Fast alles, was dir über Begehren beigebracht wurde, ist falsch
Eine Sexualtherapeutin räumt mit schädlichen Mythen auf. Ihr neues Buch hilft dir dabei, glücklicher und erfüllter gemeinsam Spaß zu haben.
Was ist richtig guter Sex?
In einem Kinofilm sehen Sexszenen meist so aus: 2 Menschen, die sich wahrscheinlich erst kurz kennen, reißen sich in knisternder Begierde gegenseitig die Kleidung vom Leib, stürzen ins Schlafzimmer und fallen leidenschaftlich übereinander her. Es sprühen die Funken. Schnitt. In der nächsten Szene liegen sie verschwitzt wie nach Hochleistungssport nebeneinander und sind beide zufrieden.
Sieht so guter Sex aus?
Nein, sagt Emily Nagoski. Die US-amerikanische Autorin, Sexualpädagogin und Sexualwissenschaftlerin weiß genau, wovon sie spricht. Sie kennt zahlreiche Paare, die dieser Vorstellung von »Kinosex« hinterherjagen und dann in eine Krise stürzen. Denn was passiert, wenn die Leidenschaft der Anfangstage schwindet und man die andere Person richtig kennt? Wenn die Neugierde sinkt und der Alltag einsetzt, der Stress, der Job, vielleicht die Kinder? Sex muss geplant werden – das wirkt anstrengend und klingt unerotisch –, da ist es doch kein Wunder, wenn es nicht mehr so recht klappt …
Dem widerspricht Nagoski vehement: Das alles – auch die Idee von gutem Sex in der Jugend und wenig Sex im Alter – seien Vorstellungen in unseren Köpfen, die uns beigebracht wurden, die in Kinofilmen, Büchern und dem Internet nachhallen und die Beziehungen sogar schaden können. Als Wissenschaftlerin hat sie untersucht, was ein erfülltes Intimleben wirklich ausmacht. In ihrem berühmten Buch Komm, wie du willst beleuchtete sie schon 2015, was die Forschung darüber herausgefunden hat, speziell für Frauen. Ihr neues Buch Kommt zusammen! widmet sich langfristigen Beziehungen (in jeder Konstellation) und räumt wieder mit allerhand schlechten Ideen und schädlichen Mythen auf. Es ist ein Augenöffner für Paare, Singles und vor allem jene, die ihre Sexualität irgendwie aufgegeben haben.
Ich habe es gelesen.
Als praktizierende Sexualwissenschaftlerin verfolge ich einen eher nerdigen Ansatz: Ich vertiefte mich in die von Fachleuten erstellten Forschungsergebnisse. Was ich dort fand, widersprach all den weit verbreiteten (aber falschen!) Narrativen, wie man den Funken der Leidenschaft am Leben erhält.
Viele Menschen wissen einfach nicht, was guten Sex ausmacht
Die Häufigkeit, regelmäßige Orgasmen, Abwechslung, sexy Kleidung, körperliche Attraktivität, Fitness und natürlich gute Technik – nichts davon definiert oder garantiert dauerhaft ein erfülltes Intimleben. Da ist sich Emily Nagoski sicher.
Denn sie hat mit vielen Menschen gesprochen, die diesen Ideen von Sexualität nachjagen und trotzdem unglücklich mit dem eigenen Intimleben sind. Diese Menschen kommen zu Nagoski und berichten von ihrer Sexualität wie von einem Problem, das gelöst werden muss. Ihre Antwort wird wie ein Mantra in ihrem neuen Buch Kommt zusammen! immer wieder wiederholt: »Ihre Sexualität ist kein Problem, das Sie zu lösen haben, oder eine Störung, die zu behandeln wäre.«
Als Sexualpädagogin weiß Nagoski nämlich, dass Menschen oft unglücklich mit ihrem Intimleben sind, weil sie an einer Vorstellung davon festhalten, was »normal« ist. Dabei kann wirklich niemand in die Schlafzimmer anderer Leute schauen! Um diese Ideen der »Normalität« zu dekonstruieren und zu verlernen, gibt Nagoski nicht nur viele Beispiele von Beziehungen im Buch, sondern vor allem eine einfache und einprägsame Metapher:
Mit dem Tag Ihrer Geburt an wurde Ihnen ein vollkommen unbenutztes Areal mit reichem, fruchtbaren Boden geschenkt – der Garten Ihrer Sexualität. Und umgehend begann Ihre Familie, dort Vorstellungen von Körperlichkeit, Gender, Sex und Vergnügen, Vorsicht und Liebe zu pflanzen. Ihr jeweiliges kulturelles Umfeld siedelt Fremdes an – [das] sich wie Giftefeu unter dem Zaun hindurch und über die schützende Gartenmauer hinweg ausbreitet.
Da wären – um im Bild zu bleiben – Schädlinge wie Bilder aus Pornos und von »Kinosex«, Schlingpflanzen der Scham und Unkraut der Schönheitsideale. Und so kommt es, dass die meisten Gärten heute »ziemlich toxischen Müll« enthalten, wie Nagoski attestiert. Doch darin liegt auch eine Chance, den eigenen Garten zu pflegen und zu einer besseren »sexuellen Denkweise« zu finden. Um dorthin zu gelangen, gibt Nagoski einen Überblick über die Forschung über Paare, die über einen langen Zeitraum eine sexuell erfüllte Beziehung führen. Und diese findet immer wieder 3 entscheidende Merkmale:
- Freundschaft: Das meint gegenseitiges Vertrauen und Bewunderung.
- Sex als Priorität: Die Personen entscheiden sich dafür, dass Sex wichtig für sie ist und sie dafür Raum und Zeit reservieren, statt Fernsehen zu schauen.
- Ein eigener Weg: Die Paare haben die gesellschaftlichen Ideen und Mythen über Bord geworfen und für sich herausgefunden, was ihnen Vergnügen bereitet.
»Ich liebe Wissenschaft. Sie ist ein starkes Gegengift für falsche, moralische Botschaften über Sex.« – Emily Nagoski
Daraus leitet Nagoski ab, was tollen Sex tatsächlich ausmacht: »Es geht einfach darum, ob Sie den Sex mögen, den Sie haben.« So einfach kann es sein.
Aber wie kommen wir dahin? Darauf hat Nagoski viele praktische Antworten. Manche davon sind sogar ein Perspektivwechsel für weit mehr als nur Intimität.
Eine zentrale Frage über Sex, die dir die Augen öffnen kann
»Sex ist doch irgendwie albern«, beginnt Nagoski das Kapitel Warum überhaupt Sex?. Aufeinandergepresste Münder, Haut, die an Haut reibt. »Wir hüpfen und grunzen und zucken und schwitzen.« Und unsere Gesellschaft und Kultur verstecken dies einerseits verschämt – und machen trotzdem ein Aufsehen darum, als sei Sexualität das Wichtigste auf der Welt.
So kommt, was kommen muss: Menschen schämen sich still, wenn der Sex ausbleibt. Nagoski schreibt da aus Erfahrung, denn im Buch berichtet sie von einer vergangenen Beziehung, in der dies genau der Fall war. Eine Katastrophe für eine Sexualpädagogin? Natürlich nicht – das ist auch nur so ein Mythos. Nagoski wird nicht müde, zu betonen, dass Menschen völlig gesund und normal sind, egal wie ihr Verhältnis zu Sex ist: Ob sie viel oder wenig oder gar keinen davon haben oder haben wollen. Es gibt laut Nagoski keine »Norm«, die man erfüllen muss – Sex ist eine schöne Sache, ausgehandelt zwischen 2 oder mehr Personen und ihren Bedürfnissen.
Und damit dieses Aushandeln gut klappt, hat Nagoski eine Augenöffner-Frage bereit: Warum willst du mit einer Partnerperson Sex haben?
Tipp: Die Antwort lautet grundsätzlich nicht ›einen Orgasmus‹. Wenn Sie einen Orgasmus wollen, dann gönnen Sie sich einen. Das kriegen Sie alleine hin.
Bei Sex geht es nämlich um viel mehr als um aneinanderreibende Haut. Es geht um viel tiefersitzende Bedürfnisse, wie Nagoski aus jahrelangen Gesprächen mit Paaren herausdestillierte. Das sind – sehr verkürzt wiedergegeben – die häufigsten Antworten:
- »Es geht mir um eine tiefere Verbindung mit meiner Partnerperson.«
- »Ich möchte gemeinsames Vergnügen erfahren und für alle Beteiligten erzeugen.«
- »Ich möchte begehrt werden und dass meine Partnerperson mich wertschätzt.«
- »Ich möchte eine Auszeit vom Alltag haben, in der ich ganz aufgehe und mich frei fühle.«
All diese Dinge kann man vielleicht mit Sex erfüllen – aber auch anders. Niemand muss Sex haben! Und laut Nagoski ist genau das der erste und wichtigste Schritt: »Aufzuhören, zu versuchen, Sex zu wollen oder zu mögen.« Was sie damit meint, ist Folgendes: Erst wenn wir uns von gesellschaftlichem Druck, von Normen und Erwartungen frei gemacht haben, können wir uns auf das konzentrieren, was wir selbst und unsere Partnerperson wirklich wollen – und wie sich das erreichen lässt.
Dafür ist offene Kommunikation natürlich zentral. Doch auch dabei gibt es wieder schädliche Mythen, Missverständnisse und Sackgassen. Deshalb verbringt Nagoski einen Großteil des Buches damit, wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzutragen, wie Sexualität wirklich funktioniert – damit alle Beteiligten wissen, worüber sie reden.
Diese 3 Erkenntnisse machen dein Intimleben sofort besser
Dieser Zwischentitel ist wirklich gewagt, doch ich meine ihn ehrlich. Als ich 2023 zum ersten Mal in einem Podcast von Nagoski hörte und wie viele Menschen begeistert von ihren Büchern erzählen, die »so viel verändern«, war ich skeptisch. Immerhin bin ich ein verheirateter cis-Mann, der seit über 24 Jahren langjährige Beziehungen führt. Vielleicht habe ich das Buch gerade deshalb überhaupt erst gelesen, um mich herauszufordern und mein Wissen zu überprüfen. Und tatsächlich waren mir die folgenden, auf Forschung basierenden Erkenntnisse über menschliche Sexualität, die Nagoski in ihrem Buch darlegt, in dieser Klarheit und mit neurowissenschaftlichen Hintergründen neu. Genau deshalb finde ich Kommt zusammen! sehr lesenswert. Es ist wie eine moderne Bedienungsanleitung für die eigene Sexualität.
- Gaspedal und Bremse: Der menschliche Verstand hat 2 Elemente, die sexuelles Verlangen steuern. »Ein Gaspedal und eine Bremse«, wie es Nagoski bildlich nennt. Das Gaspedal registriert ständig unbewusst alle sexbezogenen Reize (etwa den Geruch der Partnerperson, eine Berührung, den Blick auf ein Körperteil). Dem gegenüber steht die Bremse, die beständig alles registriert, was dagegenspricht, angeturnt zu sein (etwa Stress, Sorgen, Ängste, Pflichten). Was die jeweiligen Hebel auslöst, kann von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein und sich in Lebensphasen verändern. Nagoski schlägt vor, dass sich Paare folgende Frage stellen: »Wie können wir einen Kontext schaffen, der das Gaspedal aktiviert und im besten Fall weniger oft bremst?«
- Spontan vs. reaktiv: Menschen assoziieren Sexualität oft mit dem Gefühl des aufflammenden Begehrens. Das nennt Nagoski das »Begehren-Narrativ«, was spontanes Begehren als Ideal in den Mittelpunkt stellt. Und da wären wir wieder beim »Kinosex«. Doch genau dieses Narrativ stellt Normen und Ansprüche in den Mittelpunkt: Wer nicht spontan übereinander herfallen kann, begehrt einfach zu wenig. Schon sind wir wieder bei Problematisierungen und Schuldzuweisungen. Doch Sexualforscher:innen wie Nagoski weisen darauf hin, dass es noch ein anderes Begehren gibt: »reaktives Begehren«. Darunter versteht man die »Offenheit, Lust zu erkunden und zu sehen, wohin das führt«. Und manche Menschen entwickeln einfach sehr wenig spontanes Begehren und mehr reaktives Begehren – »auch das ist normal und beides gleich gut«, so Nagoski. Deshalb ist geplanter Sex, notfalls mit Babysitter und Terminkalender, nicht weniger gut als »Kinosex«. Erlaubt ist, was funktioniert. Manche Sexualforscher:innen vermuten sogar, dass reaktives Begehren entscheidender für guten Sex in einer dauerhaften Beziehung ist. Nagoski gibt eine Metapher mit auf den Weg, um das zu verinnerlichen:
Spontanes Begehren ist, als würdest du spontan in der Nacht mit Heißhunger aufwachen und denken: Da ist noch köstlicher Kuchen im Kühlschrank! […] Reaktives Begehren ist wie der Besuch einer Party, auf der es leckeren, köstlichen Kuchen gibt. Klar, anfangs hat man vielleicht das Gefühl, dass man nur da ist, weil man zugesagt hat, aber wenn man erst mal da ist und den Rhythmus der Musik hört und die lachenden Gesichter sieht, […] macht man mit Vergnügen mit.
- Es geht eigentlich um Vergnügen, nicht um Begehren: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Begehren (»Ich will etwas«, Gier, Ehrgeiz) im menschlichen Gehirn ganz
Nagoskis Buch Kommt zusammen! enthält noch mehr: etwa Zeichnungen, Anekdoten, Studienverweise, Einblicke in erfolgreiche Beziehungen, Nagoskis ganz persönliche Anleitung, wie sie wieder den Weg zu gutem Sex gefunden hat – und einen ganzen Anhang mit einfachen Antworten auf noch offene Fragen. Vor allem aber enthält es im Kern eine beruhigende Nachricht:
In jeder Langzeitbeziehung ist es nicht nur normal, sondern unvermeidlich, dass es eine Zeit gibt, in der die Partnerpersonen unterschiedliches Interesse an Sex haben, unterschiedliche sexuelle Erfahrungen machen wollen und unterschiedliche Fähigkeiten haben, sexuell zu sein. Alles normal. Und kein Problem.
Und überhaupt, was heißt schon normal? Nagoski sagt dazu: »Vielleicht fragen Sie sich, was laut Wissenschaft die ›normale‹ Häufigkeit von Sex bei Paaren in einer Langzeitbeziehung ist. Die Antwort: Wen kümmert’s? Was um alles in der Welt haben Leute, die an einer entsprechenden Studie teilgenommen haben, mit Ihnen und Ihrem Sexleben zu tun? Nichts, Leute. Niente. Punkt.«
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily