Ist Gewalt männlich?
Ja! Aber das Problem sind nicht die Männer – sondern unsere Erwartungen an sie. So können wir sie verändern, um der Gewalt Herr zu werden.
Laut Schätzungen leben die meisten Menschen dieser Welt
»Wann ist ein Mann ein Mann?« – »Männer« von Herbert Grönemeyer (1984)
Und siehe da: Im afrikanischen Kenia zeigen Menschen, wie schnell wir jahrtausendalte archaische Vorstellungen von Frau und Mann zumindest
Meine Frage ist: Widerspricht jemand – egal ob mit oder ohne Penis – der Aussage, dass von einer gewaltfreieren Gesellschaft alle profitieren würden?
Die Sache mit der Logik
Nachdem ich vor einigen Wochen in
Das stimmt! Und das hatte ich auch nicht nahegelegt, sondern mehrmals genau darauf verwiesen, dass die meisten Männer nicht gewalttätig sind. Schnell wurde mir klar, dass
Die meisten Frauen und Mädchen leben mit der Angst vor Vergewaltigung. Männer in der Regel nicht. So fungiert Vergewaltigung als ein mächtiges Mittel, das die gesamte weibliche Bevölkerung der gesamten männlichen Bevölkerung unterordnet. Auch wenn viele Männer niemanden vergewaltigen und viele Frauen niemals Opfer einer Vergewaltigung werden.
Gerade weil das Thema uns alle
Offensichtlich besitzt [die Aussage ›Gewalt ist männlich‹] allein kaum Erklärungskraft, denn sonst wären alle, die das Merkmal ›männlich‹ tragen, betroffen.
Falsch! Und das ist vielleicht der häufigste Logikfehler, den Menschen gern machen. Denn auch wenn eine Aussage wie »Alle Wale sind Säugetiere« korrekt ist, stimmt der Umkehrschluss nicht zwangsläufig; jeder weiß, dass die Aussage »Alle Säugetiere sind Wale« falsch ist. Auf Männer und Gewalt bezogen: Nur weil Gewalt meist männlich ist, sind nicht alle Männer meistens gewalttätig.
Was ist die Konsequenz der Aussage ›Die meisten Gewalttaten werden von Männern begangen‹? Schließlich ist der Umkehrschluss, dass alle Männer gewalttätig seien, nicht zulässig. Gerade das ist aber doch die entscheidende Bedingung, wenn wir gesellschaftliche Konsequenzen diskutieren wollen, oder nicht?
Nein, ist es nicht! Auch wenn wir es uns häufig wünschen, sind die meisten Zusammenhänge im Leben nicht monokausal, sprich: Sie hängen nicht allein von einer Zutat ab und wir können keine Aussage à la »Wenn ich mich gesund ernähre, werde ich nicht krank« oder »Wenn jemand männlich ist, wird er gewalttätig« treffen. Stattdessen können wir aber – im ersten Schritt der Analyse – feststellen, dass die Eigenschaft »Mann-Sein« ein starker
Angenommen, wir sollten aus einer Gruppe von 10 Menschen aus 5 Männern und 5 Frauen blind den einen Gewalttäter herausfischen, dann steigern wir unsere Erfolgschancen enorm, wenn wir einen Mann wählen. Weil fast 100% der Gewalttäter Männer sind, kommt die Eigenschaft, Mann zu sein, der sogenannten notwendigen Bedingung sehr nahe, ist in jedem Fall aber nicht hinreichend.
Und genau jetzt wird es spannend, weil es um die Frage geht: Welche Faktoren begünstigen Gewalt außerdem?
Die Sache mit den jungen Wilden
Egal auf welche Kriminalstatistik wir schauen: In jeder Gesellschaft sind
Klar ist also: Die meisten Gewalttäter sind nicht nur männlich, sondern auch jung.
Ist Gewalt also vor allem eine Frage der Biologie? Wenn junge Männer während ihrer Entwicklung einem bestimmten Hormoncocktail ausgesetzt sind, braucht es nicht mehr viel, damit sie um sich schlagen? Die meisten denken an dieser Stelle sicher an das »männliche Hormon«
Vielmehr legen die Ergebnisse mit menschlichen Versuchsteilnehmern nahe, dass die Gabe von Testosteron –
Wenn Jungs also nicht »von Natur aus« aggressiv und gewalttätig sind, bleibt die Frage: Warum werden einige junge Männer gewalttätig – und andere nicht?
Dafür müssen wir zwischen 2 Dingen unterscheiden, die wir häufig in einen Topf werfen.
Die Sache mit der toxischen Maskulinität
»Ich verstecke die Tränen in meinen Augen, weil Jungs nicht weinen.« – »Boys Don’t Cry« von The Cure (1979)
Die erste wichtige Erkenntnis dazu finden wir in anthropologischen Untersuchungen. Diese zeigen, dass Gewalt vor allem in patriarchischen, ungleichen Gesellschaften verbreitet war.
Männerdominierte Gesellschaften basieren nicht nur auf einer Hierarchie von Männern über Frauen, sondern auch auf einer von einigen Männern über andere Männer. Gewalt oder angedrohte Gewalt ist ein Mechanismus, den sie seit der Kindheit nutzen, um diese Hackordnung herzustellen.
In
Soweit, so gut – aber warum soll das ein Paradox sein? Weil es eben diese Ungleichheit ist, die nicht nur Frauen und andere Minderheiten unterdrückt, sondern auch für die Männer dieser Welt eine ausweglose Situation schafft. Während einige wenige – und die Betonung liegt hier auf wenige – Männer in patriarchischen Gesellschaften Gewalt anwenden, um ihre Machtansprüche zu halten, kann kein Junge oder Mann – egal wie sehr er sich bemüht und abrackert – der langen Liste von Erwartungen an seine Männlichkeit gerecht werden. Er ist per Definition zum Scheitern verurteilt, weil kein Mensch immer »groß und stark« sein kann. Gewalt wird für einige dann Mittel zum Zweck und ist der Versuch, sich und anderen zu beweisen:
»Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass unsere Vorstellung von Männlichkeit buchstäblich Menschen tötet.« – Jennifer Siebel Newsom, Regisseurin von »The Mask You Live In«
Und wie so ein »richtiger Mann« aussieht und sich verhält, lernt jeder Junge in seinen
Die Forschungsergebnisse sprechen nicht dafür, dass Männer irgendwie von Natur aus gewalttätiger sind als Frauen. Stattdessen scheint es, dass Männer gewalttätig werden, wenn sie das Gefühl haben, dass sie anders nicht in der Lage sind, ihr Anrecht auf ihre Männlichkeit anzumelden.
Das bringt uns zurück zum Paradox: Die Machthabenden im Patriarchat – also die Männer – sind schlussendlich ebenfalls benachteiligt, weil sie auf Biegen und Brechen versuchen, einer Rolle gerecht zu werden, die niemand erfüllen kann. Statt also weiter an der Quadratur des Kreises zu arbeiten oder die Schuldkarte den Männern dieser Welt zuzuschieben, kommen wir aus der Gewaltspirale nur heraus, wenn wir unseren Blick auf gesellschaftliche Lösungen richten. Weg von der toxischen Männlichkeit, die sämtliche Lebensbereiche korrumpiert.
Wie kommen wir da heraus?
Männlichkeit wird durch die Gesellschaft bestimmt; und das bedeutet, sie kann auch desorganisiert und neu organisiert werden.
Es geht also um nichts Geringeres als den Umbau der gesellschaftlichen Strukturen, die die patriarchischen Eckpfeiler ausmachen. Fangen wir mit diesen 4 Zutaten an:
- Frauenrechte und -aktivismus:
Frauen (und Männer) müssen sich weiter
- Das Schweigen der Männer:
Die Mehrheit der Männer wendet in ihren Beziehungen keine Gewalt an. Aber die Mehrheit von uns schweigt. Und unser Schweigen sorgt dafür, dass die Gewalt weiter besteht.
Das Ende des Schweigens kann bedeuten, sich gegen Witze zu Vergewaltigungen auszusprechen, Belästigung am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundeskreis nicht länger lachend oder stillschweigend hinzunehmen. Genau hier setzt auch das eingangs genannte Programm aus Kenia an. Jungen und junge Männer lernen einen neuen Umgang mit Frauen. Sie lernen einzugreifen, wenn sie Gewalt gegen Frauen beobachten. - Das Ende der toxischen Männlichkeit:
Wenn wir der toxischen Männlichkeit den Garaus machen wollen, müssen wir den Leons, Mohammeds und Sörens dieser Welt zugestehen, weinen oder Schwäche und Angst zeigen zu dürfen, und sie so
Tatsächlich denke ich, dass Jungen und Mädchen genau die gleichen Dinge benötigen: körperlich und emotional. Und dass wir unsere Söhne und Töchter auf die gleiche Art und Weise erziehen sollten. Das ändert nichts daran, dass es Jungs und Mädchen gibt, Männer und Frauen, aber unsere Vorstellungen davon, was das bedeutet, wären weniger zweigeteilt.
Wie wir die toxische Männlichkeit zu einer positiven Männlichkeit werden lassen können, zeigen zahlreiche Organisationen weltweit auf praktische Weise: Die amerikanische Brown University hat ein eigenes Programm, um - Vaterschaft 5.0:
Die vielleicht größte Stellschraube auf dem Weg zu weniger Gewalt ist die Transformation der Vaterrolle.
Schritt 1 bei der Transformation der Vaterschaft erfordert also ein Aus-dem-Weg-Räumen der Hürden, denen Frauen auf dem Weg zu beruflicher Gleichstellung und Erfolg begegnen, und damit eine Gleichstellung von Arbeiten im Haushalt mit anderen Jobs.»›Das bisschen Haushalt macht sich von allein,‹ sagt mein Mann.« – Schlager von Johanna von Koczian (1977)
Warum ist die Aufteilung der Erziehung so wichtig für das Ende der Gewalt? Nehmen wir an, Männer und Frauen teilten sich die Erziehung zu gleichen Teilen (und haben aufgrund entsprechender Rahmenbedingungen und Gesetze keinen finanziellen Nachteil dadurch). Die wichtigste Fähigkeit, die Eltern brauchen, ist Empathie. Denn Babys und Kleinkinder können weder sprechen noch sind sie besonders gut darin, ihren Gefühlen klaren Ausdruck zu verleihen. Ohne Empathie – also die Fähigkeit, sich in die Lage des anderen möglichst gut hineinzuversetzen – kommt man da nicht weit. Weil Frauen den Großteil der Erziehung übernehmen, trainieren sie ihre empathischen Fähigkeiten viel stärker. Auf der anderen Seite hat derjenige, der weniger empathisch ist, potenziell eine niedrigere Hemmschwelle, gewalttätig zu werden – weil er den Schmerz des Gegenübers nicht nachempfindet.
Die gute Nachricht ist, dass die meisten jungen Väter ihre Rolle fundamental anders sehen als noch ihre Väter oder Großväter. Auch die Einführung des Elterngeldes hat hier sicher eine große Rolle gespielt. Aus einem »Ich helfe mal mit aus« ist ein ebenbürtiger Partner in der Erziehung geworden, der sämtliche Aufgaben ebenso gut übernehmen kann. Mit einer Ausnahme: Männer sind sehr schlecht im Stillen.
Was bleibt unterm Strich?
Es geht um mehr, als nur mit dem Finger auf gewalttätige Männer zu zeigen und Aufmerksamkeit zu erregen. Denn das führt häufig nur zu einer Verhärtung der Fronten statt zu echtem Fortschritt für alle Beteiligten – egal ob mit oder ohne Penis.
Mit Illustrationen von Michael Szyszka für Perspective Daily