Wer krank oder verletzt ist, geht mit dem Ziel ins Krankenhaus, möglichst schnell wieder gesund und genesen herauszukommen. Und wem nicht mehr geholfen werden kann, weil er unheilbaren Krebs oder eine andere lebensbedrohliche Krankheit hat? Der kommt auf die Palliativstation, um dort für den Rest seines noch verbleibenden Lebens betreut zu werden. Gesund oder krank, heilbar oder todgeweiht, und nichts dazwischen – so lautet die klassische Aufteilung in der Medizin, der Gesundheitsversorgung – und auch in unseren Köpfen.
Wie würde die Versorgung von todkranken Menschen aussehen, wenn wir dieses Denken über Bord werfen und stattdessen den Patienten in den Mittelpunkt stellen und immer zuerst fragen: »Was hilft diesem Menschen jetzt am besten?«
Michael Frosch Er hält diese klare Aufteilung zwischen heilbar und todgeweiht für völlig überholt. Im Interview erklärt er, welche 3 Schritte für diesen Perspektivenwechsel nötig sind. Und lädt jeden ein, ihn an seinem Arbeitsplatz zu besuchen!
Schritt 1: »Kurativ und palliativ sind keine Gegensätze!«
Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen, denen eine begrenzte Lebenszeit diagnostiziert wurde: Wie wird entschieden, ob ein Kind bei Ihnen landet?
Michael Frosch:
Da muss ich direkt etwas vorwegschicken: Sowohl in der Bevölkerung als auch bei vielen Medizinern gibt es die Unterscheidung zwischen und .
Die ist nicht falsch, aber auch nicht wirklich richtig. Denn wenn ich eine lebenslimitierende Erkrankung habe, kann es sein, dass ich auch mit dieser Krankheit noch eine lange Zeit lebe. Weil ich eine Behandlung erhalte, die mich zwar nicht heilt, mir aber sehr gut hilft. Kurativ und palliativ sind also keine Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen.
Um welche Krankheiten geht es dabei?
Michael Frosch:
Das gilt manchmal für Tumorkrankheiten, in erster Linie aber für die Kinder mit Stoffwechselkrankheiten, neurologischen Erkrankungen, Fehlbildungen und dergleichen. Genau deshalb brauchen wir einen Perspektivwechsel, und auch die Haltung ist so wichtig: Behandle ich eine Erkrankung oder ein Kind mit seinen Problemen? Ein Kind, das ich nicht heilen kann!
Was ich aber kann, ist, die Probleme des Kindes anzugehen. Den Schmerz, die Schwäche, die Appetitlosigkeit. Gemeinsam mit Eltern und Geschwistern kann ich Positives erreichen, indem ich wieder eine Perspektive schaffe.
Noch mal: Palliativ kommt nicht, nachdem kurativ gescheitert ist, sondern die beiden müssen sich eigentlich überlappen.
Trotzdem arbeiten Sie ja in einer Palliativ-Station – und ich muss irgendwie entscheiden …
Michael Frosch:
Wann ist sie dran, die Palliativ-Station?
Genau!
Michael Frosch:
Die ist immer dann dran, wenn der Spezialist – also der oder der Intensivmediziner – sagt: »Okay, ich habe zwar einerseits eine Erkrankung, die ich behandeln kann, aber ich komme dem Problem des Kindes mit meiner Strategie einfach nicht näher.«
Entweder weil er das Wissen nicht hat oder weil er anders hinschauen muss. Wenn er feststellt, dass er auf rein medizinischer Ebene nicht weiterkommt, weil Ängste, Hoffnungslosigkeit und vielleicht auch eine gestörte Kommunikation zwischen Eltern und Kind eine übergeordnete Rolle spielen. Diese Sprachlosigkeit und die daraus resultierenden Schmerzen kann er nicht behandeln – und dann sollte er einen Antrag auf Palliativbegleitung stellen.
Die zentrale Frage ist immer: Ist es für dieses Kind noch angemessen, die Intensivtherapie fortzuführen? Eine Palliativbegleitung kann ganz unterschiedlich aussehen und auch vorübergehend sein.
Und wie würde der Eintrag für Palliativmedizin im Duden lauten, wenn Sie ihn schreiben dürften?
Michael Frosch:
Dafür würde ich die Definition der von 1997 nutzen, die auch heute noch perfekt passt. Bei der Palliativmedizin geht es nicht um ein Wegnehmen von Behandeln, sondern um eine aktive Behandlung, die den gesamten Patienten betrachtet, also die physische, psychische und soziale Ebene des Menschen. Dazu gehört auch das Umfeld des Patienten inklusive Eltern, Geschwistern und anderen wichtigen Bezugspersonen.
Zusammengefasst soll die Behandlung sowohl die Symptome (also die Beschwerden) lindern als auch die Lebensqualität verbessern. Eine palliative Behandlung wird speziell bei Patienten mit lebensbegrenzenden Erkrankungen angewandt. Allerdings nicht nur in der Endphase des Lebens, sondern sobald wir wissen, dass es diese Bedrohung gibt.
Schritt 2: »Miteinander umzugehen ist entscheidend!«
Wir brauchen also ein Umdenken in vielerlei Hinsicht. Wie sind Sie selbst dahin gekommen?
Michael Frosch:
Ich habe die Kinderheilkunde an der Uni Münster kennengelernt und bin dort mit den unterschiedlichsten chronischen Kinderkrankheiten in Kontakt gekommen. Vor über 20 Jahren habe ich dann in Münster ein mitgründen können und habe vor allem eines gelernt: Die größten Erfolge sehen wir nicht, wenn wir immer eine ausschließlich nach der Diagnose begründete Behandlung anstoßen, sondern wenn wir fragen: Was bringen die Patienten mit? Was kann sie fördern? Was kann sie – trotz ihrer Erkrankung – weiterbringen?
Mir wurde klar, dass das eine ganz andere Aufgabe ist, als eine Diagnose zu stellen und eine »klassische« krankheitsspezifische Begleitung zu leisten.
Ist es nicht unheimlich deprimierend, sich den ganzen Tag mit todkranken jungen Menschen zu umgeben?
Michael Frosch:
Ich begreife und spüre meine Arbeit bis heute als eine positive Herausforderung, in der ich ganz viel erreichen kann – auch für ein Kind mit einer lebenslimitierenden Erkrankung.
Selbst wenn es am Ende mit dem Tod des Kindes weitergeht – und eben nicht endet –, weiß ich, Weil ich einer Familie Zeit gegeben habe oder geholfen habe, eine schwierige Zeit zu überbrücken. Oder ich habe ihnen dabei geholfen,
Ist die Diagnose also egal?
Michael Frosch:
Natürlich ist es immer hilfreich, eine Diagnose zu haben, die Perspektive zu kennen und eine Vorstellung von den kommenden Monaten zu haben. Also sich auch der Frage zu stellen: »Womit – und mit welcher Unsicherheit – muss ich mich in der nächsten Zeit beschäftigen?«
Welche Rolle spielen dabei die Menschen »drum herum«?
Michael Frosch:
Der Diskurs – wenn er denn gelingt – mit und zwischen den Eltern, den Geschwistern und mit dem Patienten, ist einer der wesentlichen Aspekte der psychosozialen Begleitung. Und damit wichtiger Teil der Therapie.
Wie gehen Familien mit der Belastung – oder den Herausforderungen – um, die die Diagnose einer lebenslimitierenden Krankheit mit sich bringt?
Michael Frosch:
Da ist jede Familie komplett anders unterwegs.
Gibt es ein Erfolgsrezept?
Michael Frosch:
Vertrauen und Sicherheit! Wenn die Patienten gut über ihre Krankheit aufgeklärt sind und auch spüren, was mit ihnen los ist, hilft das sehr. Dafür muss das Thema Tod nicht ständig behandelt werden.
Miteinander zu reden und umzugehen ist ganz entscheidend. Nur dann bekommen alle Beteiligten eine Idee davon, Die Gesellschaft sollte Palliativmedizin als Chance und als eine Perspektive erkennen, um besser mit lebensbegrenzenden Krankheiten umzugehen.
Und was bedeutet das konkret?
Michael Frosch:
Nehmen wir an, eine Jugendliche hat die Perspektive, noch einige Monate zu leben. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als noch mal mit ihrer Familie in die Türkei zu fahren.
Klar kann es sein, dass es bei der Reise zu Komplikationen kommt und sie vielleicht sogar verstirbt. Trotzdem kann es die »richtige Entscheidung« sein, die Reise anzutreten. In der Regel ist hier ein Festhalten an der Dauer des Lebens weniger bedeutsam als der Inhalt.
Das kann aber auch zum Problem werden, oder? Angenommen, die Eltern sehen das anders.
Michael Frosch:
Ja, das kann dann zum Riesenproblem werden, Wenn es keine klare Diagnose gibt und die Hoffnung auf ein (Über-)Leben mit einer irgendwie gearteten Therapie alles bestimmt. Also der Klassiker à la: »Wir müssen nur noch in dieses Spezialzentrum in den USA reisen und dann wird irgendwie alles gut.«
Wenn Eltern bis zuletzt eine solche Idee verfolgen und trotz einstimmiger Meinung aller beteiligten Ärzte eine Intensivtherapie fordern, kann diese Hoffnung aufs Überleben alles andere komplett blockieren.
Was ist dann schiefgelaufen?
Michael Frosch:
Dann ist es im Vorfeld mit den Eltern nicht gelungen, den Dialog so zu führen, dass sie begreifen, dass ihr Kind eine lebenslimitierende Erkrankung hat. Das ist vor allem dann problematisch, wenn es statt einer klaren Diagnose nur einen dicken Stapel mit Befunden, Ergebnissen und Aufnahmen gibt.
Weil es wichtig ist, die Krankheit benennen zu können?
Michael Frosch:
Genau! Es macht einen wichtigen Unterschied, – selbst wenn es dabei um eine schreckliche genetische Erkrankung geht. Nur dann kann ich sagen: »Nach aktuellem Wissensstand haben wir keine Behandlungs-Alternativen.« Das erleichtert das Annehmen – was natürlich nicht bedeutet, dass es immer gelingt.
Weil auch dann der Spagat zwischen »Zeit kaufen« und »das Leben genießen« bleibt …
Michael Frosch:
Ja und nein. Denn eine Therapie kann beides beinhalten: Trotz aller Nebenwirkungen kann eine palliative vielleicht die Schmerzen besser behandeln als eine – ohne dass der Tumor bekämpft wird.
Und eine palliative Operation kann dem Patienten vielleicht erlauben, weiterhin selbst zu essen – trotz eines schweren Bauchtumors und einer Sonde, die den Stuhl ausleitet.
Solche Therapien zu idealisieren und damit Zeit gewinnen zu wollen, ist in der Regel eine Illusion. Eine palliative Chemo wird eingesetzt, um die verbleibende Zeit besser nutzen zu können.
Hat sich die Perspektive – und damit die Herangehensweise an Palliativmedizin – in den letzten Jahren denn geändert? Geht es nach vorn?
Michael Frosch:
Ich sehe sowohl in der Kinder- als auch der Erwachsenen-Palliativmedizin noch oft den idealistischen Fokus des Arztes und Onkologen, zu heilen. Den müssen wir öfter mit der Patientenperspektive mischen. Es geht darum, schon in der medizinischen Ausbildung die Grundhaltung zu vermitteln, dass die Autonomie des Patienten genauso wichtig ist wie mein Ziel, eine Krankheit zu behandeln. Dann habe ich schon die minimale Voraussetzung für eine Palliativbetrachtung.
Was aber noch nichts darüber aussagt, ob sich das geändert hat …
Michael Frosch:(lacht) Es hat sich geändert. Und zwar insofern, dass es heutzutage viel mehr Ärzte, Psychologen und Pädagogen gibt, die sich entsprechend weiterbilden. Das Wissen hat seine Nische verlassen.
Schritt 3: »Um von anderen Ländern zu lernen, müssen wir offener sein!«
Was muss auf Ebene des Gesundheitssystems passieren, damit der Wandel schneller gelingt?
Michael Frosch:
Wir müssen Patienten möglichst früh im Krankheitsverlauf ansprechen – auch wenn es eine lebenslimitierende Prognose gibt. Dann können wir noch viel Positives bewirken und den Patienten maximal von der Palliativbehandlung profitieren lassen.
Um das Thema generell zu enttabuisieren und Berührungsängste zu nehmen, suchen wir immer wieder den Kontakt zur Umgebung, zu Ehrenamtlichen und anderen gesellschaftlichen Strukturen.
Und auf Ebene der Kinderheilkunde?
Michael Frosch:
Da sind wir, denke ich, relativ gut aufgestellt. Sowohl Gesetzgeber als auch Kostenträger (also die Krankenkassen) haben den Bedarf in Deutschland und gerade auch im Land NRW weitestgehend verstanden. Es gibt klare Signale für eine Stärkung der palliativen Behandlung von Kindern und Jugendlichen.
Das bedeutet konkret?
Michael Frosch: Klar gibt es noch Defizite, vor allem was die psychosoziale Behandlung betrifft. Die wird häufig
Gibt es mit Blick auf diese Herausforderungen vielleicht Lösungsansätze aus anderen Ländern, von denen wir hier vor Ort lernen können?
Michael Frosch:
Als Beispiel fällt mir als Erstes Australien ein: Da gibt es keinen Pflegedienst, der täglich nach Hause kommt. Weil die Distanzen viel größer sind als hier, stärken sie vor allem die Autonomie der Patienten und die Fähigkeiten der Eltern und Angehörigen. Dabei geht es auch darum, sämtliche Systeme Sie überlassen ihnen viel mehr Arbeit und Verantwortung – wo wir in Deutschland sagen würden: Das ist unfassbar!
Fällt ihnen ein weiteres – vielleicht noch ungewöhnlicheres – Beispiel ein?
Michael Frosch:
In vielen afrikanischen Ländern fehlen Ärzte. Dort werden viele sogenannte »medical officers« ausgebildet und Trotzdem können wir genau davon lernen, indem wir in Deutschland nicht jede Entscheidung vom Arzt treffen lassen, sondern auch das Pflegepersonal stärker einbinden.
Welche Zutaten brauchen wir, um uns für solche Experimente zu öffnen?
Michael Frosch:
Um von anderen Ländern zu lernen, müssen wir offener sein und permanent hinschauen und -hören! Jede Entscheidung in der Palliativmedizin ist eine Herausforderung, weil ich oft keine Ahnung habe, welche Folgen meine Entscheidungen überhaupt haben können. Ich muss einfach Dinge ausprobieren und dabei auch mal die Folgen unangenehmer Entscheidungen aushalten Mit dieser Herausforderung und Unsicherheit muss ich leben. Wenn ich es aber nicht anpacke und ich es nicht versuche, passiert gar nichts!
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie direkt ändern?
Michael Frosch:
Alle, die Angst vor Palliativmedizin haben, sollten entweder unsere Station besuchen oder mal mit 1 oder 2 betroffenen Familien sprechen. Dann würden sie plötzlich merken, dass Haltung, Perspektive und Menschsein so viel mehr ist, als eine bestimmte Erkrankung zu haben.
Das heißt, wenn die Leser und Mitglieder von Perspective Daily jetzt alle sagen: »Okay, das mache ich! Ich komme vorbei!«, sind sie morgen darauf vorbereitet?
Michael Frosch:(lacht und freut sich) Wenn es ganz viele sind, müssen wir uns was überlegen, aber das kriegen wir schon hin! Sie sind auf jeden Fall herzlich willkommen!
Okay, das ist ein Deal!
Gesagt, getan! Du hast Interesse an einem Besuch bei Michael Frosch in Datteln? Dann schicke uns eine E-Mail mit dem Betreff »Frosch« (bis zum 31. Juli 2018). Wir versuchen je nach Feedback Einzel- oder Sammeltermine zu organisieren!
Dieser Text ist Teil einer Themenreihe bei Perspective Daily: Wir wollen darüber sprechen, was Krebs und andere schwere Krankheiten mit einem Menschen machen, wie Therapien ablaufen und wie die Betroffenen damit umgehen. Lasst uns gemeinsam über Krebs sprechen, um ihm so einen Teil seines Schreckens zu nehmen!
Maren hat in Neurowissenschaften promoviert, weil sie unser Denkapparat so fasziniert. Die schlechte Nachricht: Wir sind weit davon entfernt, unser Gehirn zu verstehen. Die gute Nachricht: Unser Gehirn ist veränderbar, und zwar ein Leben lang. Wahrnehmungen, Gewohnheiten und Entscheidungen sind also offen für unsere (Lern-)Erfahrungen. Und damit auch für die Erkenntnis: Ich habe mich getäuscht!