»Diese Gesellschaft lebt in einer Lüge, am Rande der Schizophrenie!«
Deshalb tritt dieser Mann mit seiner neuen Partei bei der bayerischen Landtagswahl an. Kann »mut« die Bayern radikal verändern?
5. Oktober 2018
– 8 Minuten
Götz Schleser
Der Soziologe Stephan Lessenich mischt sich seit Jahren mit seinen Thesen in die politische Öffentlichkeit ein. Eigentlich konnte sich der Wissenschaftler nie vorstellen, in einer Partei aktiv zu werden – jetzt hat er selbst eine gegründet. Sie heißt mut, und den braucht man wohl auch, wenn man mit Kapitalismuskritik ausgerechnet den bayerischen Landtag aufmischen will.
»Doch weil die Zeiten es verlangen«, wie Lessenich sagt, zieht er nun mit rund 400 anderen mutigen Parteimitgliedern in die heiße Phase des Wahlkampfs. Während die CSU um ihre absolute Mehrheit kämpft und die Grünen sich als zweitstärkste Kraft etablieren wollen, ringt die mut-Partei um jede Stimme. Infostände, Bürgersprechstunden und sogar ein Politik-Kabarett sind Teil der Ochsentour durch den Wahlkampf. Mit dem »Mut zur radikalen Veränderung« treten sie für eine menschenwürdige Asylpolitik und für eine soziale sowie ökologische Wende ein.
Dass der Sprung über die 5%-Hürde gelingt, ist eher unwahrscheinlich. Doch Lessenich – der in München-Schwabing als Direktkandidat antritt – bleibt Optimist.
Nils Richterich:
Herr Lessenich, woraus schöpfen Sie eigentlich Ihren Mut?
Stephan Lessenich:
Es ist wohl eine Mischung aus Verzweiflung und Optimismus. Ich beschäftige mich viel mit dem Klimawandel und möglichen Alternativen zu unserer jetzigen Lebensweise. Da kann manch einer durchaus zu dem Schluss kommen: Die Sache ist gelaufen und wir sind eigentlich zu spät dran. »Mut der Verzweiflung«, das passt bei mir ganz gut. Trotz allem ist es wichtig, sich selbst zu bewegen und im Kleinen Dinge zu ändern.
Nils Richterich:
Petitionen im Internet sind schnell unterschrieben, andere gehen auf Demos oder bauen Baumhäuser Warum haben Sie sich ausgerechnet für den mühsamen Weg der Parteipolitik entschieden?
Stephan Lessenich:
Ich war vorher nie Parteimitglied und habe auch durchaus meine Distanz Doch so wichtig Petitionen im Netz auch sind: Wenn man wirklich etwas ändern möchte, ist es wichtig, auch körperlich präsent zu sein und Flagge zu zeigen. Ob nun oder auf der Straße.
Nils Richterich:
Welche Themen würden Sie bei einem Wahlerfolg der mut-Partei anpacken?
Stephan Lessenich:
Zu allererst würde ich versuchen, einen anderen Ton in der gesellschaftlichen Debatte zu setzen. Es ist wichtig, wie wir uns über Probleme verständigen. Deswegen war auch Ende Juli in München. Wir wollten dort auch ein Zeichen gegen die Verrohung der Sprache seitens der CSU und der AfD setzen. »Es braucht wieder eine Partei, die das grundlegend Selbstverständliche – die Achtung der Menschenwürde – in den Mittelpunkt rückt.«
Nils Richterich:
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Stephan Lessenich:
Es geht darum, die Menschen- und Bürgerrechte und deren Wahrung wieder in den Fokus zu rücken. Mit dem bayerischen hat man die Gelegenheit genutzt, die Bürgerrechte massiv einzuschränken.
Zudem wollen wir die gravierenden sozialen Ungleichheiten in diesem so reichen Bundesland Bayern abbauen. Ich würde dafür als praktische Maßnahme eine Kindergrundsicherung in den Kommunen verankern.
»Unsere Produktions- und Konsumweise beruht auf uneingestandenen Voraussetzungen«
Nils Richterich:
Die Partei mut fordert darüber hinaus eine menschliche Asylpolitik, den Stopp aller Abschiebungen sowie ein Sind diese Forderungen so utopisch, dass man dafür eine neue Partei braucht?
Stephan Lessenich:
Ja, es braucht wieder eine Partei, die das grundlegend Selbstverständliche – die Achtung der Menschenwürde – in den Mittelpunkt rückt. In den letzten Jahren haben sich im Zuge der Migrationserfahrungen Positionen inhaltlich und rhetorisch stark verschoben. Von der Internierung von Geflüchteten in Lagern bis zu Bundesministern, die sich damit brüsten, dass zum
Nils Richterich:
Dieses Phänomen ist nicht spezifisch bayerisch …
Stephan Lessenich:
Na ja, diese Bewegung, die wir »Rechtspopulismus« nennen, finden wir in allen Spanien oder Portugal sind vielleicht die einzigen Ausnahmen. Aber ansonsten erleben wir dieses Muster auf dem gesamten Kontinent von Großbritannien bis nach Osteuropa. Populistische Bewegungen reagieren auf ein Gefühl der Bedrohung, dass die eigenen Möglichkeiten vielleicht in Gefahr sind und verteidigt werden müssen.
Anstatt aber die Wurzel der Probleme in der Wirtschaftsweise eines Landes zu suchen, werden äußere Kräfte identifiziert und für die inneren Probleme verantwortlich gemacht.
Nils Richterich:
Es geht also um die Verteidigung von Privilegien?
Stephan Lessenich:
Ja. Natürlich bestreite ich nicht, dass auch in Deutschland große soziale Ungleichheit herrscht. Die Einkommensungleichheiten haben viele Menschen können keine großen Sprünge machen. In fast keinem Land Europas ist das Vermögen
Dennoch führen ein Leben, das direkt auf Kosten Dritter geht. Und es gibt eine ganz klare Verteidigungshaltung aus der Mitte der Gesellschaft, diese relative Privilegierung nicht aufzugeben und im Zweifelsfall zuzulassen, zu ertragen und letztlich auch zu legitimieren, Deswegen glaube ich: Diese Gesellschaft lebt in der Lüge, am Rande der Schizophrenie, da sie einfach verdrängt und ausblendet, auf welchen Voraussetzungen ihr Leben hier aufbaut. »Wir können hier nur so leben, weil anderswo unter schlechten Bedingungen gearbeitet und die Natur ausgebeutet wird.«
Nils Richterich: schreiben Sie dazu: »Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer.« Was genau meinen Sie damit?
Stephan Lessenich:
Unsere Produktions- und Konsumweise – in Deutschland, aber auch in vielen anderen reichen – beruht auf uneingestandenen Voraussetzungen und Konsequenzen. Wir können hier nur so leben, weil anderswo unter schlechten Bedingungen gearbeitet und die Natur ausgebeutet wird.
Nils Richterich:
In anderen Worten: Das tägliche Konsumverhalten baut auf schlecht bezahlte und mangelhafte Umweltstandards
Stephan Lessenich:
Genau. Doch es hat Konsequenzen, wenn in anderen Ländern unter menschenrechtswidrigen Bedingungen gearbeitet oder die Natur zerstört wird. Konsequenzen, die sich jetzt langsam auch hier zeigen.
Nils Richterich:
Und was sind das für Konsequenzen?
Stephan Lessenich:
Ein klassisches Beispiel ist der Klimawandel, der eben auch Mehr Menschen werden nach Europa fliehen, weil sie in ihrer Heimat keine Lebenschancen mehr haben.
Das ist aber ein Zusammenhang, den man sich hier nicht eingestehen möchte.
Offene Grenzen oder Abschottung?
Nils Richterich:
Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland auch viele Menschen, die sich gegen dieses Verhältnis stemmen. In letzter Zeit wird viel demonstriert: für sichere Fluchtwege, gegen die Rodung von Wäldern. Genauso aber auch gegen Geflüchtete und gegen Weltoffenheit,
Wird unsere Gesellschaft gerade wieder politischer?
Stephan Lessenich:
Ja, da habe ich gar keine Zweifel. Momentan verläuft diese Politisierung noch ziemlich antagonistisch entlang der Frage: offene Grenzen oder Abschottung? Trotzdem ist es gut und wichtig, dass wir diese zentrale gesellschaftspolitische Frage der Zukunft stellen.
Nils Richterich:
Wie nehmen Sie dieses stärkere politische Bewusstsein in Bayern wahr?
Stephan Lessenich:
In Bayern gibt es zunehmend Widerstände, die aber derzeit noch eher punktuell sind. Die einen regen sich über das Polizeiaufgabengesetz auf, die anderen demonstrieren gegen die Kriminalisierung von privater Seenotrettung – und wieder ganz andere gegen den Pflegenotstand. Dass alles miteinander verbunden ist, kann man sich zwar analytisch erschließen, aber es ist schwierig, diese vereinzelten Widerstände und Proteste zu einer Bewegung zu bündeln. »Es müssen immer neue Bedürfnisse geschaffen werden. All das produziert eine Gesellschaft, die stärker auf Wettbewerb und Egoismus als auf Solidarität und Kooperation gepolt ist.«
Nils Richterich:
Wie könnte das denn funktionieren?
Stephan Lessenich:
Es gibt gemeinsame Auslöser und Ursachen für diese Probleme: Meines Erachtens sind das der Profitzwang, und auch der Konsumzwang in unserer industriekapitalistischen Gesellschaft. Es müssen immer neue Bedürfnisse befriedigt werden. All das produziert eine Gesellschaft, die stärker auf Wettbewerb und Egoismus als auf Solidarität und Kooperation gepolt ist. Das alles bündelt sich wie durch ein Brennglas in der Migrationsfrage. Deshalb ist es so wichtig, diese gemeinsamen Gründe für unterschiedliche Problemlagen zur Sprache zu bringen.
Nils Richterich:
Wie kommt es dann dazu, dass die von Ihnen angesprochenen Probleme – wie die Einschränkung von Bürgerrechten und die massiven sozialen Ungleichheiten – bislang kaum Einzug im bayerischen Wahlkampf finden?
Stephan Lessenich:
Bei der CSU ist es relativ gut nachvollziehbar. Die sind in der Machtposition und wollen diese bewahren. Ganz nach dem Motto: Eigentlich geht’s uns gut. Das wollen wir schützen und deswegen lassen wir allenfalls gut ausgebildete Fachkräfte ins Land. Ansonsten machen wir in der Heimat auf Friede, Freude, Eierkuchen.
Nils Richterich studiert Politikwissenschaft und Soziologie in Frankfurt am Main. Nachdem er sich einige Semester mit dem Zusammenspiel von Politik und Gesellschaft beschäftigt hat, ist er fest davon überzeugt: Es könnte auch alles ganz anders sein. Um zu sehen, wie Journalismus positive Veränderungen bringen kann, unterstützte er die Perspective Daily-Redaktion von Juli bis September 2018 als Praktikant.