Warum betteln Menschen in einem Sozialstaat?
Eine Antwortsuche bei denen, die durch das Raster fallen.
»Entschuldigen Sie, ich bin Flüchtling, könnte ich ein bisschen Geld haben?«, nuschelt Mohammed al-Ali. Gekrümmt sitzt er in der Hocke. Die Arme umfassen seine Knie, als würde er frieren. Es ist 8 Uhr morgens am Berliner Bahnhof Zoo. Gegenüber von ihm warten rund 20 Personen mit Plastiktüten in der Hand vor der Dusche der Bahnhofsmission. Dazwischen schlängeln sich Touristen, Menschen in Anzügen, Studenten auf dem Weg zur Uni oder zur Arbeit. Eine junge Frau wedelt sich mit der Hand frische Luft zu. Als Mohammed al-Ali sie anspricht, blickt sie weg und schüttelt mit dem Kopf. Warum kann er perfekt Deutsch, ist das eine Masche?
Was sie nicht weiß, ist, dass Mohammed vor 6 Jahren Deutsch gelernt hat. Damals war er Student für Bauingenieurwesen an der Technischen Universität (TU) Berlin. Heute ist die TU der Ort, wo der 48-Jährige seine Grundbedürfnisse befriedigt, sich Leitungswasser abzapft, sich wäscht, vor allem aber eines: ein Ort, an dem er für einen kurzen Moment seine Privatsphäre hat.
Mohammed al-Ali ist erst seit ein paar Wochen auf der Straße. Um täglich seine Familie anrufen zu können,
Nicht immer lebten Bettler in der Menschheitsgeschichte am untersten Rand der Gesellschaft. In der Antike galt es als akzeptiert, dass Menschen auf der Straße auch einen Teil des Wohlstands einforderten, im Mittelalter waren Bettler eher ein Indikator für das Versagen von sozialen Sicherungssystemen als für individuelle Notlage. Auch heute lässt das Aufkommen von Bettlern im öffentlichen Raum Rückschlüsse auf eine Gesellschaft zu.
Aus welchen Gründen begeben sich Menschen heute in den öffentlichen Raum und bitten um Almosen? Diese Reportage begegnet 3 Protagonisten und den verschiedenen Motiven des Bettelns: Protest gegenüber staatlichen Repressionen, Armut und temporäre oder langfristige Wohnungslosigkeit. Wie kann verhindert werden, dass Menschen überhaupt in die Schieflage gelangen?
Mohammed: Geflüchteter, neu auf der Straße
Bei Mohammed begann die Not mit der
Grundsicherung für jeden, doch nicht alle haben gleichermaßen Zugang
Wer in Deutschland in Not gerät, hat Anspruch auf Unterstützung, so ist es gesetzlich im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) verankert. Um sein Leben würdevoll bestreiten zu können, definiert die Bundesregierung einen
Außerdem definiert das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 17 Szenarien, mit denen die Grundsicherung gekürzt werden kann. Zum Beispiel wenn einer Person vorgeworfen wird, nur wegen der Leistungen eingereist zu sein, oder wenn sie ihre Identität, zum Teil aus Furcht vor einer Abschiebung, nicht preisgibt. Aber auch Deutsche sind von Sanktionen betroffen, wenn sie nicht mit den zuständigen Behörden kooperieren.
Ceil: Lieber betteln als sich mit Behörden auseinandersetzen
»Die Leute beim Amt verstehen mich eh nicht«, sagt Ceil, 19, hellblonde Dreadlocks, bunter Pullover, schiefe Mundwinkel: »Ich lasse mir von denen nichts sagen«. Das ist der Grund, warum sie keinen Zugang zu Sozialleistungen hat. Laut Gesetz müsste sie dafür bei den Eltern wohnen, bis sie 25 Jahre alt ist. Vor ein paar Monaten haute sie von zu Hause ab. »Jeder hat eine Geschichte«, sagt sie, nur dass ihre anscheinend keiner hören wollte. Sie sei die Jüngste am Bahnhof Zoo, sagt sie, das Kinn erhoben.
Dort, unter einer Brücke, regen sich allmählich Körper in Schlafsäcken. Ceil ist gerade auf der durchnässten Matratze aufgewacht. Barfuß packt sie Töpfe und Plastiktüten aus ihrem Rucksack und bereitet sich ihr Frühstück vor: Bio-Sauerkrautsaft und Schnaps. Dann kommt Michael zurück, ihr Freund. »Ich hab’ was gefunden«, sagt er und berichtet von einem verlassenen Häuschen im Tierpark. Einen Schlafplatz zu finden ist ihre Mission für den Tag. Tag für Tag.
»Zu zweit im Schlafsack überlebt man besser die Kälte.«
3-mal hätten sie sich schon getrennt. Sie stritten viel, aber sie brauche den 30-Jährigen, als Schutz. Sie teilen viel mehr als ihr geschnorrtes Geld. Beide nennen ihre Eltern nur »Erzeuger« und Depressionen den Grund, warum sie auf der Straße gelandet sind. Gemeinsam erbetteln sie rund 600 Euro im Monat. Ihren Verdienst rechnet Ceil nicht in Stunden, sondern in Ravioli-Dosen, die Einheit: 1,95 Euro. Doch arm und obdachlos nennen sie nur die Passanten.
»Arm ist man nur in Afrika. Wir könnten immer noch zurück.« – Ceil, Obdachlose
Laut der Weltbank ist eine Person dann extrem arm, wenn sie nicht in der Lage ist, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden, ungefähr Ceils Einheit, eine Dose Ravioli von Lidl. Statistisch würde Ceil als
Berechnetes Bedürfnis
Was Grundbedürfnisse sind, ist individuell, in Deutschland aber standardisiert:
Nach dem Regelsatz könnte sich Ceil für ihr kulturelles Bedürfnis etwa ein Buch pro Jahr leisten. Ihr Lieblingsbuch, der Jugendroman »Tintenherz«, nennt sie ihren einzigen »Luxus«. Was sie als ihre Grundbedürfnisse aufzählt, findet sich nicht in der Liste: Gemeinschaft, Schutz, Privatsphäre (»Mal wieder in Ruhe pinkeln können«, fügt Ceil hinzu, »oder mal wieder durchschlafen, ohne am nächsten Tag von Passanten geweckt zu werden«), Gesundheit.
Das letzte Mal bin ich fast draufgegangen. Ich war so krank, ich konnte nicht einmal mehr kriechen. Ich lag die ganze Zeit im Regen und hab’ es nicht mal mehr gemerkt.
Seit Tagen schleppe sie eine Grippe mit sich herum, erklärt sie. Sie läuft durch den Tierpark auf der Suche nach dem versprochenen trockenen Schlafplatz. Bei jedem Husten klingeln die Glöckchen in ihren Dreadlocks. Schon vor ihr haben Menschen unter Bäumen und Planen provisorische Lager aufgeschlagen. Das war vor dem vergangenen Oktober, als der Ort, den Ceil ihren Rückzugsort und die Berliner Bezirksverwaltung einen »rechtsfreien Raum« nennt,
»Es geht nicht mehr um soziale Absicherung, sondern um innere Sicherheit«, bemerkt Kathrin Krahl von der gruppe polar, einem Teil der
Die Stadt soll schön aussehen. Leute wollen, dass die Straße wie der eigene Garten ist. In Wirklichkeit sind die Straßen aber ein heterogener Ort, an dem sich verschiedene Definitionen von Reichtum und Armut mischen. Die Menschen stört es nicht, wenn es Armut gibt – aber wenn man sie sieht.
Obwohl das Betteln seit 1974 in Deutschland gestattet ist, wird es auf privatrechtlichem Wege
Stefano: Rumäne, bettelt aus Armut
Einer, der für viele in die Kategorie »mafiöser Krimineller« fallen würde, ist Stefano. Der Rumäne sitzt am Eingang einer U-Bahn-Haltestelle. Eigentlich macht er sich dafür strafbar. Die Berliner Verkehrsbetriebe verbieten laut Hausordnung das bloße »Verweilen, ohne Absicht, die Fahrt anzutreten«.
Den Passanten zeigt er stumm eine Medikamentenpackung. Ein Mädchen schmeißt ein Eurostück in seinen Espressobecher, ein Anteil für sein Frühstück in ein paar Stunden. Das Essen in der Notunterkunft kann er nicht essen, sagt er und lächelt zahnlos. Obwohl seine Not an seinen körperlichen Zustand geknüpft ist, ist sie auch eine perspektivische. Stefano wünscht sich ein besseres Leben, betont er, nicht für sich, sondern für seine Frau und seine 7 Kinder zu Hause.
Laut dem
Wie lässt sich die Not lindern?
»Diese Leute werden nicht gehen. Wenn sie hier schlicht mehr verdienen als in ihren Heimatländern, werden sie bleiben.« – Karmen Vesligaj, Juristin und Geschäftsführerin der Organisation Phinove e. V.
Das Problem ließe sich nicht mit Kriminalisierung begegnen, sondern müsse an der Wurzel gepackt werden, betont Vesligaj. Ein Lösungsansatz und die Mission ihrer Organisation ist es, dafür zu sorgen, dass Unionsbürger erst gar nicht auf der Straße landen. Grundlegend dafür sei eine Wohnung und Arbeit. Es brauche
Auch für Kathrin Krahl von der gruppe polar ist die Lösung eine strukturelle.
- vorgelagerte Sicherheitssysteme festigen, zum Beispiel Beratung, Unterstützung,
- den sozialen Wohnungsbau fördern,
- prekäre Arbeitsverhältnisse verhindern,
- eine Erhöhung des Mindestlohns,
- eine
- ein individualisierter und angepasster Grundbedarf.
»Eigentlich habe ich alles«, sagt Mohammed al-Ali, während er im Nieselregen durch den Park läuft. Seine H&M-Jacke ist durchnässt. Sie und die abgetretenen Segelschuhe bekam er von der Caritas. Über der rechten Schulter hängt ein Rucksack, darin eigentlich alles, was die Bundesregierung als Grundbedarf definiert: ein getigerter Waschbeutel mit Rasierklingen, eine Packung Ibuprofen 600 gegen die Rückschmerzen, ein bisschen Taschengeld. Doch dass er nicht im Camp leben will, weil er sich fürchtet, oder dass er sich nicht in der Gemeinschaftsdusche waschen möchte, weil er sich vor den offenen Wunden Suchtkranker ekelt, daran wird so wenig gedacht wie an seine individuellen Bedürfnisse: Sicherheit, Ruhe, genug Barmittel für die täglichen Telefonate mit seiner Familie – alles, was für ihn eine freie Gestaltung seines Lebens bedeutet.
Am schlimmsten ist die Verzweiflung, das Gefühl, nicht klar zu kommen. Du weißt nicht, wohin mit dir, es gibt keinen Ausweg. Ich habe nichts, nur meine Familie.
Es ist nachmittags, »Feierabend« für Mohammed al-Ali. Mit einem schon abgestempelten Busticket ist er zu einer Dönerbude gefahren. »Hier war ich oft, als ich damals Student war«, erzählt er und beißt in ein Schawarma-Sandwich. Mohammed lächelt. Es ist die erste Mahlzeit an diesem Tag, sie schmeckt wie in seiner Heimat. Der Imbiss habe sich verändert wie sein Bild von Deutschland. Damals galt er als ambitionierter Student. 7 Jahre später bloß als Geflüchteter, Bettler, ein Verlierer in einer ungleichen Gesellschaft.
Manchmal spreche er Menschen auf der Straße nur an, um einen kurzen Moment Aufmerksamkeit zu bekommen. Als Student hatte er Deutschland immer als reiches Land vor Augen, jetzt lernt er eine andere Seite kennen. Wenn man, wie Armutsforscher Christoph Butterwegge, Armut nicht nur als den Mangel von Geld und einem Dach über dem Kopf begreift, sondern auch von Menschenwürde, Wohlbefinden und der Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, versteht man Mohammed al-Alis Frust. Er sagt: »Ich habe mich getäuscht: Deutschland ist ein armes Land.«
Titelbild: Felie Zernack - copyright