»Wir hatten gedacht, du machst gleich mit, dann verstehst du, worum es geht«, so werde ich begrüßt. »Nervig«, denke ich und versuche zu lächeln. Ich hatte gehofft, zurückgelehnt in der Ecke zu sitzen, zu beobachten und amüsiert in mein Notizbuch zu schreiben, wie sich erwachsene Menschen anstellen, wenn sie Strichmännchen malen.
»Was wir hier lernen, könnte mein Leben entscheidend verbessern.«
Stattdessen sitze ich in einem Sitzkreis von etwa 20 ITlern, die sich gebannt über kleine Heftchen in ihrem Schoß beugen. Sie malen Köfferchen und Glühbirnen, schmunzeln und sind auffällig ruhig. Als die Trainerinnen sie für gerade Linien loben, denke ich, ich sei im Kindergarten. Doch dann verdamme ich meine Überheblichkeit und greife auch zum Stift, denn was wir hier lernen, könnte mein Leben entscheidend verbessern: eine Technik, um klarer zu denken, tiefer zu verstehen und nachhaltiger zu kommunizieren.
Ich bin einem Trend auf der Spur, der uns bei allem Digitalen zurück ins Analoge bringt und Großes verspricht: effizienteres und klügeres Arbeiten. Und das alles nur mit Stift und Papier? Ja! Los geht’s im Visualisierungsworkshop!
Die erste Aufgabe des Workshops lautet: »Das Team besteht aus 3 Personen. Maria, Tim und Peter. Maria ist für die Finanzen zuständig, Tim für Orga und Peter für die IT. Stelle das alles bildlich dar.«
Die Aufgabe gilt auch für dich: Schnappe dir Stift und Papier und lege los!
Wer visualisiert, will abstrakte Daten oder Zusammenhänge in eine Form bringen, die wir leicht erfassen können. Dafür werden Bilder und Grafiken genutzt. Das ist nicht neu, sondern haben schon die Steinzeitmenschen so gemacht. Eine moderne Variante der Höhlenmalereien sind zum Beispiel Diagramme. Bei Visualisierung geht es nicht um Kreativität oder Kunst, sondern in erster Linie um Kommunikation.
Ich finde die beschriebene Arbeitsaufteilung der 3 Personen so langweilig, dass ich sie kaum im Kopf behalte. Aber eben um solche Informationen besser zu behalten, soll es ja vorteilhaft sein, sie in Bildern auszudrücken. Ich zeichne also los und stoße dabei schnell an meine Grenzen: Wie unterscheide ich meine beiden männlichen Strichmännchen voneinander? Bekommt Maria lange Haare? Und wie soll ich »Orga« bebildern? Ist in dem Fall nicht das Wort stärker als jeder Versuch eines Bildes?
Ein paar einfache Regeln sorgen für Klarheit:
Mit diesen Basisinformationen im Gepäck geht es im Seminar richtig los. Gemeinsam mit den anderen Teilnehmern der
Das Sketchnoten ist die Königsdisziplin der Visualisierung und auch unter dem Namen »Graphic Recording« bekannt. Ziel ist es, ein Geschehen in Echtzeit zu skizzieren.
Im Seminar üben wir das, indem wir ein Video zusammenfassen, das die Zubereitung von Gemüsebrühe zeigt. Trainerin Carola Keitel schreibt alle Zutaten untereinander und malt eine Art Einkaufsliste darum herum. Auch um die anderen Arbeitsschritte und deren Details zeichnet sie jeweils einen Kreis – so ist auf einen Blick erkennbar, was zusammengehört. »Container« nennt die Trainerin die Kreise und Vierecke. Container sind also wichtig – und alle Teilnehmer zeichnen sie nun fleißig.
Auch hier kannst du wieder mitmachen:
Parallel erklären mir Carola Keitel und ihre Kollegin Ramona Wultschner, wann Sketchnoten im Berufsalltag nützlich sein soll:
Während ich also live versuche, Möhren und heißes Wasser zu skizzieren, spüre ich am eigenen Leib, wie gut Sketchnoten beim Denken hilft. Warum? Weil Symbole und Bilder mehr Aufmerksamkeit binden als nur Wörter. Ich kann meine Strichmännchen und Figuren gezielt einsetzen, um Dinge zu betonen. Außerdem ist die Malerei aufwendiger, als nur Wörter aufzuschreiben. Ich überlege mir also automatisch sehr genau, welches Element der Aufgabe eine Zeichnung »wert« ist. Beim Sketchnoten priorisiere und filtere ich viel stärker als beim Schreiben. Und – was ich »Malmuffel« nie gedacht hätte – das Ganze macht auch noch Spaß.
»Vielleicht kannst du die Linien deiner Grafik weniger krumm ziehen?« Carola Keitel reißt mich aus dem Flow – und mit ihrem kritischen Kommentar zunächst auch aus meiner Begeisterung. Sofort erinnere ich mich an die leicht monierenden Worte einer Bekannten, die von einem Bikablo-Kurs erzählte: »Wir mussten da ganz penibel lernen, wie wir schreiben und zeichnen sollen. Das war, als sollten wir unsere eigene Handschrift verlernen.«
Warum die Trainerin nicht einfach eine strenge Lehrerin ist, der es um Genauigkeit geht, erfahre ich erst später, als ich die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Vorteilen von Visualisierung recherchiere:
Auf den Flipcharts und Power-Point-Folien der großen Firmen in der Republik prangen heute oft die gleichen Symbole und Bilder. Das liegt an Martin Haussmann. Der Kommunikationsdesigner hat Bikablo gegründet und die »visuellen Vokabeln« entwickelt – also die »Us« und »Os« und andere leicht zu zeichnende und erkennbare Symbole.
Mittlerweile ist sein Unternehmen der größte Anbieter von Visualisierungskursen im deutschsprachigen Raum. 3.000–5.000 Menschen erreichen die Kurse jährlich. Die Anzahl der Nachfragen steige jedes Jahr um 30%. Zu den Kunden gehören nicht nur Angestellte, sondern auch Führungskräfte.
»Ich beobachte, dass unsere Kunden Visualisierung ernst nehmen.«
»Ich beobachte, dass unsere Kunden das nicht als Hobby sehen oder sich denken ›Ach, wir machen mal was Kreatives, weil man das halt so macht!‹, sondern dass sie Visualisierung ernst nehmen.« Das gilt auf jeden Fall für Martin Murgas von Siemens. Auf die Frage, weshalb er für seine Führungskräfte Bikablo-Kurse organisiere, antwortet er zielstrebig: »Wir wollen besser, schneller, effizienter und effektiver werden.« Durch Visualisierung, so denke er, kommen die Mitarbeiter schneller »zum Punkt«.
In meinem Kurs bei Bitmarck planen gerade 3 Männer das Sommerfest ihres Unternehmens und stellen eine Teamsitzung nach, während die anderen die Ergebnisse grafisch festhalten. Das Sitzungsprotokoll als Grafik ist eine der klassischen Anwendungen von Visualisierung. Und die Mitarbeiter von Bitmarck sind typische Kunden des Visualisierungsanbieters Bikablo.
Bitmarck realisiert IT-Lösungen für gesetzliche Krankenversicherungen, zum Beispiel in Form von Software. Die teilweise komplizierten Zusammenhänge sollen mit Bildern und Grafiken durch Visualisierung aufgelockert werden. Anja Seidel, Leiterin der Personalentwicklung, hat das Seminar organisiert und beschreibt die Motivation dahinter: »Wir wollen einen Teil unserer Mitarbeiter befähigen, selbst zu visualisieren, damit sie diese Kompetenz künftig auch im Rahmen von Workshops, Kundenveranstaltungen und bei der Dokumentation von Besprechungen anwenden können.«
Vorteile und Anwendungsbeispiele für Visualisierung im Arbeitsalltag gibt es viele, sagt sie:
Und ich? Ich habe längst aufgehört, die Striche, Container und Us zu belächeln. Auch jetzt – Monate nach dem Kurs – male ich automatisch großflächige Grafiken mit Kästen und Pfeilen, bevor ich lange journalistische Texte schreibe. So behalte ich den Überblick.
Und du? Erinnerst du dich an die Aufgabenverteilung von Maria, Tim und Peter? Wenn nicht, kein Problem! Stift in die Hand und selbst zeichnen!
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