Warum ich fürchte, dass Deutschland die Stabilität Europas gefährdet
Pleite-Griechen, Chaos-Italiener, Flüchtlingsverweigerer – die anderen machen alles falsch. Aber machen wir alles richtig?
Alle paar Monate schlägt das europäische Establishment, das von den deutschen Medien und Berliner Politikern gesteuert wird, Alarm, dass ein weiteres Land sich ›aufzulehnen‹ beginnt: die Griechen, weil sie nicht sofort ihren gesamten Besitz verschleudern wollten; die Ungarn, weil sie von einer Demokratie ohne das Adjektiv ›liberal‹ geträumt haben; die Polen, weil sie auf Kaczyński gesetzt haben; die Österreicher, weil sie falsch gewählt haben; die Italiener, weil sie die Linke abgelehnt haben. Mit jedem Monat wird die Frage drängender, wie es möglich ist, dass nur Deutschland sich in der EU wohlfühlt.
Über diesen Kommentar eines polnischen Journalisten kann man sich wunderbar ärgern. Man kann anzweifeln, dass »die« Ungarn von einem Regierungschef träumen, der Hass sät. Dass die Mehrheit der jungen Polinnen ihre Zukunft zwischen Kirche, Kindern und Herd sieht. Die Wahlentscheidung der Italiener hat wohl mehr mit dem Versagen linker Parteien zu tun als mit der Ablehnung linker Ideen.
Aber in einem Punkt hat der Mann recht. Egal was in der Union los ist, aus deutscher Sicht sieht es so aus: Fehler machen nur die anderen. Griechenland ist überschuldet? Dann sollen die
Ungarn und Polen machen Zicken? Wo wären denn die Osteuropäer heute ohne uns? Die werden noch mit den Ohren schlackern,
In Deutschland haben wir diese Probleme nicht, in Deutschland ist alles gut. Und weil es so gut ist, haben wir viele gute Ratschläge für alle anderen, die ihren Laden nicht in den Griff kriegen.
Besserwisser gibt es in jedem Team, allein daran wird das Ganze nicht zu Grunde gehen. Gefährlich wird es aber, wenn einer nicht zuhören kann und komplett aufhört, die Fehler auch mal bei sich zu suchen. Deutschlands Zeigefinger, der sich stets auf andere richtet, ist eine Gefahr für das gemeinsame europäische Projekt.
Unsolidarisch sind immer die anderen
Dass die EU in der Krise steckt, ist relativ unstrittig. Zugleich
In Deutschland stehen aber vor allem 2 Themen auf der europapolitischen Agenda: Migration und der Euro.
Die erste Debatte ist für Deutschland unbequem. Die Konstruktion der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik unter dem Titel
Im Jahr 2015 wurde schließlich klar, dass sich verzweifelte Asylsuchende herzlich wenig für EU-Verordnungen interessieren. Zu Hunderttausenden reisten sie in andere Länder weiter, vor allem nach Deutschland. »Wir schaffen das!«, verkündete Kanzlerin Angela Merkel damals. Und tatsächlich: Wir haben das bislang ziemlich gut geschafft. Warum auch nicht.
Und auf einmal forderte Deutschland von diesen anderen lautstark die Solidarität, die es in den Jahren zuvor selbst verwehrt hatte. Zu Recht kann man die irrationalen Abwehrreflexe der mittelosteuropäischen Länder kritisieren. Es ist aber doch bemerkenswert, wie gut es gelang, den schwarzen Peter einfach nach Osten zu schieben, ohne zugleich selbst eine tragfähige gesamteuropäische Asyl- und Migrationspolitik voranzubringen. Eine solche steht bis heute aus. Der innenpolitische Streit darüber, wie es weitergehen soll, lässt momentan sogar die Koalition kriseln.
Was wirklich zählt, ist der Euro
Detailverliebte Vorschläge aus Deutschland kommen zuverlässig dann, wenn es um die Zukunft der Eurozone und der gemeinsamen Währung geht. Die wenigsten Menschen dürften verstehen, worum es wirklich geht, wenn vom
Eine Währungsunion hat Vorteile für alle – am meisten für die, die wirtschaftlich stark sind, und das sind wir selbst. Deutschland hat von der EU größere ökonomische Vorteile als die meisten anderen Länder.
Erst Ende Mai warnten 154 Ökonomen
Strukturreform – das klingt sachlich und ziemlich abstrakt. Was im Fall Griechenland für viele Menschen dahintersteckte, war allerdings schrecklich konkret:
Liebe
Viele Menschen akzeptieren den Primat der Wirtschaft nicht länger, wenn sie sehen, dass nur einige wenige davon profitieren. Darin liegt eine enorme Sprengkraft, an der die EU wirklich zerbrechen kann. Das sollten insbesondere deutsche Kommentatoren aus Medien, Wissenschaft und Politik im Hinterkopf haben, wenn sie ihre Vorschläge unterbreiten.
Leider haben sie aus der Griechenland-Krise nicht viel gelernt.
Das portugiesische Wirtschaftswunder
Nein, die deutsche Regierung macht nicht immer alles falsch. Nicht alle deutschen Ökonomen, Banker und EU-Beamten sind seelenlose Monster, denen jedes Mittel recht ist, um »die Märkte« bei Laune zu halten und Wachstum zu steigern (und selbst die, die es tun, verfolgen nicht per se schlechte Absichten).
Aber sie haben eben auch nicht immer recht. Das zeigt das Beispiel Portugal.
Dort hörte der sozialistische Regierungschef António Luís Santos da Costa nach seinem Amtsantritt im Jahr 2015 zwar nicht gänzlich auf zu sparen, machte aber Steuererhöhungen, Lohn- und Rentenkürzungen rückgängig – unter dem skeptischen Blick der
Lässt Merkel jetzt auch noch Macrons Träume platzen?
Deutschland ist wie eine Frau mit Stöckelschuhen, die allen anderen auf dem Fuß steht.
Die Lösung ist natürlich nicht, dass Deutschland die Schuhe auszieht, sich brav an den Tisch setzt und nur noch freundlich lächelt und nickt. Es würde schon reichen, die Formen des höflichen Umgangs zu wahren.
Und man kann sogar einen Schritt weitergehen und sagen: Deutschland sollte im Tanzcafé Europa die Führung übernehmen. Es sollte diesen Auftrag aber nicht falsch verstehen. Dem Land geht es im Großen und Ganzen gerade ziemlich gut. Die Wirtschaft läuft, politische Bruchlinien gibt es, der Prozess läuft trotzdem stabil. Medien sind frei, die Debatte ist offen. Wir wissen nicht alles besser als andere, wir haben gerade einfach mehr Kapazität, ein bisschen vorzuarbeiten. So läuft das in guten Teams.
Nun hat aber ein anderer den ersten Schritt gemacht: der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Monatelang hat er darauf gewartet, dass Kanzlerin Angela Merkel ihm sagt, was sie von seinen Visionen für Europa hält, die er im vergangenen Jahr in seiner
Und Merkels Antwort?
Für mich steht im Vordergrund, dass neben einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen Asyl- und Entwicklungspolitik Europa wirtschaftlich stark und innovativ bleibt. […] Für ein erfolgreiches Wirtschaften müssen wir den Euro nachhaltig stabilisieren.
Das klingt weniger nach einer kühnen Vision, sondern einmal mehr nach einer EU, in der sich vor allem Deutschland wohlfühlt. Klare Ansagen kamen dafür jüngst von Außenminister Heiko Maas. In
Es ist nur so, dass in Deutschland nicht der Außenminister entscheidet, wie Europapolitik gemacht wird. Zumindest nicht allein. Das große Ganze geht im Klein-Klein des Kompetenzgerangels zwischen Heimatbewahrern, Kanzleramt und Brüssel unter. Vielleicht wäre ja das ein erster Schritt für Deutschland auf dem Weg zur besseren europäischen Führungskraft: Ein Europaministerium, das stets im Blick behält, dass die EU mehr sein muss als die Summe nationaler Interessen.
Titelbild: Slon Dot Pics - CC BY-NC-ND 2.0