Wer vertritt eigentlich noch die Interessen der Bürger?! Das sollen die mal schön selbst machen, meint dieser Jura-Professor. Und erklärt uns auch gleich, wie es geht.
Diese Autoindustrie. Zuerst trifft sie sich so lange mit Politikern, bis Diesel durch Steuern künstlich verbilligt wird. Dann führt sie die Kunden so lange hinters Licht, bis es zum Himmel stinkt und die Luft in vielen Städten so dreckig ist, Und dann bringen die Lobbyisten ins Gespräch, dass für den Umbau der Dieselfahrzeuge zahlen sollen? – könnte man sagen. Aber wer lobbyiert eigentlich für die Steuerzahler?
Das sollen die mal schön selbst machen, meint der italienische Rechtswissenschaftler und Aktivist Alberto Alemanno. Mit seiner Organisation will er dafür sorgen, dass sich mehr Menschen einmischen, wenn in der EU Politik gemacht wird. Die Industrie hat vielleicht das Geld und Personal für riesige Lobbyapparate. Aber die Bürger haben eine mächtige Waffe: Legitimität. Was ihnen oft fehlt, ist das Know-how der Lobbyisten. Hier kommt Alberto Alemanno mit The Good Lobby ins Spiel. Die Organisation vernetzt NGOs und Bürger mit denjenigen, die wissen, wie man Ideen in Gesetze verwandelt.
»Politik ist das Reich einer kleinen, selbst-referenziellen Elite«, schreibt Alemanno. Aber: stünden allen offen. Mitmischen können nicht nur Wissenschaftler, Aktivisten, Denkfabriken, Beamte oder Verbände. Auch Menschen wie du und ich sollten viel öfter dabei sein.
In seinem Buch entwirft er ein 10-Punkte-Programm für künftige Bürger-Lobbyisten, die Politik nicht länger nur konsumieren, sondern wirklich etwas bewegen wollen.
Den italienischen Professor für ein Interview zu erwischen, ist gar nicht so einfach. Unermüdlich jettet er durch die EU, unterrichtet in Paris und referiert in Brüssel. Kurz vor einem Workshop in Amsterdam klappt es dann doch noch mit einem Telefonat.
Der Begriff Lobbyismus weckt bei den meisten Menschen negative Assoziationen. Warum ist das so?
Alberto Alemanno:
Lobbyismus wurde von einigen wenigen Akteuren vereinnahmt. Deshalb wird er als negativ empfunden. In meiner politischen Theorie argumentiere ich aber dafür, dass Lobbying eine legitime Aktivität ist. Es geht darum, seine Stimme und konkrete Ideen, was politische Entscheidungsträger tun sollten, einzubringen. Demokratie braucht mehr Lobbyismus, nicht weniger. Es sind nicht die Interessen der Wenigen, die in unserer Gesellschaft zu stark vertreten sind. Die machen nur ihren Job. Es sind die Interessen der Vielen, die zu wenig vertreten sind. Bürgerinnen und Bürger machen ihren Job nicht.
Wie meinst du das?
Alberto Alemanno:
Sie gehen wählen, aber sie nehmen ihre Repräsentanten nicht in die Verantwortung. Sie sagen ihnen nicht, was sie von ihnen erwarten. Die Politiker tragen nicht die Schuld an allem, manchmal sind auch die Bürger das Problem, die es nicht schaffen, sich zu organisieren und Genau das muss eine Bürger-Lobby tun. Es geht darum, dass Bürger wie agieren können, damit ihre Ideen von Entscheidungsträgern gehört und respektiert werden.
Mit The Good Lobby willst du Bürger zu guten Lobbyisten machen. Wie genau soll das funktionieren?
Alberto Alemanno:The Good Lobby ist eine Gemeinschaft qualifizierter Bürger. Sie alle haben Talente oder eine besondere Expertise, die sie in ihrer Freizeit für einen guten Zweck einsetzen wollen. Sie sind Anwälte, Akademiker, PR-Experten oder sogar Lobbyisten. The Good Lobby bringt sie mit NGOs oder zivilgesellschaftlichen Organisationen in Kontakt, die sich für eine bestimmte Sache einsetzen.
Außerdem bieten wir Workshops in ganz Europa an, bei denen jeder lernen kann, Lobbyist für eigene Anliegen zu werden. Das können LGBTI-Rechte sein, es kann um die Umwelt gehen oder diesen Park oder die Bücherei in der Nachbarschaft, der oder die geschlossen werden soll. Es geht darum, eine Kultur des Engagements und des Ehrenamtes in den Alltag träufeln zu lassen.
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Warum hast du es dir zur Aufgabe gemacht, für mehr Bürger-Lobbyisten zu sorgen?
Alberto Alemanno:
Ich bin Akademiker und Professor. Während der letzten 10 Jahre wurde mir immer mehr bewusst, dass der Impact meiner Forschung und Lehre sehr viel beschränkter war, als ich mir das ursprünglich vorgestellt hatte. Das Bewusstsein dieser Machtlosigkeit wuchs immer weiter. Und mir wurde klar, dass es vielen Leuten in meinem Umfeld ähnlich ging. Ich habe dann über die Jahre ehrenamtlich NGOs, Individuen und sogar Regierungen beraten – und festgestellt, dass das eigentlich jeder machen kann. Jeder kann seine Expertise für einen guten Zweck einsetzen. Dazu kommt: Die junge Generation hat immer mehr das Gefühl, haben zu wollen. Sie will auch einen guten Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Ich sah das Problem und ich sah die Lösung; beide koexistierten. Sie mussten nur zueinander gebracht werden. Genau das versuche ich mit The Good Lobby.
Vor einigen Jahren habt ihr eine gestartet. Seit 2017 müssen wir für Telefonate quer durch die EU tatsächlich nicht mehr extra zahlen. Was hatte The Good Lobby damit zu tun?
Alberto Alemanno:
Vor vielen Jahren haben wir eine Petition bei der Europäischen Kommission eingereicht, mit der wir die internationalen Roaming-Kosten abschaffen wollten. Wir hatten damals nur ein paar tausend Unterschriften gesammelt. Sehr wenig. Aber es hat eine Bewegung getriggert, die auf nationaler und EU-Ebene so viel Druck auf Entscheidungsträger ausgeübt hat, dass schließlich eine Richtlinie angenommen wurde, die internationale Roaming-Gebühren verbietet. Wir haben dieses Thema 2012 an die Öffentlichkeit gebracht. Wir fangen oft damit an, dass wir die geltenden sozialen Normen einfach ein bisschen verschieben.
Woran arbeitet ihr gerade?
Alberto Alemanno:
Wir haben ein Team gegründet, das Belgien als das Land herausfordert, das am schlechtesten mit seinen Praktikanten umgeht. 70% der Absolventen in Belgien arbeiten mehr als ein Jahr umsonst, damit sie einen Job finden. Belgien hat unbezahlte Praktika institutionalisiert. Wir fechten das gerade vor dem an und haben eine Beschwerde eingereicht. Außerdem haben wir eine Kampagne mit Europäischen Jugendorganisationen auf nationaler und regionaler Ebene gestartet. So etwas nennen wir einen »strategischen Fall«. Wenn der Europarat entscheidet, dass Belgien die sozialen Rechte von Arbeitnehmern verletzt, wird das für die mehr als 40 Mitglieder des Europarates bindend sein – darunter Deutschland, Italien, Armenien und sogar Russland. Das würde das Leben von Millionen jungen Europäern besser machen, die bislang nicht für ihre Arbeit entlohnt werden.
Wen meinst du eigentlich, wenn du »wir« sagst?
Alberto Alemanno:
Es fing mit meinen Studenten an der Universität an. Wir haben eine gegründet, eine studentische Rechtsberatung, von denen es auch in Deutschland einige gibt. Ich habe das Projekt dann auf ein höheres Level gebracht und inzwischen haben wir mehr als 600 Freiwillige in unserer Datenbank, die für über 100 NGOs in ganz Europa arbeiten.
Du arbeitest vor allem auf EU-Ebene. Braucht Brüssel wirklich mehr Lobbyisten? Sollte die Union nicht lieber an ihrem Demokratie-Defizit arbeiten?
Alberto Alemanno: mit Entscheidungsträgern zu interagieren, als nationale Regierungen. Über die Jahre hat die EU viele Partizipationskanäle geschaffen: bei der Europäischen Bürgerbeauftragten, Petitionen beim Europäische Bürgerinitiative. Leider sind all diese wenig bekannt und werden zu selten genutzt. Und die Nutznießer waren bislang die üblichen Verdächtigen: die Unternehmen. Das ist paradox. Deshalb braucht die EU mehr Lobbyisten. Sie muss mehr Stimmen hören in einem Prozess, der historisch von den Wenigen und nicht den Vielen dominiert wird. Deshalb haben wir uns entschieden, uns vor allem auf die EU zu konzentrieren. Es gibt viele Ansatzpunkte und wir können damit auch mehr bewegen. EU-Politik betrifft eine größere Zahl von Bürgern. Das Machtspiel findet nicht länger in Berlin, Rom oder London statt, sondern in Brüssel.
Wird es nicht immer ein Ungleichgewicht zwischen Konzern- und Bürger-Lobbyisten geben? Industrie und Unternehmen werden immer mehr Geld und personelle Ressourcen haben, die sie in den Lobbyprozess einbringen können.
Alberto Alemanno:
Du hast recht. Es steht David gegen Goliath. Industrie und Konzerne werden immer mehr Ressourcen haben. Aber mein Gegenargument lautet: Jedes Mal, wenn es die Zivilgesellschaft schafft, sind sie effektiver, selbst wenn es weniger sind. Es gibt Studien, die zeigen, dass eine organisierte Zivilgesellschaft wirkungsvoller sein kann als Konzern-Lobbys. Weil sie mehr Legitimität hat. Es gibt viele indem sie dasselbe Repertoire, dieselben Techniken und Werkzeuge wie Lobbyisten nutzten. Es ist möglich. Die Ressourcen sind da.
Die Arbeit von The Good Lobby basiert auf ehrenamtlichem Engagement. Hilft das einem politischen System, sei es auf nationaler oder EU-Ebene, nicht dabei, Verantwortung und Kosten zu vermeiden und sie auf die Bürgerinnen und Bürger abzuwälzen?
Alberto Alemanno:
Ehrenamtliche Arbeit kann die Anreize für Regierungen reduzieren, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen. Das stimmt. Gleichzeitig verändert sich aber auch das Ehrenamt. Es geht nicht mehr darum, Basisgüter zu garantieren, sondern um einen Mehrwert. Bei The Good Lobby geht es um qualifiziertes Engagement. Dabei geht es darum, Ressourcen zu mobilisieren, die heute noch gar nicht internalisiert und berücksichtigt sind.
Was ist das große Ziel hinter The Good Lobby?
Alberto Alemanno:
Wir wollen, dass mehr Individuen eine Stimme in politischen Entscheidungsprozessen bekommen. Es gibt ein wachsendes Macht-Ungleichgewicht. Die Bürger reden oft nicht mit, wenn im Parlament oder der Regierung etwas entschieden wird, obwohl es ihr Leben betrifft: Die Qualität der Luft, die sie atmen, das Essen auf ihrem Teller.
Manche Leute haben mehr Macht als andere. Und dieses Problem ist systemisch. Es kann nicht gelöst werden, ohne dass Bürgerinnen und Bürger eine lautere Stimme in Entscheidungsprozessen bekommen. Damit das passiert, müssen wir dafür sorgen, dass Bürger genauso Lobbyarbeit betreiben können wie die großen Konzerne. Sie müssen die wirkungsvollsten Techniken und Werkzeuge kennen, mit denen sie Entscheidungsträger auf allen Regierungsebenen beeinflussen können. Sei es lokal, regional, national, europäisch oder international.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.