Wie ich Ordnung in mein digitales Leben gebracht habe
Digitaler Minimalismus verspricht mehr Zeit und Übersicht. Diese 5 Schritte haben mir tatsächlich geholfen.
»Ich bin ein gut organisierter Mensch und komme mühelos mit meiner Technik klar.« Das dachte ich jedenfalls bisher.
Täglich jongliere ich mit 3 E-Mail-Konten, benutze 4 Online-Notizbücher und kommuniziere mit Bekannten und Kollegen über 5 verschiedene Chatprogramme. Alles kein Problem – bis ich letztens eine wichtige Telefonnummer nicht mehr fand …
Hatte ich sie per E-Mail bekommen? Und wenn ja, an welche Adresse? Oder war sie nur per Chat gesendet worden? Hatte ich sie notiert und wenn ja: wo?! In der Hast du vollen Überblick über deinen digitalen Kosmos?
Mir wurde klar: Ich drohte den Überblick über meinen digitalen Kosmos zu verlieren. So ging es nicht weiter.
Die Lösung ist eine radikale Daten-Diät aus den USA, die immer stärker im Trend liegt:
Frei nach dem Motto »Weniger ist mehr, auch online« kämpft sie gleich gegen mehrere Probleme unserer digitalen Welt.Das brauchst du nicht? Dann kannst du sicher folgende Fragen mit »Ja« beantworten:
- Kennst du alle Apps auf deinem Smartphone und weißt du, welche Berechtigungen du ihnen erteilt hast?
- Weißt du, wo deine Dateien liegen, und findest du sie ohne »Suche«-Funktion?
- Fühlst du dich entspannt, wenn du in dein E-Mail-Postfach schaust?
Aber wie geht digitaler Minimalismus in der Praxis? Mittlerweile gibt es zahllose
die einem erzählen wollen, wie man es »richtig macht«. 14 Tage lang habe ich mich durch ihre Anleitungen gelesen und bin einigen kuriosen Ideen begegnet. Eine Zen-Desktopoberfläche mit Yoga-Icons brauche ich genauso wenig wie Kindersicherungen, die meine Computer-Zeit beschränken und mich zum zwingen wollen.Diese 5 Schritte haben mir tatsächlich geholfen.

Schritt 1: Ruhe schaffen! – Chats verstummen lassen
»Es ist einfach zu … viel! Du musst es vereinfachen, damit du darin überhaupt noch etwas von Wert entdecken kannst.« –
Youtube-Video von Mary Blossoms über »Digital Minimalism« (englisch, 2017)
Youtuberin Mary Blossoms
Ich beginne beim hektischsten Teil meines digitalen Lebens: den Chats. Ich schätze den täglichen Input dort auf etwa 150 Nachrichten. Push-Nachrichten über GIFs und Smileys zu einem Witz in einer uralten Gruppe? Kann ich drauf verzichten!
Zunächst stelle ich das ab, was konstant meine Aufmerksamkeit einfordert: In diesem Text frage ich, ob unsere Nutzung des Smartphones noch »smart« ist unterbrechen. Ich aber will nicht ständig auf eintrudelnde Reize reagieren müssen, und ob ich 15 Minuten früher weiß, wer der neue Außenminister wird, bringt mir auch wenig.
Natürlich informieren die schneller, doch sie konditionieren auch dazu, sich selbst zuIch lasse also alle Chatprogramme verstummen. Statt jedes einzeln anklicken zu müssen, um zu schauen, ob ich neue Nachrichten habe, verwende ich ein Der All-in-One-Messenger für Windows und Linux (englisch) Programm, in dem sich alle Chats einbinden lassen. Das verzichtet auch auf den Zähler unbeantworteter Nachrichten und damit einen weiteren »Klick-auf-mich-Reiz.«
Doch auch in meinen Chats herrscht unübersichtliches Chaos. Also entferne ich mich aus Gruppen zu alten Partys, Urlauben, Projekten und eingeschlafenen Hobbys – Schluss mit der Angst, etwas zu verpassen!
und entdecke die größte Hürde des digitalen Minimalismus: die
Und die ist auch gleich eine Quelle für »digitalen Stress«, der immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Studien belegen, dass der Druck zur Diese Studie der Uni Mainz untersucht die gesundheitlichen Auswirkungen von digitalem Stress (englisch, 2016) Burnout und Depression begünstigen kann.
der psychischen Gesundheit schaden undFakt ist: Gute Freundschaften halten auch ohne täglichen Diese Studie bringt Smartphone-Abhängigkeit mit einem überstarken Bedürfnis nach Kommunikation in Verbindung (englisch, 2018) Smiley-Kontakt, und wichtige Nachrichten kommen per Telefonanruf, E-Mail oder als Brief. Vielleicht sehe ich ein lustiges GIF oder einen interessanten Link weniger. Damit kann ich leben. Minimalismus heißt auch, zu erkennen, was man wirklich braucht.

Schritt 2: Was nutze ich wirklich? – Auswahl reduzieren
Als nächstes steht das auf dem Prüfstand, was täglich viel Zeit kostet: E-Mails. Statt bei geschätzten 20 Newsletter bin ich in Wahrheit bei 69 angemeldet. Gelesen habe ich davon im vergangenen Monat nur einen Bruchteil. Warum eigentlich?
Daran muss nicht nur genereller Zeitmangel schuld sein: Eine Die vielbeachteten Studien der Columbia University analysieren, wie Auswahl und Überforderung zusammenhängen (englisch, 2000) zu große Menge an Möglichkeiten überfordert, erschwert Entscheidungen und kostet am Ende sogar mehr Maren Urner und Han Langeslag zeigen hier, was die Qual der Wahl mit uns macht Zeit. Weniger Optionen Katharina Ehmann erklärt hier, wie Aufmerksamkeit funktioniert und warum es Multitasking gar nicht gibt lenken weniger ab und erleichtern es damit, schneller an wertvolle Informationen zu gelangen und Platz für die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu haben. Etwa den einen Newsletter, den ich wirklich lesen will!
Wie viel von dem, was du behältst, nutzt du regelmäßig?
Meine Lösung für ein schlankeres Postfach: Wiederkehrende E-Mails, die ich 3-mal nicht öffne, bestelle ich ab. Schneller geht es mit einer Übersichtswebsite wie Website von Unroll.me Unroll.me. Diese analysiert das Postfach, listet alle Newsletter übersichtlich auf und meldet mit einem Klick
Die restlichen E-Mails arbeite ich nach der Diese IBM-Studie untersucht, ob Sortieren bei E-Mails hilft (englisch, 2011) Studie von IBM zeigt aber: So etwas kostet am Ende mehr Zeit und hilft nicht dabei, die eine E-Mail schneller zu finden. Die Suchfunktion tut es für mich auch. Was nicht unter meine 2-Minuten-Regel fällt, markiere ich einfach als ungelesen und lasse es für später im unaufgeräumten Postfach.
ab. Was ich in 2 Minuten erledigen kann, wird beantwortet. Viele Ratgeber zu digitalem Minimalismus empfehlen zudem, eine übersichtliche Ordnerstruktur für E-Mails anzulegen. Zugegeben, die Vorstellung einer komplett blanken »Zero Inbox« ist verlockend. Eine
Schritt 3: »Weiß nicht« ist okay – Archive und Ramsch-Ordner anlegen
Nächster Halt: Desktop und Smartphone. Durchschnittlich schauen wir täglich 53-mal auf das Die vorläufigen Ergebnisse der Menthal-Studie der Universität Bonn im Buch »Digitaler Burnout« des Studienleiters (2015) Smartphone, je nach Beruf sehr viel häufiger auf unseren Desktop. Auch ich kann die Hintergrundbilder schon gar nicht mehr erkennen vor lauter Dateien und Verknüpfungen.
Was später noch genutzt wird, wandert jeweils in einen eigenen
Die machen Informationen deutlich leichter zugänglich. Der Rest kann eigentlich weg. Gegen meine Angst, doch noch etwas Wichtiges zu löschen, setze ich auf Quarantäne: »Weiß-nicht«-Dateien wandern in eine große Ablage, wo sie meinen Überblick nicht hindern. Nach einem Jahr Schonfrist wird der Ordner geleert. Für immer.Gute Archive machen Informationen deutlich leichter zugänglich
Dieser Punkt war besonders schwer für mich zu lernen: Nicht alle Informationen sind wichtig und müssen für immer aufgehoben werden. Dass beim Aussieben Daten verloren gehen, ist der Sinn der Sache. Minimalismus bedeutet Loslassen.
Schritt 4: Daten einschränken – Apps & Berechtigungen
Nach einer sauberen Arbeitsoberfläche kommen Apps und Programme an die Reihe – vor allem solche mit Online-Funktionen. Anders als Dateien führen diese ein Eigenleben. Auch Anwendungen, die »nur mal schnell« ausprobiert werden, fordern Berechtigungen, lesen im Hintergrund Daten aus und verkaufen sie teilweise an Marketingfirmen weiter. Diese wollen daraus Rückschlüsse auf unser Leben und unsere Vorlieben ziehen. Das Ziel ist maßgeschneiderte Werbung, die einen Nutzer über mehrere Programme und Websites verfolgt. Schluss damit!
Weißt du eigentlich, was Unternehmen über dich wissen?
Einfach werde ich es ihnen sicher nicht machen. Je weniger ich angebe, nutze und speichere, desto weniger gibt es auch zu analysieren. Ganz nebenbei spare ich damit sogar Datenvolumen meines Mobilfunkvertrags.
Als ersten Schritt deinstalliere ich alles, was ich noch nie oder nur ein paarmal genutzt habe. Ungewöhnlich sind solche »Zombie-Apps« nicht, über 2/3 aller Nutzer benutzen eine App bereits 3 Tage nach dem Installieren Die Statistik des Silicon-Valley-Analysten Andrew Chen über App-Nutzung (englisch, 2016) gar nicht mehr. Dabei sind bereits über 40 Apps auf einem typischen Smartphone vorinstalliert. Aber auch bei Apps, die ich »manchmal« nutze, schaue ich genau hin:
- Bringt sie mir wirklich etwas? Oder könnte ich sie auch durch eine ersetzen?
- Habe ich eine andere App, die sehr ähnliche Funktionen erfüllt?
- Hat die App Apples Guide zum Anzeigen von App-Berechtigungen Berechtigungen, die ich ihr jetzt nicht mehr einräumen Googles Übersicht über App-Berechtigungen von Drittanbietern möchte?
Am Ende habe ich mehr Überblick und weiß sogar besser, welche Optionen ich wirklich jederzeit auf dem Smartphone oder Laptop habe – und welche Firmen meine Daten erhalten.
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Extrarunde für Datenschützer: alte Profile löschen
Datenschützer denken beim digitalen Minimalismus sicher auch an die eigenen Spuren im Netz. Denn solange Online-Profile nicht abgeschaltet sind, dürfen die Unternehmen diese auch verwenden. Die Suche nach ihnen ist aber Detektivarbeit: Wer weiß denn schon, wo er vor Jahren ein Profil angelegt hat?
Auch alte Profile haben noch persönliche Daten.
Den eigenen Namen zu googeln, hilft leider wenig. Eine bessere Spur führt über den Kennwortspeicher des Browsers (falls aktiviert) oder den Die Website Deseat.me findet Online-Profile und meldet automatisch Konten ab Deseat.me erstellt eine automatische Übersicht.
für alles. Eine andere Möglichkeit ist eine Suche im E-Mail-Postfach nach den Begriffen »Passwort« oder »Account«. Der DienstIch selbst fand dabei über 15 Profile, die ich alle nicht mehr nutzen will und abgeschaltet habe. Guter Nebeneffekt: Dabei habe ich gleich eine Liste mit aktiven Accounts und Passwörtern erstellt – und für den Warum der digitale Nachlass wichtig ist, zeige ich dir hier digitalen Nachlass vorgesorgt.
Schritt 5: Damit es nicht wieder eskaliert – Routinen aufbauen
Nach dem Ausmisten fühle ich mich richtig gut – wie nach dem Frühjahrsputz daheim. Doch bereits einen Tag später ist mein Desktop wieder voll und ich muss einsehen: Die richtigen Wie wir schlechte Gewohnheiten brechen, erklärt Maren Urner hier Gewohnheiten müssen her, damit die Wirkung bleibt. Digitaler Minimalismus ist kein Event, sondern eine Einstellung.
Gewohnheiten ändern: Belohnung ist gut, Überzeugung besser, Regelmäßigkeit entscheidend
Das klare Ziel dabei: gar nicht erst riskieren, dass die Übersicht wieder verlorengeht. So habe ich den digitalen Minimalismus jetzt im Hinterkopf, wenn ich Apps installiere, mich für Newsletter eintrage, Chatgruppen betrete und Anwendungen Berechtigungen erteile. Auch erteile ich allem eine Woche Probezeit und nehme mir jeden Freitag 15 Minuten Zeit, das auszumisten, was sich nicht bewährt hat. Die hole ich durch mehr Übersicht und weniger Ablenkung in der Woche locker wieder rein.

Titelbild: Avi Richards - CC0
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