Hier gehen die Menschen zur Schule, denen der Staat nichts beibringen will
Das Schweizer Asylrecht wird immer schärfer. Diese autonome Schule kämpft dagegen an. Für Malek war sie die Rettung.
Draußen ist es bereits stockdunkel, doch im fünften Stock des ehemaligen Gebäudes der Zürcher Hochschule der Künste brennt noch Licht. Nur die dumpfen Schläge der Aikido-Klasse im Dachgeschoss erinnern daran, dass für die meisten Zürcher der Feierabend längst begonnen hat. In der Klasse »Deutsch-Konversation für Fortgeschrittene« hingegen herrscht noch volle Konzentration. Hier lernen Geflüchtete, besser Deutsch zu sprechen – der Grundpfeiler für die Integration. Auch an diesem Abend geht es aber längst nicht mehr nur um Vokabeln und Grammatik. Die Kursmoderatorin Anna Gonon bittet um Themenvorschläge. Mubarak, 37 Jahre alt und aus Eritrea, spricht mit leiser Stimme; bevor er ansetzt, scheint er jedes Wort einmal abzuwägen:
Ich will über die Zukunft sprechen.
Mubaraks Flucht führte ihn von seiner Heimatstadt in Eritrea über den Sudan nach Tripolis und von dort
Im Sommer 2015 gab er in der
Seit 8 Monaten lebt Mubarak nun in der Stadt. Genauso lang kommt er in die Autonome Schule Zürich – fast jeden Tag. Dieses einmalige Bildungsprojekt steht allen Schweizern offen, fängt aber vor allem jene auf, die sonst nirgendwo lernen können. Denn Migrantinnen und Migranten im Asylverfahren haben in der Schweiz keinen Anspruch auf Deutschunterricht. Doch was Mubarak dabei hilft, seine Wünsche und Ängste auf Deutsch auszudrücken, war der Stadtverwaltung lange ein Dorn im Auge. Dabei leistet die Autonome Schule Zürich im integrationspolitischen Bereich längst unersetzliche Arbeit, für die der Staat zuständig sein sollte.
So funktioniert das kostenlose Bildungsangebot für alle
»Rund 80% der insgesamt etwa 300 permanenten Schülerinnen und Schüler kommen wegen der Deutschkurse in die Autonome Schule, die meisten von ihnen sind Sans-Papiers«, sagt Malek Awssi. Der 25-Jährige engagiert sich ehrenamtlich im Schulbüro. Auch er hat hier Deutsch gelernt, jetzt will er der Schule etwas zurückgeben.
Sans-Papiers heißen in der Schweiz
Kaum ein Thema wird in der Schweiz so heiß diskutiert wie die Rechte dieser winzigen Minderheit: Je mehr Einfluss die rechtspopulistische SVP in der Schweizer Politik in den vergangenen Jahrzehnten gewann, desto
Die Autonome Schule Zürich ist ein Angebot des Vereins Bildung für alle. Die Kurse sind offen für jeden, unterrichtet werden Sprachen, Mathematik, Programmieren sowie verschiedene Sportarten. Den eindeutigen Schwerpunkt bilden jedoch die Deutschkurse. Sie existieren für alle Niveaus: von der Alphabetisierung für Schulungewohnte bis zu Konversationskursen für Fortgeschrittene; sogar Schweizerdeutsch, einmal pro Woche. Vielen Geflüchteten bietet die Autonome Schule Zürich die einzige Möglichkeit, Deutsch zu lernen – und ist damit einer der wenigen Orte der Teilhabe. Für Malek Awssi ist sie noch mehr.
Sie war meine Rettung. Natürlich wollte ich sofort Deutsch lernen, als ich hier angekommen bin.
Vor knapp 3 Jahren hat er seine kurdische Heimat
Auf die Botschaft der Sozialarbeiterin reagierte Malek mit Entsetzen. »Wie lange soll ich schweigen?«, fragte er sie mithilfe eines Dolmetschers. Er blieb hartnäckig – bis die Sozialarbeiterin ihm das Angebot der Autonomen Schule Zürich empfahl.
Anstatt die kostenlosen Sprachkurse zu begrüßen, legten die Behörden dem Projekt lange Zeit Steine in den Weg. Möglicherweise auch, weil die Autonome Schule Zürich seit ihrer Gründung politisch ist und sich den asylfeindlichen Entwicklungen in der Schweiz entgegenstellt, zum Beispiel mit Demonstrationen.
So wurde die Autonome Schule Zürich vom Staatsfeind zur akzeptierten Einrichtung
Im Jahr 2006 entschieden sich rund 70% der Schweizer in einer Volksabstimmung für die Verschärfung des Asylrechts – etwa die Streichung von Sozialleistungen für abgewiesene Geflüchtete. Im Rückblick war das Referendum gleichermaßen die Geburtsstunde der Autonomen Schule: Rund 50 von der neuen Gesetzgebung betroffene Geflüchtete schlossen sich damals zu einer Initiative zusammen, besetzten zuerst eine Turnhalle und später eine leer stehende Schule und begannen damit, in einem selbstverwalteten Projekt Deutschunterricht anzubieten. Unterrichtet wurde von Beginn an sowohl von Schweizer Unterstützerinnen und Unterstützern des Projekts als auch von Geflüchteten, die mitunter bereits seit vielen Jahren in der Schweiz lebten.
Gemeinsam begannen sie, der politischen Entwicklung entgegenzutreten und um Aufmerksamkeit zu werben: mit Demonstrationen und Informationsarbeit durch die
Zu Beginn vertrieb die Polizei die Initianten noch aus den besetzten Gebäuden, in denen die Deutschkurse stattfanden. Diese Zeiten sind mittlerweile vorbei. Heute leiten die Behörden selbst immer häufiger Asylbewerber an die Autonome Schule Zürich weiter; sogar in
Seit dem Jahr 2015 wachse die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Autonome Schule Zürich regelmäßig besuchten, immer stärker an, sagt Sadou Bah. Er gehört zu den rund 1.200 Geflüchteten, die vom Abstimmungsergebnis im Jahr 2006 unmittelbar betroffen waren und sich damals der migrantischen Initiative anschlossen. Der heute 50-jährige ausgebildete Forstingenieur gründete mit 30 anderen den Verein Bildung für alle, der Träger der Autonomen Schule Zürich ist. Bis heute arbeitet er ehrenamtlich im Büro der Schule, berät Neuzugänge und führt Einstufungstests durch.
In manchen Klassen säßen heute regelmäßig bis zu 40 Teilnehmer, sagt Sadou Bah. Den größten Zuwachs erhalte die Autonome Schule Zürich durch Geflüchtete, die außerhalb der Stadt untergebracht sind. »Die Stadt Zürich macht Sans-Papiers bereits gute Angebote«, sagt er. »Schwierig ist die Situation vor allem in den angrenzenden Kantonen. Von dort werden immer öfter Asylbewerber zu uns geschickt.«
Dabei bringt die wachsende Schülerzahl ganz neue Probleme mit sich.
Autonomie bringt auch Probleme mit sich
Heute ist die Autonome Schule Zürich zwar akzeptiert. Doch sie muss mit stark begrenzten Ressourcen arbeiten: Ihre Räumlichkeiten in dem ehemaligen Gebäude der Hochschule der Künste nahe des Hauptbahnhofs fassen nur 5 Klassenräume sowie das Schulbüro und ein Café. Finanziert wird die Miete für die 2 Stockwerke durch Spendeneinnahmen. Immerhin beim Mietpreis kommt die Stadt Zürich, die Betreiberin der zentral gelegenen Liegenschaft ist, zwar weit entgegen. Trotzdem reichen die monatlichen Spenden oft gerade so aus, um die Miete fristgerecht bezahlen zu können.
Dass die Autonome Schule Zürich täglich Unterricht anbieten kann, wird nur durch die vielen Ehrenamtlichen ermöglicht, die sich hier engagieren – allen voran die Lehrerinnen und Lehrer. Sie heißen in der Autonomen Schule Zürich »Moderatorinnen und Moderatoren«. Die meisten von ihnen sind nicht als Pädagogen ausgebildet, bei vielen handelt es sich um Studierende oder Promovenden anderer Fächer. Auch einzelne Schülerinnen und Schüler der Deutschkurse bieten eigene Unterrichtseinheiten an. Einen Abschluss gibt es dafür aber nicht – eben weil die Kursmoderatoren keine ausgebildeten Lehrer sind. Damit fehlen für Geflüchtete wertvolle formale Qualifikationen.
Malek spricht heute fließend Deutsch; beim Sprechen und Schreiben macht er kaum Fehler. Schwarz auf weiß nachweisen kann er diese Qualifikation allerdings nicht.
Hinzu kommen praktische Herausforderungen, die die Planbarkeit der Unterrichtseinheiten erschweren. Die Kursgrößen variieren stark – auch weil die Teilnahme freiwillig und ein Einstieg jederzeit möglich ist. Jeder darf an jedem Kurs teilnehmen, unabhängig von der Einstufung, die die Teilnehmer im Schulbüro durchlaufen haben. Das Sprachniveau innerhalb der Klassen klafft deshalb oft weit auseinander.
Eine Anbindung an den regulären Sprachunterricht für Geflüchtete wäre eine Lösung. Doch die gibt es bis heute nicht. Und das, obwohl Zürcher Medien die Autonome Schule Zürich gern als »Institution« in der Stadt beschreiben und sie praktisch längst ein
Deutlich wird das an einem Statement, mit dem sich die sozialdemokratische Gemeinderätin Rebekka Wyler im Jahr 2015 vom Tages-Anzeiger zitieren ließ: »Die Kurse der Autonomen Schule Zürich haben ein recht hohes Niveau und füllen eine Lücke. Daran hat auch die Stadt ein Interesse. Die sozialen Dienste verweisen die Asylsuchenden gerne auf das Angebot und sind froh um diese günstige Lösung.«
Es ist diese »günstige Lösung« für die Stadt, die, dem beeindruckenden Angebot der Autonomen Schule Zürich zum Trotz, einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Macht sie sich unfreiwillig zur Komplizin jener, die das staatliche Angebot für Geflüchtete am liebsten auf ein Minimum begrenzen würden?
Im Schulbüro der Autonomen Schule Zürich sieht man diesen Status zwiespältig. Einerseits, sagt Gründungsmitglied Sadou Bah, sei man natürlich froh, dass die Stadt das Projekt schätze, und dankbar, dass die Schule heute im Herzen Zürichs arbeiten könne.
Andererseits habe die Schule nie das sein wollen, was sie heute für die meisten ihrer Schüler sei: nicht nur Ergänzung, sondern faktisch Ersatz für das einst bestehende staatliche Bildungsangebot für Sans-Papiers.
Je strikter die Asylgesetze in der Schweiz wurden und je stärker damit das öffentliche Bildungsangebot für Geflüchtete schrumpfte, desto mehr wuchs die Autonome Schule Zürich und desto professioneller stellte sie sich auf. Seit Jahren fordern ihre Repräsentanten bessere staatliche
Immerhin liefern die vielen Freiwilligen, die die Autonome Schule Zürich am Leben erhalten, die beste Argumentationsgrundlage dafür, dass die Bürgergesellschaft die Integration selbst stemmen kann. Doch der Autonomen Schule Zürich fehlen dafür die Ressourcen – und weitere staatliche Anerkennung. Autonomie bedeutet eben auch, außerhalb des offiziellen Regelwerks zu operieren: ohne ausgebildete Lehrer, ohne höhere Kontrollinstanz und ohne die Autorisierung, Zertifikate oder Sprachzeugnisse auszustellen. Insbesondere auf Letzteres haben weiterhin die staatlich anerkannten Bildungseinrichtungen das Vorrecht. Eine Dauerlösung wäre die Autonome Schule Zürich deshalb nur, wenn sie staatlicherseits mit den nötigen Mitteln und Zulassungen ausgestattet werden würde. Dies hieße dann aber auch das Ende ihrer Autonomie.
Titelbild: Isabelle Daniel - copyright