Wahrscheinlich nicht – denn dein Gehirn macht es dir nicht leicht.
16. Oktober 2018
– 5 Minuten
Tobias Kaiser
Vor 9 Jahren stehe ich am Fenster meines Hotelzimmers und blicke auf die Straße hinunter. Mein Magen knurrt. Die letzte Mahlzeit ist 12 Stunden her. Eine kümmerliche Hähnchenbrust und schrumpelige Bohnen in einem Aluschälchen, das mir die Stewardess auf dem Nachtflug von Berlin nach Damaskus vorsetzte.
Ich bin das erste Mal in Syrien, einem mir komplett fremden Land. Auf der Straße sehe ich Passanten mit eingerollten Teigtaschen in der Hand. Wo haben die das her? Aus einem kleinen Laden dampft es verheißungsvoll. Doch ich traue mich nicht gleich runter auf die Straße, unter die Menschen. In mir macht sich ein Gefühl breit, das ich noch häufiger auf meinen Reisen spüren werde: Verunsicherung.
Das kennen viele: Plötzlich wird einem der Teppich unter den Füßen weggezogen. Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, wenn wir Situationen nicht vorhersehen können, sind wir unsicher. Für die einen ist es der neue Job, eine Krankheit, eine schwierige Liebesbeziehung, für die anderen der Neuanfang in einem unbekannten Land – von einem auf den anderen Tag kann sich vieles verändern.
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Auch auf digitalem Wege drängt Verunsicherung in unser Leben: Immer mehr Informationen finden ihren Weg auf unsere Smartphones und Computer. um einer immer komplexeren Welt entgegenzusteuern. Doch sollten wir Verunsicherung unbedingt vermeiden?
In Ratgebern für Manager wird die sogenannte Unsicherheitstoleranz, schon lange als eine Schlüsselkompetenz gehandelt. Wie kann auch der Otto Normalverbraucher davon profitieren?
Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß
Der Blick huscht hin und her, die Stirn liegt in Falten – was soll das sein? Dann die Erleuchtung: Ah, eine Ente! Das ist eindeutig eine Ente … Warte. Nein, da ist auch ein Hase.
Als Schulkind hast du vielleicht schon einmal diese Zeichnung gesehen:
Unser Gehirn ist darauf trainiert, Mehrdeutigkeit, die sogenannte Ambiguität, aufzulösen – wie das Beispiel »Ente oder Hase?« zeigt. Können wir nicht sofort eine eindeutige Entscheidung treffen, sind wir nicht nur unsicher, sondern können gestresst, ängstlich oder sogar aggressiv reagieren.
Das zeigte ein Team von am California Institute of Technology. In einem Kartenspiel sollten sie vorhersagen, ob eine rote oder schwarze Karte als nächste im Stapel liegt. In der ersten Runde wussten die Teilnehmer noch jeweils die Anzahl roter und schwarzer Karten im Spiel. Sie hatten also eine 50:50-Chance, richtig zu liegen. In der zweiten Runde fehlte ihnen diese Information.
Entscheidungen werden irrationaler und unberechenbarer.
Die Wissenschaftler beobachteten: Je weniger Informationen die Probanden hatten, desto irrationaler und unberechenbarer wurden ihre Entscheidungen. Mit einer unsicheren Situation konfrontiert, beobachteten sie bei den Testpersonen, dass sich die Kontrolle im Gehirn auf das limbische System verlagerte. Das ist der Ort, an dem Emotionen wie Angst erzeugt werden.
Ein weiteres Forscherteam fand ein paar Jahre später heraus: Kurzer Selbsttest: Was erzeugt mehr Stress in dir? Zu wissen, dass du zu spät zu einem Termin kommst, oder nicht zu wissen, ob du es noch pünktlich schaffst?
Ich weiß, dass ich nichts weiß
dazu raten, schleunigst an unserer Ambiguitätstoleranz zu arbeiten, zu der sie intensiv forschte. Damit meint sie eine Eigenschaft, durch die wir Mehrdeutigkeit in unserem Leben ertragen können. Denn auch in den oben genannten Studien zeigten Teilnehmer, die weniger gestresst waren, eine höhere Ambiguitätstoleranz als andere.
Um es vorwegzunehmen: Jeder Mensch geht anders mit Verunsicherung um. Wir starten an verschiedenen Punkten, je nach Sozialisation, persönlichen Erfahrungen und dem eigenen Umfeld. Die eigene Ambiguitäts(in)toleranz ist also nichts, was man von einem auf den anderen Tag ändern könnte.
Die Herausforderung liegt darin, Nichtwissen auszuhalten und so in unsicheren Situationen die eine vermeintlich einfache Lösung versprechen. Im Internet und in Büchern findet sich eine Fülle von Techniken zum Erlernen der Ambiguitätstoleranz für verschiedene Zielgruppen – von Psychotherapeuten über den Sozialarbeiter bis zum Manager. 2 von ihnen kann jeder an sich selbst ausprobieren:
Fragen statt Antworten: als auch in der ist diese Methode wichtig, um Konfliktpotenziale zu verringern. Jeder kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn 2 Menschen beim ersten Kennenlernen nur Aussagen treffen würden. Ein Date zum Wegrennen! Denn jeder weiß, wie unangenehm ein Gesprächspartner ist, der keine Fragen stellt. Vor allem in angespannten politischen und gesellschaftlichen Debatten ist es wichtig, erst einmal zuzuhören,
Unterschiedliche Situationen berücksichtigen: hat der Sozialpsychologe Jamie Holmes ein Buch geschrieben. Er betrachtet darin das menschliche Verlangen, einen Schlussstrich unter unangenehme Situationen ziehen zu wollen. In Beziehungen oder bei Jobfragen geht es häufig darum, ob die Argumente für ein »Nein« oder ein »Ja« überwiegen. Um dagegen zu arbeiten, solle der Verunsicherte erst einmal verschiedene Konsequenzen einer Entscheidung durchspielen. Wichtig sei laut Holmes, diese Konsequenzen zu verschiedenen Zeitpunkten zu betrachten, um nicht im Moment des größten Drucks zu entscheiden.
Wir sind darauf programmiert, Mehrdeutigkeit loszuwerden. Wenn wir uns damit beschäftigen, können wir bessere Entscheidungen treffen, wir können kreativer und sogar ein wenig einfühlsamer werden.Jamie Holmes
Doch nicht nur auf individueller Ebene kann die Toleranz gegenüber Unsicherheit Vorteile bringen.
Deine Verunsicherung hilft auch anderen
Nach mehreren Aufenthalten im Ausland fiel mir das von der deutschen Journalistin Charlotte Wiedemann in die Hände. Darin schreibt sie über ihr Leben in Südostasien: »Bei sich selbst zu erleben, wie veränderlich die Perspektive ist, das bewirkte eine nachhaltige und produktive Verunsicherung.«
Ich muss zugeben, auf die Straße habe ich mich an diesem Morgen in Syrien nicht sofort getraut, auch wenn der Hunger groß war.
Aber Wiedemanns Aussage kann ich heute bestätigen, wenn ich auf meine Auslandserfahrungen der letzten 9 Jahre zurückblicke. Wenn mehr Menschen sich einmal in ihrem Leben woanders nicht zugehörig gefühlt und dafür keine eindeutige Lösung gefunden hätten, würde ihnen auch der Perspektivenwechsel in aktuellen gesellschaftlichen Debatten leichter fallen. Da das nicht der Fall ist, hilft es trotzdem, dem anderen erst einmal zuzuhören, bevor man ihn in eine Schublade steckt.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.