Herzlichen Glückwunsch! Jetzt bist du ein berühmter Belästiger!
Während des Arabischen Frühlings in Ägypten vergewaltigten Männermobs demonstrierende Frauen. Einige Studenten wollten nicht länger zuschauen und kämpfen gegen sexuelle Belästigung – auch mit einer App.
Mehrere Männer, schrieb sie, hätten sie während der Demonstration auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos begrabscht. Der Tweet einer jungen Frau schockierte den ägyptischen Ingenieursstudenten Abdelfattah El-Sharkawy. Er antwortete ihr sofort:
So etwas sollte nicht passieren. Es tut mir leid, dass du so etwas erleben musstest.
Das war im Sommer 2012. Gut ein Jahr nach den Demonstrationen des sogenannten »Arabischen Frühlings« versammelten sich damals wieder Tausende Ägypter
Sie habe Momente lang geglaubt, den Angriff nicht zu überleben. – Lara Logan
»Taharrusch dschamā'i«
Umfassende Statistiken gibt es zu dem Phänomen nicht, weil viele Frauen aus Scham schweigen. Doch einzelne Berichte geben einen Eindruck davon, wie verbreitet das Phänomen ist: Allein während der ersten 2 Tage des muslimischen Opferfestes im Jahr 2012, als viele Menschen auf den Straßen feierten, wurden
Die verbreitete Gewalt gegen Frauen machte Männer wie Abdelfattah El-Sharkawy zu Frauenrechtsaktivisten, die es zu ihrer Mission erklärt haben, sexuelle Belästigung zu bekämpfen – auf der Straße und online.
Die Frauenschutz-Patrouille
Der heute 28-jährige Abdelfattah El-Sharkawy sitzt in einem Café in Maadi, einem westlich geprägten Viertel Kairos, während er seine Wandlung zum Aktivisten beschreibt. Er trägt weißes Hemd, schwarze Brille und Dreitagebart. Gerade kommt er von einem Geschäftstreffen, er ist viel beschäftigt in diesen Tagen: Er steht kurz vor dem
Nachdem er der Frau, die im Jahr 2012 sexuell belästigt wurde, über Twitter geantwortet hatte, teilten etliche Benutzer seinen Tweet – und nicht nur das: Einer von ihnen setzte das Gerücht in die Welt, El-Sharkawy würde ein Team von Freiwilligen zusammenstellen, um Frauen vor sexueller Belästigung zu schützen.
»Ich bekam etliche Nachrichten von Fremden, die sich meinem Team anschließen wollten.« Amüsiert erzählte er einem Freund davon. Doch anstatt mitzulachen, habe der ihn gefragt: »Warum machen wir das nicht wirklich?« Kurzerhand veröffentlichten die beiden online einen Aufruf: Wer Interesse habe, Frauen zu beschützen, solle am Folgetag zu einem verabredeten Ort kommen.
Tatsächlich tauchten 15 Freiwillige auf. Gemeinsam patrouillierten sie mehrere Tage über den Tahrir-Platz, alles schien ruhig. Bis eine Frauenrechtlerin entschied, einen Frauenmarsch auf dem Platz zu veranstalten, als Protest gegen sexuelle Übergriffe. Sie kontaktierte Abdelfattah: Ob er und sein Team sie beschützen könnten?
2 Tage später begleitete er rund 50 Frauen, die zu dem
»Die Menschen standen so dicht, dass ich mich zuerst nicht bewegen und nicht eingreifen konnte«, erinnert sich Abdelfattah. »Das war das traumatischste Erlebnis meines Lebens.«
Eine App gegen Grabscher
Sexuelle Belästigung ist in Ägypten eine weit verbreitete Plage: In einer Umfrage der Vereinten Nationen unter ägyptischen Frauen im Jahr 2013 gaben 99,3% an, schon einmal verbal oder körperlich belästigt worden zu sein. In einer
In den Monaten nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2012, die der
99,3% der ägyptischen Frauen gaben an, dass sie schon einmal sexuell belästigt wurden.
Doch das heißt nicht, dass der Kampf gegen Belästigung zu Ende ist. Er hat sich nur verlagert: Gemeinsam mit einem Partner hat Abdelfattah eine App entwickelt, die Frauen helfen soll, sich gegen Übergriffe zu wehren und im Notfall Hilfe zu holen. StreetPal heißt die Plattform, die sich kostenlos herunterladen lässt. Derzeit ist die Betaversion im Umlauf, im August soll das Endprodukt auf den Markt kommen.
Wie sie funktioniert: Wird eine Frau belästigt oder bedroht, kann sie per App einen Hilferuf aussenden. Freiwilligen Helfern wird der Standort der Frau angezeigt, sodass sie – das ist die Hoffnung – rechtzeitig einschreiten können. Bis zum Produktlaunch im Sommer will Abdelfattah El-Sharkawy mehrere Hundert Helfer rekrutieren und schulen. Außerdem enthält die App Informationsmaterial, Adressen von Polizeistationen und Krankenhäusern, einen Chat-Bot sowie einen Blog, in dem die User Erfahrungen und Ratschläge austauschen können.
El-Sharkawy will nicht nur Opfern helfen, sondern auch auf einen Kulturwandel hinarbeiten. »Das Problem ist in den Geschlechterrollen unserer Gesellschaft verwurzelt«, sagt er. »Männer können darüber bestimmen, was Frauen sagen, anziehen, arbeiten und lernen. Wenn eine Frau belästigt wird, heißt es oft: Sie muss irgendetwas falsch gemacht haben.« Diese Perspektive wollen er und viele andere Ägypter ändern.
Herzlichen Glückwunsch! Jetzt bist du ein berühmter Belästiger!
Auch Ahmed Ramadan ist einer von ihnen. Als er im Jahr 2011 erstmals von Übergriffen auf dem Tahrir-Platz hörte, war er 18 Jahre alt. Er schloss sich einer NGO namens Basma an, die ebenfalls Patrouillen zum Schutz von Frauen organisierte. Seitdem engagierte er sich bei der Gruppe, bis er im Jahr 2016 sein eigenes Projekt startete: eine Facebook-Seite zur Bekämpfung von Belästigung und Erpressung. Ihr Name lautet übersetzt:
Sollte sie ihn schlagen oder anzeigen?
An einem diesigen Nachmittag im Frühling 2018 sitzt Ahmed Ramadan in einem Kairoer Café, vor ihm auf dem Tisch stehen ein Eistee und sein Laptop. Vor wenigen Minuten hat er ein Video in der Facebook-Gruppe geteilt: Darin ist eine junge Frau zu sehen, die einen Mann, der sie laut Unterzeile zuvor im Aufzug begrabscht hat, mit ihrer Handtasche schlägt. »Was meint ihr«, hat Ahmed Ramadan dazu geschrieben, »sollte sie ihn schlagen oder anzeigen?« Die Antworten gehen im Minutentakt ein: »Beides«, schreibt ein Nutzer namens Ahmed, »und er sollte die Höchststrafe bekommen«. »Es ist normal, dass sie ihn schlägt«, kommentiert eine Frau namens Shima. Ein weiterer Nutzer findet: »Sie sollte ihn noch härter bestrafen.«
Diskussionen anzustoßen gehört zu den Zielen, die Ahmed Ramadan mit seiner Seite verfolgt. Vor allem aber bietet er Hilfe für Frauen, die online bedrängt werden. In vielen Fällen seien es Ex-Freunde oder -Männer, die die Frauen mit intimen Fotos unter Druck setzten, berichtet er: Sie drohten, die Fotos zu veröffentlichen, um die Frauen zu zwingen, zu ihnen zurückzukehren. Manchmal gehe es auch um Geld oder Unterhaltsrechte. In anderen Fällen würden Unbekannte private Fotos mit Hacker-Methoden von den Accounts oder Handys der Frauen stehlen oder bestehende Fotos mit Photoshop bearbeiten, beispielsweise nackte Brüste einfügen.
Er will die Männer demütigen und potenzielle Nachahmer warnen.
Für die Betroffenen kann das fatale Folgen haben: Derartige Fotos würden ihren Ruf in der konservativen ägyptischen Gesellschaft ruinieren und Eltern oder Ehemann schockieren. 20–30 Nachrichten von betroffenen Frauen erhalte er jeden Tag, sagt Ahmed Ramadan. Erfährt er von einem Fall, bittet er zunächst Facebook, gegen den Fake-Account vorzugehen oder die kompromittierenden Fotos zu löschen. Wenn möglich, veröffentlicht er zudem das Profilbild des Täters auf seiner eigenen Facebook-Seite, zusammen mit Screenshots der Nachrichten: Damit will er die Männer demütigen und potenzielle Nachahmer warnen. Er arbeitet außerdem mit Frauenrechts-Organisationen zusammen, an die er Opfer weiterleitet, wenn sie rechtliche Beratung oder psychologische Unterstützung brauchen.
Pling – eine neue Nachricht. Ahmed Ramadan schaut kurz auf seinen Laptop und seufzt. »Ich habe keine Ahnung, wann ich die alle beantworten soll!« Wie viele Stunden widmet er täglich seiner Seite? Er zuckt die Schultern, grinst. »Eigentlich ist das ein Vollzeitjob«, sagt er. Manche Opfer würden ihm Geld anbieten, sagt er. Aber das schlage er stets aus: Es gehe ihm allein darum, zu helfen.
Die große Anzahl von Nachrichten, die er erhält, lässt erahnen, mit wie vielen Problemen ägyptische Frauen zu kämpfen haben. Nichtsdestotrotz konnten Frauenrechtler in den vergangenen Jahren einige Fortschritte verbuchen. Mehrere Gesetze, etwa zu Scheidung und Erbrecht, die bis dahin Frauen benachteiligten, wurden fairer gestaltet.
Die männliche Angst vor mehr Frauenrechten
Diese Entwicklungen gefallen nicht jedem: In einer ägyptischen TV-Diskussion forderte kürzlich ein Anwalt die Gründung eines »Nationalen Männerrates«.
Abdelfattah El-Sharkawy und Ahmed Ramadan gehören zu jener jungen Generation von Ägyptern, die während der Aufstände im Januar 2011 ihr politisches Erweckungserlebnis feierten. Viele Menschen, die ihre totale Machtlosigkeit gegenüber der Politik bis dahin als unverrückbares Naturgesetz hingenommen hatten, begannen damals, sich zum ersten Mal in ihrem Leben für etwas zu engagieren, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern.
Für Menschen wie Ahmed Ramadan und Abdelfattah El-Sharkawy ist der Schutz und die Stärkung von Frauen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer weniger gewalttätigen, gerechteren und freieren Gesellschaft. Aus ihrer Perspektive ist der Kampf um Geschlechterrollen in Ägypten kein Ringen zwischen Frau und Mann, sondern zwischen Tradition und Fortschritt.
Titelbild: Isaiah Rustad