Die Pflegerevolution kommt zu dir nach Hause
Sie kommt aus den Niederlanden und heißt »Buurtzorg«. Ihre Mission: Menschen besser pflegen als Akten – und dabei Kosten sparen.
Jeder, der schon einmal in einem Altenheim zu Besuch war, hat wohl ähnliche Erfahrungen gemacht: die eigentümliche Mischung aus abgestandener Luft und Desinfektionsmittel, die immer gleichen, anonymen Gänge und das irgendwie befreiende Gefühl, wenn man wieder heimgehen kann.
Dabei verdrängen wir allzu leicht, dass die meisten von uns eines Tages vom Besucher zum Bewohner werden könnten. Möchtest du deinen Lebensabend an so einem Ort verbringen?
Oder ziehst du deine eigenen 4 Wände vor?
80% der Menschen wollen zu Hause alt werden.
80% der Menschen wünschen sich laut einer aktuellen Befragung genau das: DAK-Pflegereport (2016) möglichst lange zu Hause zu bleiben.
Aber ist in Zeiten des Pflegenotstand in Deutschland – Überlastet, ausgebrannt und weg – Tagesschau (2017) »Pflegenotstands« überhaupt Platz für Wünsche, wenn Pflegekräfte – Zur Bürokratie in der Altenpflege in Deutschland – Zeit Online (2014) frustriert von Bürokratie und Zeitdruck – schon längst zur Mangelware geworden sind?
Ein Konzept mit dem Namen
stellt in den Niederlanden bereits seit über 10 Jahren unter Beweis, dass es anders geht. Statt Papierkrieg, Stress und Kostendruck setzt man bei unseren Nachbarn auf Vertrauen, Menschlichkeit und Kooperation. Kann das auch bei uns gelingen?Buurtzorg – besser, günstiger, einfacher
Die Revolution der Altenpflege nahm 2006 in Enschede ihren Anfang: Jos de Blok, Gründer von Buurtzorg und selbst Pfleger, begann mit einem Team von 4 Mitarbeitern, Menschen in ihrem Zuhause zu versorgen. Das Besondere daran: Das Buurtzorg-Team bot nur eine einzige Leistung an – Pflege. Nicht im Angebot waren hingegen
wie »Teilwaschen« (Leistungskomplex 2 – 1), »Überwachung von Ausscheidungen« (Leistungskomplex 3 – 4) oder »Körper- und situationsgerechtes Lagern / Betten« (Leistungskomplex 7 – 3).
So setzte Jos de Blok ein Ausrufezeichen gegen dieses durchbürokratisierte Pflegesystem, in dem die Versorgung alter und kranker Menschen zu einem Produkt geworden und der Patient nichts weiter als ein Leistungsempfänger war. Buurtzorg ist radikal anders: Es ist kein Unternehmen, sondern eine Non-Profit-Organisation, frei von Effizienzregeln irgendwelcher Managementberater. Und damit auch frei von Managern, Dienstleitern und Zeitvorgaben.
Buurtzorg hat die Pflege in den Niederlanden revolutioniert – ganz ohne Manager und Zeitvorgaben.
Die Teams aus maximal 12 Pflegeprofis organisieren fast alles selbstständig. Sie teilen das Personal ein und planen ihre täglichen Touren. Unter dem Motto »Menschlichkeit statt Bürokratie« hat Buurtzorg so den gesamten Pflegebereich in den Niederlanden revolutioniert: In den letzten 10 Jahren haben sich 800 Teams mit über 10.000 Pflegekräften neu gegründet und versorgen inzwischen über 70.000 Patienten. Beide Seiten – Pflegekräfte und Patienten – ProCare – »Buurtzorg Nederland« – Ein innovatives Modell der Langzeitpflege revolutioniert die Hauskrankenpflege (2015) sind hochzufrieden mit diesem System.
Spätestens jetzt mag man sich fragen, was das alles gekostet haben muss. Die Antwort: weniger als das alte System. Zwar steigen die Kosten pro Stunde leicht an, die Gesamtzahl der benötigten Pflegestunden sinkt jedoch Buurtzorg – Umbruch im Nachbarland – Zeitschrift für Allgemeinmedizin (englisch, 2016) um bis zu 50%. Um das Pflegeimperium zu verwalten, braucht Buurtzorg zudem keinen prunkvollen Hauptsitz mit schicker Glasfassade. Man begnügt sich mit einem unscheinbaren Gebäude in einem Gewerbepark bei Amsterdam und gerade einmal 45 Verwaltungsmitarbeitern.
Kritik am Modell übt vor allem die Pflegekonkurrenz: Buurtzorg-Patienten seien bei unvorhergesehenen Ereignissen dann doch auf die Hilfe klassischer Pflegedienste angewiesen – und würden sogar häufiger in der Notaufnahme landen. Zudem würden sich die Teams nur besonders The Commonwealth Fund – Case Study: The Netherlands’ Buurtzorg Model (englisch, 2015) Fallstudie jedoch keine Belege gefunden werden.
herauspicken. Für diese Anschuldigungen konnten in einerInternationales Interesse ließ nicht lange auf sich warten. Inzwischen wird Buurtzorg in 24 Ländern erprobt, darunter The Guardian – Buurtzorg: the Dutch model of neighbourhood care that is going global (englisch, 2017) Großbritannien, Schweden, Japan, China und den USA.
Mit dem sich seit Jahren verschärfenden Deutschlandfunk – Pflegenotstand: Zehntausende haben den Beruf verlassen (2017) Pflegenotstand im Nacken ist auch das deutsche System reif für die Revolution.
Altenpflege in Deutschland – Kontrollzwang statt Vertrauen

Von den Zuständen in den Niederlanden können Altenpfleger in Deutschland zurzeit nur träumen. Die Krankenkassen und Ärzte geben den Pflegekräften bei uns genau vor, was sie tun dürfen: Essen zubereiten, waschen,
– alles in kleinteilige Leistungskomplexe zerlegt, für die jeweils eine genaue Zeitvorgabe und ein Die Pflegefachkräfte dürfen daher nur genau das machen, was verordnet wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass sie stets unter Druck stehen. Brauchen sie länger als vorgegeben, wird das dem Pflegedienst nicht bezahlt und es droht Ärger mit dem Pflegedienstleiter: Die Zeiten müssen eingehalten werden, Mehrarbeit wird von der Kasse nicht bezahlt.Udo Janning kennt die Probleme des Systems. In seinen 26 Jahren Berufserfahrung hat er beide Perspektiven kennengelernt – er war sowohl als Altenpfleger als auch als Pflegedienstleiter tätig. Heute ist er bei einem ambulanten Pflegedienst für die Koordination des ersten Buurtzorg-Pilotprojekts im münsterländischen Emsdetten zuständig. »Wenn der Patient fragt: ›Kannst du mir mal bei etwas helfen?‹, dann muss die Kasse das erst genehmigen, der Arzt muss es verschreiben und ich darf nichts machen. Ich sitze immer zwischen den Stühlen.«
Das Resultat ist wenig verwunderlich: Pflegekräfte arbeiten laut dem Deutschen Pflegerat schätzungsweise nur 10 Jahre in ihrem Beruf, selbst die größten Idealisten scheiden früh wieder aus oder arbeiten nur noch in Teilzeit. Bereits jetzt fehlen 40.000 Fachkräfte, bis 2030 Tagesschau – Pflegenotstand in Deutschland (2017) könnte sich die Lücke auf 200.000 ausweiten.
Die Zeit drängt also.
Zeit, dass die Pfleger wieder pflegen dürfen
Johannes Technau, Geschäftsführer des Website des Netzwerks Gesundheitswirtschaft Münsterland Netzwerks Gesundheitswirtschaft Münsterland, hat das erkannt. Er koordiniert die ersten Pilotprojekte mit den 2 Pflegeanbietern Sander Pflege und dem Impulse Pflegedienst aus Emsdetten. Diese sind finanziell in Vorleistung gegangen, um das Projekt zu ermöglichen. Johannes Technau sieht in Buurtzorg den richtigen Ansatz, um dem Frust in der Pflege etwas entgegenzusetzen:
– Johannes Technau, Geschäftsführer Netzwerk Gesundheitswirtschaft Münsterland

Kurz gesagt: Der Beruf des Pflegers wird aufgewertet und mit wesentlich mehr Vertrauen ausgestattet. In den selbstorgansierten Teams entscheiden sie vor Ort in enger Zusammenarbeit mit den Gepflegten und deren Bezugspersonen, was getan werden muss.
Dabei stellen Pfleger erst einmal fest, was der Patient noch selbst erledigen kann. Und ermutigen ihn dazu, genau das auch weiterhin zu tun – etwa sich selbst zu waschen.
Im aktuellen System ist das nicht vorgesehen. Die Pfleger sind aufgrund des permanenten Zeitdrucks zur Hektik gezwungen: Es bleibt kaum Zeit, um die Patienten bei der Körperpflege zu begleiten, denn der nächste Termin wartet schon. So lernen die Patienten, dass sie sich nicht selbst kümmern sollen – es kommt ja schließlich jemand, der die morgendliche Körperpflege für sie übernimmt.
»Die Pfleger reagieren nur auf Anweisungen und haben das eigene Denken verlernt.« – eine Pflegefachkraft
Bei Buurtzorg können die Teams aktivierend pflegen, was nichts anderes heißt, als länger dazubleiben, dem Patienten den Waschlappen in die Hand zu drücken und zu sagen: »Wasch dich selbst, wenn du nicht mehr weiterkommst, helfe ich dir.« Das funktioniert, weil sie diese Zeit auch bezahlt bekommen – nur eben pro Stunde, nicht pro Einzelleistung.
Allein dieser Aspekt macht für die Pfleger sehr viel aus. Da ist sich Udo Janning sicher: »Wir müssen zeigen, wie entspannt die Pfleger sind, wenn sie nicht mehr 24 Patienten pro Tour haben, sondern nur noch 6 – für die sie dann auch noch Zeit haben.«
Den Alten etwas zutrauen – eine lohnende Investition
Auch wenn das am Anfang mehr Zeit – und somit Geld – kostet, zahlt sich die Investition auf lange Sicht aus. Eine Untersuchung aus Großbritannien zeigt, dass die Patienten durch diese Herangehensweise in vielen Fällen ihre Selbstständigkeit zurückerlangen, seltener in die Notaufnahme müssen und bei geplanten Krankenhausaufenthalten viel früher Bericht des britischen Gesundheitsdienstes NHS (englisch, 2017) wieder nach Hause können. Zudem brauchen Buurtzorg-Teams durchschnittlich 40% weniger Zeit, um die ProCare – »Buurtzorg Nederland« – Ein innovatives Modell der Langzeitpflege revolutioniert die Hauskrankenpflege (2015) verordneten Tätigkeiten zu erledigen.
In der Praxis sehen solche Einsparungen dann so aus:
– Udo Janning, Koordinator Buurtzorg bei Sander Pflege
Pflege sollte Menschen ein möglichst selbstbestimmtes, schmerzfreies Leben ermöglichen. Daher Das Buurtzorg-Modell – Buurtzorg International (englisch, 2017) orientiert sich Buurtzorg an grundsätzlichen menschlichen Bedürfnissen:
- Menschen wollen so lange wie möglich selbstständig leben und handeln
- Menschen wollen ihre Lebensqualität aufrechterhalten oder steigern
- Menschen brauchen soziale Interaktion und Nähe
Nehmen wir diese Bedürfnisse ernst, ist klar, dass Gepflegte keine »Konsumenten« sein können, die Pflege von einem »Dienstleister« »einkaufen« müssen. Diese ökonomische Denkweise ist die Wurzel des Pflegenotstands in Deutschland.

Nachbarschaftshilfe hat viele Gesichter
Auch pflegebedürftige alte Menschen sind Individuen mit einem sozialen Umfeld. Ohne dieses Umfeld wäre der gesamte Pflegebereich schon längst kollabiert, denn der Löwenanteil der häuslichen Pflege wird in Deutschland in fast 1,4 Millionen Fällen
In der Theorie könnten ihnen weitere Unterstützer zur Seite stehen: Freunde, Nachbarn und je nach Region und Religion vielleicht sogar noch die Kirchengemeinde inklusive Dorfpfarrer. Ein enormes Potenzial – wenn es denn genutzt würde. Man braucht dazu lediglich jemanden, der die Kräfte koordiniert. Die Buurtzorg-Teams fungieren hier als Manager und bauen gezielt ein Netzwerk aus allen Beteiligten auf.
– Johannes Technau, Geschäftsführer Netzwerk Gesundheitswirtschaft Münsterland
Doch keine Angst: Niemand wird gezwungen, künftig die Oma von nebenan zu waschen. Es geht vielmehr um die effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen, um Zeit für Patienten zu schaffen, die gar keine Unterstützung durch Pflegedienste bekommen können – und das ist aktuell nicht nur im Pilotprojektgebiet im Münsterland
Warum kann die befreundete Nachbarin beim täglichen Einkauf nicht einfach etwas mitbringen? Oder die Tochter, die in derselben Straße wohnt, einmal die Woche die Medikamentendose vorbereiten?
Das soll keinesfalls heißen, dass die Pflegedienste die Arbeit auf die Angehörigen abwälzen wollen. Es gibt kein Muss. Wenn jemand mit der Situation überfordert ist oder nichts damit zu tun haben will, dann übernimmt das Buurtzorg-Team. Das kommt aber gar nicht so häufig vor:
– Udo Janning, Koordinator Buurtzorg bei Sander Pflege
Kann das auch bei uns funktionieren?
Angesichts der demografischen Entwicklung ist klar, dass zwangsläufig mehr und mehr Gelder in den Pflegebereich fließen müssen. So fordert das unabhängige Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung für die kommenden Jahre einen Medizin-Aspekte – Jamaika-Koalition soll Dauerkrise in der Pflege beenden (2017) 3-schrittigen Masterplan, um die Löhne zu erhöhen und 100.000 neue Pflegestellen zu schaffen. Kosten: 12 Milliarden Euro pro Jahr.
Allein 500 Millionen Euro sollen für die Erforschung neuer Versorgungskonzepte und innovativer Technologien bereitgestellt werden. Mit Buurtzorg ist bereits ein über Jahre erprobtes Konzept zur Hand. Aktuell sind zunächst die Kranken- und Pflegekassen am Zug: Sie müssen mit den laufenden Pilotprojekten im Münsterland klären, wie die Rahmenbedingungen angepasst werden müssen, damit die Kostenabrechnung pro Stunde funktionieren kann.

In unseren Gesprächen zeigen sich Johannes Technau und Udo Janning optimistisch: Die Kostenträger hätten das Problem erkannt und stehen dem Projekt Buurtzorg positiv gegenüber. Wenn alles nach Plan verläuft, können die ersten Teams ab Februar 2018 in einem System arbeiten, in dem die Alten genauso sorgfältig gepflegt werden wie die Akten.
– Udo Janning, Koordinator Buurtzorg bei Sander Pflege
Titelbild: picture alliance / Ulrich Baumgarten - copyright
Die Diskussionen sind leider nur für Mitglieder verfügbar.