem Halstuch steht in einer ukrainischen Kleinstadt vor der Kamera. Den ganzen Tag ist sie über staubige Landstraßen gelaufen. Sie nimmt an einer einzigartigen Pilgerreise teil, über die die Migrationsforscherin Olena Fedyuk den Dokumentarfilm Road of a migrant gedreht hat. Organisiert wird die jährliche Wallfahrt von ukrainischen Arbeitsmigranten und ihren Familien, die ihr Leid und ihre Erfahrungen durch Austausch und mithilfe der Kirche zu verarbeiten suchen.
Eines der Themen, das sie beschäftigt: Wer kümmert sich in der Ukraine um Alte und Kinder, wenn Mütter und Väter sich um die Großeltern polnischer und tschechischer Familien kümmern? Der »Care Drain« und vor allem »Eurowaisen«, Kinder, die von ihren
Zudem sind die mobilen Ukrainer oft gut ausgebildet, Mykola ist mit seinem Studium der Wärmetechnik keine Ausnahme. Manchmal sind es Juristen oder Volkswirtschaftlerinnen, die in Prag Rohre verlegen oder Betten aufschütteln. Statistiken dazu gibt es allerdings keine, inwiefern ein »Brain-Drain« die wirtschaftliche Situation in der Ukraine beeinflusst, kann also nicht mit Sicherheit bestimmt werden.
Putin gefällt das nicht
Volkswirtschaften profitieren von Migration: Briten und Deutsche von den Polen, Polen von den Ukrainern. Diese stehen momentan am Ende dieser Kettenreaktion, von der am Ende ganz Europa profitiert. Die Lücken, die ukrainische Gastarbeiter zu Hause hinterlassen, schließt niemand. Steht dafür jemand in Warschau, Prag, Brüssel oder Berlin in der Verantwortung – und wenn ja: Wie kann man ihr gerecht werden?
Die Visa-Liberalisierung wird weder die ukrainische Wirtschaft ankurbeln, noch den Krieg im Osten beenden. Für die Ukrainer ist sie aber ein wichtiges Symbol.
Wir haben so lange darauf gewartet. Dieser 11. Juni wird in die Geschichte der Ukraine als der Tag des finalen Abschieds unseres Landes vom russischen Imperium eingehen – und als Rückkehr in die Familie der europäischen Nationen.
Der Wunsch nach europäischer Anbindung war es auch, der im Jahr 2013 in Kiev die Massen auf den
Putin gefällt das nicht. Er sieht die Ukraine als Teil der russischen Einflusssphäre und hätte das Land lieber in der Eurasischen Wirtschaftsunion gesehen als
»Wir sprechen in der Familie viel über den Krieg. Wenn Russland sich zurückzieht, wird alles gut.« – Mykola Prokipiuk
Er setzt große Hoffnung in ein Verfahren, das am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen Russland läuft. »Wird Russland verurteilt und zieht sich nicht zurück, wird die ganze Welt Russland mit Sanktionen belegen. Die
Im August 2017 ist der Stand wie folgt: Das UN-Gericht hat Russland dazu aufgefordert, die Rechte der Ukrainer auf der besetzten Krim zu respektieren. Ob Russland im Osten mit den Separatisten Terror unterstützt? Bislang nicht bewiesen.
Vorerst schwankt die Ukraine weiter zwischen den Sphären. Seit dem 11. Juni ist sie der EU immerhin ein bisschen nähergekommen.
Titelbild: Evgeny Feldman - CC BY-SA 3.0