Diese Apps wollen dir verraten, ob du psychische Probleme hast
Navigieren, chatten, Kalorien zählen – dafür gibt es längst Apps. Jetzt wollen sie an dein Innerstes. Kann das gut gehen?
Dein Wecker klingelt, du wachst blinzelnd auf, streckst dich und tastest nach deinem Handy. Eine stumme Meldung auf dem Display begrüßt dich: »Guten Morgen, wie geht es dir«? Du tippst auf das blassblaue Feld und die App öffnet sich:
Ja, wie geht es dir eigentlich? Du hast gut geschlafen, auf der Arbeit wird es heute aber wohl stressig werden – also so mittel. Der Smiley mit den leicht herabhängenden Mundwinkeln kommt dem wohl am nächsten … Du gibst an, dass du gerade aufgewacht bist, tippst deine Gedanken in das Textfeld und schließt die App. Bis sie dich gegen Mittag erneut kurz unterbrechen wird.
Ob Schritte zählen, Schlaf analysieren oder Ernährung dokumentieren: Apps rund um die körperliche Gesundheit sind mittlerweile weit verbreitet und für viele Menschen selbstverständlich. Die eigene Gesundheit lassen wir zunehmend nicht mehr nur von Ärzten unter die Lupe nehmen, sondern vermessen sie auch selbst.
Wo verläuft die Grenze zwischen schlechter Laune und einer Depression?
Inzwischen ist die App-Industrie aber weiter: Sie hilft dir nicht mehr nur dabei, Daten rund um Kalorien, Nährstoffe und Schlafphasen zu sammeln, sondern vermisst jetzt auch dein Inneres. Wie fühlst du dich? War die schlechte Laune der vergangenen Woche nur ein kleines Tief oder bahnt sich da eine ernsthafte Depression an? Und was kannst du auf die Schnelle dagegen tun – oder solltest du lieber einen Profi aufsuchen?
In den letzten Jahren sind Apps entstanden, die sich der emotionalen Gesundheit widmen und genau diese Fragen beantworten sollen. Sie heißen Dailyoo, Moodpath, Arya oder SuperBetter.
Was können solche Apps tatsächlich leisten – und was nicht?
Wirkstoffe: Was steckt drin?
Zuerst einmal die Frage: Welche Funktionen haben die digitalen »Therapeuten« im Taschenformat? Allen Apps ist gemein, dass sie klassische Elemente aus der Psychotherapie ins Digitale übersetzen. Sprich: Übungen und Inhalte, die Patienten zwischen den Sitzungen durchführen – ähnlich wie Hausaufgaben – oder Teil von Therapiesitzungen sind.
Meistens handelt es sich dabei um folgende Bausteine:
- Screening-Fragebögen:
Eine App kann
Eine App kann keine Diagnose stellen.
Dafür nutzen wir natürlich dieselben Fragen und Kriterien wie ein Arzt oder Therapeut. Nach 2 Wochen erhalten Nutzer einen elektronischen Arztbrief mit einer Empfehlung – und können mit diesen Daten eine Beratung oder Behandlung aufsuchen.« Dieser Arztbrief soll den ersten Schritt zur Hilfesuche erleichtern. Psychologen betonen aber, dass eine App nicht - Stimmungstagebücher:
Viele der Apps erfassen regelmäßig, wie es dir gerade geht – wie im Beispiel zu Beginn des Artikels. Zusätzlich fragen sie momentane Gedanken oder die letzten Ereignisse ab, sodass langfristig der Zusammenhang zwischen Gefühlslage, Verhalten und Denken erkennbar wird.
Es kann sehr empowernd wirken, die eigene Gefühlswelt besser zu verstehen.
Wenn also deutlich wird, dass es dir besser geht, wenn du deine Arbeitstage mit einem Spaziergang beendest, kannst du dieses Wissen nutzen und von nun an jeden Abend eine Runde um den Block drehen. Stimmungstagebücher – ob per App oder auf dem Papier – sind ein wichtiger Teil der Psychoedukation und können motivieren, dranzubleiben. Psychologin Nina Löwen sagt: »Das kann sehr empowernd wirken, wenn ich mir meine Gefühle genauer anschaue und Zusammenhänge entdecke, die mir vorher nicht - Planung positiver Aktivitäten:
Apps können den Nutzer unterstützen, Verhaltensweisen, die ihm guttun, neu zu entdecken oder wiederzuentdecken. Erinnerungen an die Morgen-Meditation oder den Spaziergang nach der Arbeit fördern dann die Entstehung neuer
Inhalte und Interventionen, die Teil der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie sind, werden hier also für jeden zugänglich und nutzbar. Die Forschung zu den Online-Versionen steht allerdings noch am Anfang. Erste Studien weisen jedoch darauf hin, dass Übungen und Inhalte auch digital
Anwendung: Wem helfen die Apps?
Das klingt erst einmal gut: Menschen, die sich nicht sicher sind, wie ernst ihre Lage ist, bekommen ein besseres Verständnis für ihre eigene Gefühlswelt, aber auch von den Grundbegriffen der Psychologie und Psychotherapie. Vielleicht starten sie die Programme auch aus reiner Neugierde und lernen
Viele psychische Erkrankungen bleiben unentdeckt oder unbehandelt.
Die Erwartung ist aber noch eine andere: Viele psychische Erkrankungen bleiben wegen Fehldiagnosen und mangelnden Therapieplätzen unentdeckt oder unbehandelt. Auch individuelle Gründe wie Unwissenheit, Angst und fehlende Unterstützung im sozialen Umfeld hindern Menschen daran, eine nötige Therapie aufzusuchen.
Können die Apps diese Lücken schließen und einen niedrigschwelligen Einstieg in die Psychotherapie bieten? Oder noch besser: erkrankte Menschen heilen?
Moodpath möchte beides: Einerseits soll die App Patienten und
Auch wenn viele der Interventionen in den Apps dieselben sind, wie sie auch in einer »echten« Therapie zum Einsatz kommen, hat die »smarte« Version auf dem Handy doch ein paar Vorteile. Dazu gehören …
- Design und Gamification: Nutzern kann es leichter fallen, die eigenen Höhen und Tiefen in einer gut gestalteten App zu dokumentieren als auf einem Bogen Papier. Philip Husemann von Moodpath sagt: »Die App soll Spaß machen und eine gewisse Leichtigkeit haben. Dafür muss sie ansprechend und intuitiv gestaltet sein.« Dabei geht es nicht darum, Beschwerden zu bagatellisieren und mit bunten Bildchen über Traurigkeit hinwegzugehen. Stattdessen sollen sich die Nutzer in den Illustrationen und Fragen wiederfinden.
- Flexibilität und Erinnerungsfunktion: Die meisten Menschen tragen ihr Handy immer bei sich. Ob auf Reisen, nach einem besonders langen Abend bei Freunden oder einem stressigen Morgen:
Apps sammeln Informationen in Echtzeit
Das eigene Stimmungstagebuch oder das Tutorial zum Grübel-Stopp ist nie weit. Außerdem erinnern die Apps zuverlässig und pünktlich daran, jetzt bitte die eigene Stimmung auf einer Skala von 1–5 zu beurteilen. Nina Löwen sagt: »Therapeutische Hausaufgaben gehen im Alltag häufig unter. Dann füllt der Patient das Stimmungsprotokoll 5 Minuten vor der Sitzung schnell aus. Die Angaben sind dann natürlich verzerrt.« So kann eine App auch helfen, dass neue Verhaltensweisen regelmäßiger im Alltag geübt werden. - Auswertung: Die Apps geben eine grafische Übersicht über die letzten Tage oder Wochen und werten Fragebögen aus. Zukünftig wollen die Macher von Apps wie Arya und Moodpath, dass der Algorithmus selbstständig Zusammenhänge erkennt, individuell warnt und Hinweise gibt, um gegenzusteuern. Dann ploppt die Meldung von ganz allein auf: »Deine Stimmung ist momentan deutlich schlechter als in den letzten 2 Wochen und du hast die letzten Abende allein verbracht. Versuche dich in der kommenden Woche mindestens 2-mal zu verabreden.«
- Zugänglichkeit und Anonymität: Um eine App zu nutzen, bedarf es keiner Wartezeit und keines persönlichen Gesprächs. Eine App auszuprobieren ist deutlich niedrigschwelliger, als mit den Sorgen zum Hausarzt zu gehen. Menschen ohne Therapieerfahrung und psychologisches Wissen bekommen so potenziell zum ersten Mal Worte für ihr Erleben an die Hand. Das ist eine wichtige Grundvoraussetzung, um in ein Arzt-Gespräch zu gehen, das vielen Menschen Angst macht. Gleichzeitig erhalten sie durch Informationen und Screening-Fragen eine Art Absicherung, dass sie ihre Symptome ernst nehmen »dürfen«.
Diese Merkmale der Apps können zu einer höheren Bereitschaft des Patienten führen, die eigene Therapie aktiv mit voranzubringen – Psychologen sprechen von Compliance –, liefern wertvolle Echtzeit-Informationen aus dem Alltag und erleichtern Menschen im besten Fall den Weg zu einer Behandlung.
Bei so vielen Vorteilen: Können wir den Therapeuten aus Fleisch und Blut da nicht bald ganz abschaffen?
Bei Risiken und Nebenwirkungen wenden Sie sich an Ihren Arzt oder Therapeuten
Natürlich nicht! Eine App kann keine Therapie ersetzen und das wollen die Anbieter auch überhaupt nicht. Deshalb versuchen sie, die Grenzen ihrer Apps deutlich zu kommunizieren: In einer Therapie setzt sich der Patient intensiv mit den eigenen Gefühlen und Verhaltensweisen auseinander und übt neue Verhaltensweisen ein. Eine App kann diesen Austausch, die Anleitung und Unterstützung eines Therapeuten
Patienten müssen realistische Erwartungen an die Software haben und sich auch darüber im Klaren sein, dass die verschiedenen Apps jeweils unterschiedliche Funktionen kombinieren. Doch auch wenn sie wissen, wonach sie suchen: Wie können Interessierte sicher sein, dass die App hält, was sie verspricht?
Für den Laien ist schwer erkennbar, ob die Inhalte von Apps korrekt sowie aktuell sind und die Interventionen nachhaltig wirken. Nina Löwen bemängelt, dass es derzeit noch kein europäisches Zertifikat für Online-Angebote dieser Art gibt. Hier müssen Politiker und Wissenschaftler dringend nachziehen.Sind an der Entwicklung klinische Psychologen und praktizierende Psychotherapeuten beteiligt?
Dennoch gibt es Kriterien, die darauf hinweisen, dass eine App seriöse Unterstützung bietet. Der Bundesverband Internetmedizin verleiht zum Beispiel das Siegel
Unsere Erfahrungen mit Patienten fließen in die App-Entwicklung ein. Und wenn mir bei einem Patienten der Gedanke kommt, dass die App ihm in der Behandlung weiterhelfen würde, dann ist das für mich ein gutes Zeichen.
Sich selbst einen Spiegel vorzuhalten, das Innenleben auszubreiten und an sich zu arbeiten, kostet immer Überwindung, Kraft und Ausdauer. Eine App ändert daran nichts. Aber sie kann eine Brücke sein zur ersten Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen – oder zu einer Behandlung.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily