»Ich mochte am Anfang auch nicht ›Krebs‹ sagen«
Christine hat Krebs und weiß nicht, wie es ihr in einem Jahr geht. Warum sie anfangs kaum darüber sprechen konnte – und heute große Pläne schmiedet.
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Ich sitze bei Christine im Wohnzimmer mit Blick in den Garten. Die Sonne geht gerade unter und Hund Lana legt ihre kalte Schnauze in meine Hand. Vor 2 Wochen hat Christine die erste von 6 Chemo-Anwendungen bekommen. Vor 4 Wochen haben wir das erste Gespräch über ihre Krebserkrankung aufgenommen. Nicht gemeinsam im Wohnzimmer, sondern mehrere Tausend Kilometer und 7 Stunden Zeitverschiebung voneinander entfernt. Ich in Austin in Texas am Schreibtisch und Christine bei sich daheim.
Knapp einen Monat lang haben wir uns nicht gesehen, davor jeden Tag zusammengearbeitet. Jetzt gibt es also ein »Davor« und ein »Danach«. Und als wir uns ordnen, um mit unserem zweiten Gespräch zu beginnen, scheint die Zeit plötzlich stillzustehen. Die letzten Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster.
Ersten Text verpasst? Hier findest du Teil 1 unserer Reihe zum Thema Krebs.Maren: Ich habe mir unser erstes Gespräch heute noch mal konzentriert angehört und würde gern mit der letzten Frage, die ich dir da gestellt habe, anfangen. Ich finde, sie passt gut als Einstieg. Du hast gesagt: »Ich hab’ ein Leben und ich hab’ etwas, für das es sich zu leben lohnt, und ein sehr schönes Leben.«
Vielleicht noch was zu Plänen – und dieser blöden Krankheit. Nach den ersten 2 Diagnosen habe ich irgendwann aufgehört, langfristige Pläne zu machen. Das bringt ja alles nichts, weil du keine Ahnung hast, was in einem halben Jahr ist.
Fängst du dann doch an, Pläne zu machen, kommst du da an, wo ich jetzt sitze, und ich denke mir: Wie gut, dass du Pläne hast! – Ich hab’ ein Leben und ich hab’ etwas, für das es sich zu leben lohnt, und ein sehr schönes Leben, ich habe das Glück, ganz viel Glück zu haben.
Du hast mir erzählt, dass du das deinem Onkologen entgegnet hast, als er dich vor die Entscheidung gestellt hat,
Christine: Oh ja, das höre ich gerne. Schön, dass ich das so sah. Und ich sehe es jetzt auch wieder so. Aber ich verstehe es jetzt gerade auch ein wenig als eine Mahnung an mich selbst. Die erste Chemo ist jetzt erst mal in mich geflossen und es ging mir gar nicht gut. Eine Zeit lang war alles gar nicht so lebenswert. Jetzt, wo es mir wieder besser geht, muss ich über diese Aussage von mir schmunzeln und möchte sie bekräftigen.
»Wie nah fühlst du dich im Moment bei dir selbst?«
Das spricht für das, was du über das Gefühl gesagt hast, nah bei sich selbst zu sein. Da haben wir beim ersten Mal drüber gesprochen, als es um den Krebs, dich als Person, aber auch generell um Menschen ging. Wir haben versucht, darüber zu sprechen und zu analysieren, ob Menschen, die vor eine so große Herausforderung wie du gestellt werden, näher bei sich selbst sind. Aus dem einfachen Grund, weil sie schlichtweg gezwungen werden, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Wie nah fühlst du dich im Moment bei dir selbst?
Ich weiß nicht, ob alle Menschen, die mit einem solchen Schicksal umgehen müssen (stockt) – ich mag das Wort nicht gern in diesem Zusammenhang …
Wie würdest du es nennen?
Hmm. Eine Gegebenheit. Es ist einfach ein Faktum, das sich in dein Leben drängt. So wie der Mühlstein des Lebens immer weiter geht, bekommst du halt irgendwann diese Diagnose und das hat für mich, gerade weil es oft sehr biologisch begründet ist – wahrscheinlich immer biologisch begründet ist – wenig mit Schicksal oder so zu tun. Es ist also eigentlich eher etwas Greifbares, etwas Genetisches und Unausweichliches.
»Ok, jetzt schauen wir mal, was wirklich wichtig ist!«
Aber wir waren ja beim Gefühl des Nah-bei-sich-Seins. Ich bin mir nicht sicher, ob das jeder hat. Ich musste mich ja auf einmal damit auseinandersetzen, weil ich plötzlich um mein Leben kämpfen musste. Klar ist diese Erfahrung nicht jedem gegeben. Aber sie gibt einem die Chance, nah bei sich zu sein und sich zu sagen: Ok, jetzt schauen wir mal, was wirklich wichtig ist und wie ich mein Leben meistern kann. Genau da liegt für mich der Dreh- und Angelpunkt: Dieses Gefühl, bei sich selbst zu sein, gibt dir die Kraft, die wichtigen Entscheidungen zu treffen, wie: Ich mache noch eine dritte Chemo! Es gibt ja noch ganz andere Schicksale, wenn es zum Beispiel um die Frage geht: Wie sage ich es meinen Kindern?
Auf jeden Fall bin ich im Moment nicht so nah bei mir wie vor ein paar Wochen, als es mir gut ging, bin mir aber ziemlich sicher, dass das auch mit den Medikamenten zusammenhängt. Sie trennen mich irgendwie von meinem »In-sich-selbst-ruhen«-Gefühl. Es fühlt sich ein wenig anders an, etwas fremdbestimmt. Aber das Band ist nicht unterbrochen. Es ist nur schwieriger, sich die Kraft da herauszuziehen, weil ich es im Moment »doof« finde, ich zu sein.
Eine interessante Beschreibung, die mich an einen wichtigen Gedanken erinnert. Klar kann ich mir versuchen vorzustellen, wie du dich fühlst, aber ich finde es immer sehr schwierig, wenn Menschen zu mir sagen: »Ich fühle mit dir und weiß genau, was du meinst.« Ich denke dann immer: »Einen Scheiß weißt du!« Denn du kannst dich nicht in eine andere Person hineinversetzen,
Aber das kannst du ja nie!
Genau, richtig! Das gilt für alle Lebenslagen.
Ja, auch in guten Zeiten, wenn man in Gesprächen nicht auf einen Nenner kommen kann und sich denkt: Wieso will der andere das einfach nicht verstehen? Du kannst nie fühlen, was der andere fühlt. Bei einer Chemotherapie ist das natürlich noch extremer, weil du selbst kaum einordnen kannst, wie du dich fühlst. Ich wache morgens auf und weiß nicht, was heute das Problem sein wird. Mal tun mir die Zähne sehr weh. Wenn das vorbei ist und ich mich kurz freue, fängt der Kreislauf an zu spinnen und dann geht es woanders weiter. Ohne da jetzt ins Detail gehen zu wollen: Irgendwas ist immer. Es ist einfach nicht so schön.
Wie ich mich fühle? Im Moment, also 2 Wochen nach der ersten Chemo-Anwendung, geht es mir ganz gut und ich fühle mich eher abwartend. Die Tage verrinnen und ich weiß nicht, ob ich gerade froh bin, dass ein Tag rum ist oder nicht.
Weil die nächste Anwendung näher rückt?
Ja, und ich mich auf der anderen Seite auch jeden Tag ein bisschen mehr von der ersten Anwendung erhole und wieder besser fühle.
»Ich versuche dir zu beschreiben, wie ich mich fühle, auch wenn ich weiß, dass es schwierig wird.«
Ich möchte gern noch mal kurz bei dem nachhaken, was du eben gesagt hast. Irgendwie ist das Ganze auch ein linguistisches Problem. Denn wenn du sagst: »Eine Chemo ist eine so extreme Therapie«, ist das eine extreme Herausforderung, den entsprechenden Geistes- und Gedankenzustand betroffener Menschen zu kommunizieren. Weil wir das Thema Krebs gesellschaftlich aber immer noch tabuisieren, kommt häufig gar kein Dialog zustande. Es ist also ein Teufelskreis:
Dadurch, dass wir so wenig drüber sprechen, haben wir keine Worte dafür, und dadurch, dass du dann auch keine Worte dafür hast, wirst du wahrscheinlich auch weniger darüber sprechen. Und genau das versuchen wir hier jetzt gerade ja ein wenig aufzubrechen, indem wir einfach darüber sprechen. Wobei ich natürlich auch an das Feedback auf
»Und jetzt gehen mir schon wieder die Worte aus.«
Ja, das trifft den Nagel auf den Kopf! Soweit habe ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht, weil die Menschen, mit denen ich über meine Krankheit rede, meistens so nah dabei waren, dass ich keine Worte brauchte. Sie haben ihre eigenen Worte. (stockt) Und jetzt gehen mir schon wieder die Worte aus. – Es bringt es also wirklich gut auf den Punkt! Der geringe Austausch über das Thema ist ein Problem.
Sage ich dir stattdessen: »Maren, ich habe mir eine Erkältung eingefangen!«, weißt du Bescheid – denn mit großer Wahrscheinlichkeit hatte jeder schon mal eine verstopfte Nase und Halsschmerzen. Wenn ich aber sage: »Ich mache eine Chemo« und wir können heute lachen und scherzen, aber morgen scheint alles anders, weil ich mich so beschissen fühle, ist das für mein Gegenüber kaum nachzuvollziehen.
Genau dafür müssen wir Worte finden. Damit wir uns annähern können. Und wir sind uns ja einig, dass es maximal zu einer Annäherung kommen kann.
Ich mochte aber am Anfang ›Krebs‹ auch nicht sagen.
Warum?
Hinter dem Wort steht ein so mächtiges Gefühl, dass man sich ein wenig ducken will. Was du nicht benennst, ist im Umkehrschluss auch nicht da. Es ist nicht greifbar und existiert einfach nicht.
Sobald du aber über etwas redest, musst du auch handeln. Zumindest ist so meine Auffassung der Dinge und genauso gehe ich auch mit mir um, weil ich gern ein verantwortungsvoller Mensch sein möchte. Dann habe ich also das Wort gesagt und hatte auf einmal diese Krebsproblematik. Das sorgte dafür, dass ich keine Angst mehr hatte, darüber zu sprechen, und genau das dann getan habe. Doch dann schaute ich plötzlich immer in entsetzte Gesichter und dachte: »Oh Gott, du bist der Unglücksrabe. Du bringst ja allen das Pech, weil du die Menschen mit dem Thema konfrontierst, sodass sie sich nicht mehr wegducken können und sich jetzt damit auseinandersetzen müssen.« Das war auch schwierig.
»Wir wissen, wie wichtig Nähe und menschlicher Austausch sind.«
Die Frage ist also: Wer macht den Anfang und wie können wir es schaffen, die Mauern einzureißen, um uns anzunähern? Genau dieses Bild der Mauern bringt mich zum nächsten Punkt. Das Ganze ist ja auch eine Art therapeutischer Ansatz. Mittlerweile wissen wir, wie wichtig Themen wie
Die verabreichten Medikamente sind nur ein Teil der Medizin. Und das hat nichts mit Esoterik oder Hokus-Pokus zu tun – sondern kann genauso im Körper untersucht werden wie die Reaktionen auf Pillen und Spritzen. Doch irgendwie stehen wir uns noch im Wege, wenn es darum geht, die positiven Wirkungen menschlicher Beziehungen zu nutzen.
Ja, solche Beziehungen gibt es. Sowohl zwischen Patienten und Arzt, aber auch in Selbsthilfegruppen. Wobei das Wort »Selbsthilfegruppe« für mich immer einen Touch von: »Ich brauche Hilfe!« hat. Ich war noch nie bei einer solchen Gruppe, es war einfach nicht mein Ding. Nach meiner zweiten Chemo habe ich eine Therapie gemacht, um den Weg zu mir zu finden. Da ging es weniger um die Frage, wie ich mit dem Krebs umgehe, sondern mehr um die Aufgabe: »Christine, komm endlich mal bei dir selbst an!« Vielleicht wäre das auch ohne Krebs nötig gewesen. (lacht)
»Wir sollten drüber reden, da wir gar keine andere Wahl haben!«
In jedem Fall: Drüber reden hilft! Dass wir die positiven Effekte davon im großen Stil nutzen sollten, hat mich die Erfahrung gelehrt. Ich kann nur immer wieder sagen: Mein Leben mit dem Krebs hat mir gezeigt, dass es gut ist, mit Menschen darüber zu reden. Und wenn es mir und den Menschen um mich herum guttut, kann es vielleicht auch vielen anderen guttun.
Das ist ja genau mein Punkt. Also: Wie schaffen wir es, den Anfang leichter zu machen?
Einer muss den Anfang machen.
Richtig. Da gibt es ja die verschiedenen Beteiligten – die Patienten, die Familien, die Ärzte, soziale und auch Bildungseinrichtungen. Letztendlich ist es auch eine Bildungsfrage. Wird das Thema in der Schule behandelt, nehmen wir ihm das Mystische – das Sich-wegducken-Wollen –, indem drüber gesprochen wird.
Ja, genau wie unterschiedliche Kulturen ganz verschieden
Ich denke, Ärzte reden recht offen über das Thema und stehen dabei immer vor der Herausforderung, abzuwägen: Was sagen sie? Was sagen sie nicht? Da sitzt ein Patient vor ihnen, der für die nächste Zeit ganz viel Kraft braucht und vor einer riesigen Herausforderung steht. Ich kann nur sagen, dass meine Ärzte das immer sehr gut gemeistert haben und mir so auch Kraft gegeben haben. Sie haben mich zunächst beschützt und auf jede meiner Nachfragen habe ich ehrliche Antworten bekommen.
Und dann sind da natürlich noch ganz viele andere Menschen, die das mit dir durchmachen – deine Familie, deine Freunde, deine Arbeitskollegen. Es sind viel mehr Menschen beteiligt, als man vielleicht zunächst denkt. Die Nachbarn und selbst der Postbote, den du gar nicht kennst, der aber auf einmal vor einer ganz anderen Frau steht, wenn er ein Päckchen vorbeibringt.
Du kannst allen nur zeigen, dass das normal ist, wenn du darüber sprichst. Und wir sollten drüber reden, da wir gar keine andere Wahl haben!
Das haben wir ja schon beim ersten Gespräch festgestellt: Wir haben gar keine andere Wahl, als drüber zu sprechen. Denn die Alternative würde bedeuten, das Thema zu verschweigen. Und dann?
Dann machen wir das Böse noch größer. Dann ist es wirklich das böse K-Wort. Das hat uns noch nie weitergebracht.
»Ach ja, Christine, hast du dich wieder im Leben verloren.«
Du hast eben noch etwas angesprochen, das hier mit reinspielt, nämlich die Rolle des Todes. Du hast dich schon vor 6 Jahren – nach der Krebs-Diagnose mit 25 – intensiv mit dem Tod beschäftigt.
Beim letzten Mal haben wir auch darüber gesprochen, dass du dich dadurch intensiver empfindest. Sprich, dass die Wahrnehmung von täglichen Banalitäten wie dem Zähneputzen bis hin zu den großen Fragen wie »Wie möchte ich mein Leben leben?« neu geordnet wird. Ich stelle mir das ein wenig wie eine Achterbahnfahrt oder eine sehr beeindruckende Jonglage-Nummer vor, wo die Bälle immer wieder neu aufgefangen werden müssen.
Ja, das war für mich sehr spannend. Und wo du es gerade ansprichst, mit dem Zähneputzen ist das so eine Sache: Ich muss mich so zusammenreißen, mir die Zähne zu putzen. (lacht) Es ist total bescheuert und ich bin ein sehr hygienischer Mensch, der sich auch morgens und abends die Zähne putzt. Aber es ist für mich auch einfach eine Lappalie, eine »Muss-Sache«. So wie wenn ich gerade etwas Tolles mache, Hunger bekomme und weiß, dass ich essen sollte, weil ich sonst unterzuckere. Dann werde ich nicht nur biestig, sondern mir fehlt auch die Kraft, Dinge zu tun, die mir wichtig sind. Also, alles ganz normale Reaktionen – wie bei jedem anderen Organismus auch – und das nervt mich dann und ich denke immer: »Ach ja, Christine, hast du dich wieder im Leben verloren.« Und ich lande automatisch bei der großen Frage, wie ich mein Leben leben möchte.
»Ich darf mir jetzt die Zähne putzen.«
Am liebsten möchte ich mich nicht mehr mit den Dingen aufhalten, die ich machen »muss«. Aber die gehören natürlich auch dazu. Der Trick ist es, sich das Zähneputzen schön zu machen. Ich sage mir also: »Ich darf mir jetzt die Zähne putzen.« Oder ich gestalte mir es so, dass es mir Spaß macht, nehme mir ein Buch dazu oder was auch immer.
Das hast du, finde ich, schön runtergebrochen. Und es passt wunderbar zur Frage: Wie können wir anfangen, uns darüber auszutauschen, wie es sich anfühlt, Krebs zu haben. Da hilft es, die unterschiedliche Wahrnehmung der gleichen Sache – in diesem Fall das Zähneputzen – als Anhaltspunkt zu nehmen. Durch deine Schilderung kann ich und können andere Menschen es anhand konkreter Beispiele versuchen, nachzuvollziehen. Bei unserem ersten Gespräch vor der ersten Chemo-Anwendung hast du bereits erwähnt, dass du dich jetzt wieder anders organisieren musst, und hast dem Ganzen einen schönen Ausdruck gegeben: den Strudel des Lebens.
Alltag habe ich durchaus. Mir passiert es ganz häufig, dass ich an den Punkt komme, an dem ich über mich selbst schmunzele, weil ich feststelle: Christine, du bist im Strudel! Im Alltagstrott lasse ich mich von Dingen nerven wie jeder andere Mensch auch. Ich habe dann aber die Möglichkeit, das zu merken. Weil ich durch die Auseinandersetzung mit mir, dem Leben, meinen Mitmenschen, der Natur und was weiß ich eine Art Hintertür habe. Und dann lande ich immer wieder an dem Punkt, an dem ich merke: Jetzt ist es Zeit für die Hintertür, nimm dich mal wieder raus.
Vor der Nachricht, dass du erneut eine Chemotherapie machen musst, standest du mitten im Leben. Als ich das erste Gespräch heute nachgehört habe, ist mir der Ausdruck noch mal aufgefallen und mir ist deutlich geworden, dass du jetzt nicht mehr »im Strudel des Lebens« stehst. Du fährst nicht ins Büro, arbeitest nicht, hast keinen vollgepackten Terminkalender und 15 Team-Mitglieder um dich herum, die etwas von dir wollen. Wie organisierst du dich und deine Gedanken jetzt? Wie sieht »dein Strudel des Lebens« aktuell aus?
Da fällt mir als Erstes ein, dass ich mich zwinge, soziale Kontakte zu pflegen.
Wie ich mich organisiere? Im Moment kann ich nicht viel organisieren, weil so vieles sich darum dreht, was mein Körper gerade braucht. Das muss und habe ich organisiert. Ich habe mir den Raum gegeben und allen Bescheid gesagt: »Ich kann momentan einfach nicht wissen, ob ich in 2 Stunden telefonieren kann, ob ich dann Lust auf einen Kaffee habe oder was ich zum Abendessen möchte.«
Ich kann also viel, viel weniger organisieren. Es fällt mir deshalb nicht schwer, das zu akzeptieren, weil ich zu mehr gar nicht in der Lage bin. Es sind diese Strohhalme der sozialen Kontakte, zu denen ich mich wirklich ein bisschen zwinge. Nicht nur Textnachrichten und E-Mails, und nicht nur Telefonate, sondern – und das, obwohl ich mich selbst nicht mehr so gern im Spiegel anschaue – meine Freunde zu mir nach Hause einzuladen und zu sagen: »Kommt, trinkt mit mir einen Kaffee.« »Sind deine Kinder gesund?« »Ich würde gern mal mit dir eine halbe Stunde im Garten sitzen.« Vorher denke ich jedes Mal: »Oh nein, oh nein!«
Aber hinterher freue ich mich, dass ich es gemacht habe und ziehe immer ganz viel Energie aus diesen Begegnungen. Wo wir wieder bei der Sache mit dem menschlichen Austausch und sozialer Fürsorge sind.
Und auch den Reaktionen der Leser, Mitglieder und Organisationen auf unseren ersten Artikel.
Die haben mich überwältigt …
Wie hast du das wahrgenommen?
Also, erst mal ist der Artikel online gegangen und auch ich habe ihn erst am Morgen der Veröffentlichung vollständig gelesen, also mein Morgen um 11 (lacht), aber lassen wir das.
Das war 3 Tage nach der ersten Chemo-Anwendung und mir ging es ziemlich bescheiden. Ich habe dann auch gar nicht so schnell reagieren können und habe mir im Nachhinein die Diskussionsbeiträge und E-Mails angeschaut. Und war ein wenig überwältigt.
»Wieso soll ich jetzt in dieser Form über mich reden?«
Ich freue mich – das ist für mich auch gar nicht so einfach hier alles –, sofort so viele Gleichgesinnte gefunden zu haben, die ja auch ihre Stimme erhoben haben. Und ich freue mich sehr über die vielen Wünsche. All diese Worte tragen mich jetzt auch. Es fällt mir leichter, von Woche zu Woche zu arbeiten. Gleichzeitig hat es mir auch Kraft gegeben, um mich heute wieder mit dir zu treffen, und mir die Frage beantwortet: »Wieso soll ich jetzt in dieser Form über mich reden?«
Letztes Mal hast du noch ein anderes schönes Sprachbild verwendet und von einer Kutsche gesprochen. Wo sitzt du gerade auf der Kutsche?
Das Leben ist wie eine Kutsche. Und ich habe dabei einen alten, rustikalen Kutschbock vor Augen. Manchmal hängst du wie an einer Leine an der Kutsche hintendran und manchmal hängst du vielleicht knapp vor dem Fahrersitz, also dem Kutschbock. Jedes Mal, wenn dir klar wird, dass du gerade wieder ein bisschen zu weit hinten auf der Kutsche sitzt, musst du dich wieder nach vorne arbeiten, auf den Kutschbock und die Zügel in die Hand nehmen. Auch wenn das schwierig ist, weil du wieder für dein Handeln verantwortlich bist und dir alles bewusster wird, inklusive der Dinge, die falsch laufen.
Also, die Kutsche ist ein Bild für mein Leben. Sie »kutscht« da so vor sich hin und ich sitze entweder oben auf der Kutsche oder hänge irgendwo hinterher.
Jetzt gerade bin ich wieder auf der Kutsche, habe aber noch lange nicht den Kutschbock – wo ich eigentlich hinwill – in Sicht. Aber ich bin auf der Kutsche und habe mir auch vorgenommen, sie nicht zu verlassen. Ich möchte in der Nähe der Zügel bleiben, also mein Leben nicht ganz aus der Hand geben und mich nicht fremdbestimmen lassen. Also will mich nicht von der Krankheit tragen lassen. Natürlich habe ich auch viele schlechte Gedanken, bin zwischendurch traurig und so. Ich will aber verdammt noch mal auf diesem hinteren Ende der Kutsche bleiben!
Cool! – Und wenn ich das so sage, klingt das irgendwie zu sehr wie eine Lappalie, aber …
Ne, das ist schon cool! Also, ich bin auch sehr stolz.
»Wo können wir anfangen, ohne uns im Wege zu stehen?«
Wenn wir hier jetzt so sitzen, ist die Situation natürlich auch noch mal eine andere. Ich kann dir in die Augen schauen, sehe sie jetzt glänzen und höre die Überzeugung in deiner Stimme.
Und ich kann auch sagen, dass das auch mir und dem ganzen Team von Perspective Daily Kraft gibt. Das bringt mich zur letzten Frage für heute. Auch bei uns im Team waren die Reaktionen auf deine Chemotherapie sehr unterschiedlich, aber was uns alle verbindet, ist der Wunsch, dich bei uns behalten zu wollen. Wir wollen dich nicht zurückhaben, denn du bist da, sondern wir wollen dich behalten!
»Mit allen Verwirrungen und möglichen Missverständnissen, die es geben kann.«
Dieses Gefühl, und wenn ich das so sage, bekomme ich auch ein wenig eine Gänsehaut, ist ein sehr starkes Gefühl. Und es treibt uns auch an, weiterzumachen und dich, dort wo wir können, zu unterstützen. Und schon sind wir wieder bei den 2 Seiten aus Patient – auch wenn das Wort immer ein wenig zu klinisch klingt – und Angehörigen im weitesten Sinne. Wie können beide zusammenarbeiten, ohne sich im Wege zu stehen oder mit ihren Ängsten und Fragen allein gelassen zu werden? Mit allen Verwirrungen und möglichen Missverständnissen, die es geben kann, weil wir nicht die richtigen Worte finden, weil wir nicht planen können und flexibel sein müssen.
Meine Frage also: Wo siehst du aus deiner eigenen Situation heraus die wichtigsten Zutaten?
Ich stehe ja auf der einen Seite und kann aus meiner Sicht sagen, was sich für mich – also die Patientenseite – gut anfühlt. Aber die andere Seite müsstest im Grunde genommen du sagen. Denn ich weiß ja nicht, was für Familie und Freunde das beste Verhalten ist, damit ihr gut damit umgehen könnt. Ich halte mich selbst für relativ empathisch und hoffe deswegen, dass ich mich hoffentlich oft so verhalte, dass es Menschen leichtfällt, mit meiner Krankheit umzugehen.
Aber ich will noch mal aus meiner Warte, also der Patientenseite, sprechen und es konkret machen: Heute Morgen mache ich mein Handy an und habe eine wunderschöne Sprachnachricht von meiner Kollegin Juliane. Da habe ich mich einfach nur gefreut. Darüber, wie sie mir aus ihrer Morgenroutine heraus berichtet, was sie bewegt und wie sie sagt: »So, jetzt muss ich auch los, den Rest schreibe ich dir dann später. Und tschüss!«
So ging mein Morgen klasse los und ich dachte: »Ja, das Leben, ne?« Statt: »Mhh, ich bin hier ganz allein. Was soll ich mit diesem Tag machen?« Stattdessen war ich schon mal drin. Es ist wichtig, nicht aus dem Raster zu rutschen. Das Gefühl ist ein sehr wertvolles und ich habe in Bezug darauf ganz viel Glück.
Dann muss ich wohl doch noch eben für die andere Seite antworten – also auf den Teil der Frage, die du mir zurückgespielt hast. Natürlich kann ich das – genau wie du – jetzt nur aus meiner Sicht tun, auch wenn wir wie gesagt natürlich im Team und auch in unserem privaten Umfeld aktuell viel darüber sprechen.
Was für mich das Hilfreichste ist, ist zu wissen, dass du versuchst mir zu erklären, wie es dir geht, aber auch offen kommunizierst: »Du, pass auf, das ist jetzt so und so.« – Und jetzt spiele ich den Ball schon wieder fast ein wenig zu dir zurück. Ich versuche dabei auch ganz bewusst, meine Bedürfnisse und Befindlichkeiten nicht zurückzustellen, aber immer zu hinterfragen. Zum Beispiel, wenn ich versuche einzuordnen, warum du dich 4 Tage nicht gemeldet hast und ich mir – vielleicht ein wenig egoistisch – Sorgen mache. Einfach, weil ich das Gefühl habe, helfen zu wollen und für dich da sein zu wollen. Vielleicht geht das aber in dem Moment gerade einfach nicht.
Um damit besser umgehen zu können, habe ich dich einfach gefragt, ob es ok ist, wenn ich dir in solchen Phasen weiterhin Nachrichten und Bilder schicke. Oder ob das eine zusätzliche Belastung für dich ist. So haben wir ganz klar kommunizieren können.
»Wenn mehr Menschen darüber reden, können auch mehr Menschen davon profitieren.«
Klar hast du den Vorteil, dass du schon vorab einschätzen konntest, wie sich die Chemo anfühlen wird und auch wie sie sich auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken wird. Aber genau da sehe ich auch den »Nutzen«. Denn auch wenn wir uns jetzt wiederholen: Wenn mehr Menschen darüber reden, können auch mehr Menschen davon profitieren. Auch die, die zum ersten Mal in einer solchen Situation sind.
Da fällt mir noch eine Sache ein. Du hast gesagt, dass es dir geholfen hat, wenn ich meine Befindlichkeiten erkläre. Da hat es bei mir im Kopf »Klick« gemacht.
Klar! Denn dann kannst du es auch einschätzen. Dann reißen wir eben die Mauer zwischen uns ein und das große Fragezeichen, wie sich der andere verhalten soll, wird aufgelöst. Mit anderen Worten: Das ist gut zu wissen! Dann kann ich weiter so machen.
Und natürlich kennt man das auch aus vielen anderen Situationen im Leben. Wenn man keine Anhaltspunkte hat, kann man die Situation nicht einschätzen, fühlt sich unsicher, weiß nichts zu sagen und kommt sich auch nicht nah.
Ich finde, das ist ein sehr konstruktives Schlusswort. (lacht) Und wir beide haben auch bei diesem Gespräch eine Menge für uns mitgenommen.
Ja, auf jeden Fall!
Und wir freuen uns, wenn wir den Weg gemeinsam weitergehen können. Nicht nur wir beide oder das Team von Perspective Daily, sondern eben auch alle Menschen, die das mit uns teilen möchten.
Und das Leben geht weiter! Solange es weitergeht, nicht den Kopf in den Sand stecken. Sondern: reden, reden, reden!
Dieser Text ist Teil einer Themenreihe bei Perspective Daily: Wir wollen darüber sprechen, was Krebs und andere schwere Krankheiten mit einem Menschen machen, wie Therapien ablaufen und wie die Betroffenen damit umgehen. Wir möchten auch euch einladen, uns eure Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen mitzuteilen. Lasst uns gemeinsam über Krebs sprechen, um ihm so einen Teil seines Schreckens zu nehmen!
Titelbild: Christine Knappheide - copyright