Niemand will krank werden. Deshalb geht es hier darum, dass du gesund bleibst
Seit Jahren wird mehr Prävention gefordert. Statt nur zu reden, beweist dieses Tal im Schwarzwald, dass uns echte Vorsorge gesünder und glücklicher macht – und viel Geld spart.
Wenn ich früher zum Orthopäden sollte, musste ich wochenlang warten und mir dann für den Termin direkt den halben Tag freinehmen. Hier geht alles schneller und ich bin nach 30 Minuten wieder aus der Praxis raus.
Auch wenn es anders klingt: Jürgen Gerhardt ist »ganz normal versichert«, wie er sagt, also bei einer gesetzlichen Krankenkasse. Der 75-Jährige, der vor seinem Ruhestand in Hamburg lebte und arbeitete, ist nicht zu einer privaten Krankenkasse gewechselt,
Hier haben sich die Ärzte mit Managern verbündet, um unser Gesundheitssystem vom Kopf auf die Füße zu stellen: Anstatt Symptome mit immer neuen Verordnungen ruhigzustellen, versucht man hier, die Gesunden gar nicht erst krank werden zu lassen.
Was logisch klingt, ist weder selbstverständlich noch Standard.
Warum warten, bis das Kind im Brunnen liegt?
Anders im Kinzigtal: Seit über 10 Jahren behandeln die Menschen hier das Gesundheitswesen in ihrer Region mit dem Modell Gesundes Kinzigtal. Das Ziel der Therapie: ein System, das die bereits Erkrankten mit Weitsicht versorgt und die Gesunden fit hält – und dabei sogar noch Kosten spart.
Diagnose: Was braucht das Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts?
Doch keine Behandlung kann funktionieren, ohne die Krankengeschichte des Patienten zu kennen.
Die Geschichte unseres Gesundheitssystems lief, verkürzt gesagt, so ab: Bei seiner Geburt, zu Bismarcks Zeiten im Deutschen Kaiserreich,
Zwar gibt es Unfälle und die Grippe heute wie damals, wesentlich häufiger leiden wir heutzutage aber unter Krankheiten, die der Lebenswandel des 21. Jahrhunderts mit sich bringt: Übergewicht, Depressionen und nicht zuletzt Alterserkrankungen wie Osteoporose bis hin zu Krebs bestimmen den Alltag in den Arztpraxen des Landes. Leiden, die in der Regel nicht von einem Tag auf den anderen auftauchen.
Gesundheitsmanager Helmut Hildebrandt beschäftigt sich seit Jahrzehnten damit, das System diesen neuen Anforderungen anzupassen. Nach Jahren der Beratertätigkeit für die Weltgesundheitsorganisation, Krankenkassen und verschiedene Verbände traf er auf einem medizinischen Kongress durch Zufall auf Ärzte aus dem Kinzigtal, mit denen er im Jahr 2005 das Modell Gesundes Kinzigtal entwarf.
Behandlungsschritt 1: Vom Patient zum Partner
Eine der Ärztinnen, die nach der zufälligen Begegnung mit Helmut Hildebrandt von Anfang an dabei war, ist Allgemeinmedizinerin Brigitte Stunder. Heute ist sie, zusammen mit Hildebrandts Nachfolger, dem Gesundheitsmanager Alexander Pimperl, Geschäftsführerin der Gesundes Kinzigtal GmbH.
Auf die Frage, was das Kinzigtal anders mache und seinen Bewohnern in Sachen Prävention zu bieten habe, fällt ihr einiges ein: »Ich kenne Ihre genauen Lebensumstände ja nicht, wenn Sie aber zum Beispiel Raucher sind, könnte ich Ihnen direkt einen Kurs vermitteln, in dem Sie lernen können, es sein zu lassen!« Falls ich Nachwuchs planen würde, seien Kurse für werdende Eltern im Angebot, ebenso wie regelmäßige Infoveranstaltungen, die im Kampf gegen Übergewicht helfen sollen.
Und dann erwähnt sie noch ein Programm,
Im Gespräch wird trotz der zahlreichen Angebote schnell eines deutlich. Der Erfolg des Modells Gesundes Kinzigtal steht und fällt mit einem zentralen Akteur: dem Patienten selbst.
Ohne ihn gehe nichts, wie Ärztin Brigitte Stunder erklärt: »Manch einer denkt noch immer: ›Alle anderen müssen etwas für ihre Gesundheit tun, nur ich nicht. Mir geht es doch gut.‹ Da braucht es dann etwas Überzeugungsarbeit.« Dafür etwa, um nach einer anstrengenden Woche am Samstag noch zum Rückenkurs zu gehen. Oder dafür, dass die ältere Patientin doch mal einen Kurs wie »Starke Muskeln – Feste Knochen« belegt, der nachweislich
»Die Bereitschaft der Patienten zum Mitmachen hängt zunächst stark vom Leidensdruck ab«, so Brigitte Stunder. Wer regelmäßig Schmerzen habe, sei natürlich schneller dabei als jemand, bei dem es nur ab und zu im Rücken zwicke.
Damit das Modell von Brigitte Stunder und ihren Kollegen ein Erfolg wird, ist ein Gut unabdingbar, an dem es Ärzten im »normalen« System fast durchweg am meisten mangelt: Zeit. »Man muss sich die Zeit nehmen, um genauer nachzufragen und auch um zu erklären, warum dieser Kurs nun so wichtig ist«, so Brigitte Stunder. Ohne dieses zeitintensive Shared-Decision-Making, also das
Aber woher soll die Zeit kommen, die Ärzte dafür brauchen?
Behandlungsschritt 2: Einzelkämpfer zu Teamplayern machen
Die knappe Ressource Zeit trifft besonders Regionen, in denen die Lasten der Patientenversorgung ohnehin auf wenige Schultern verteilt sind –
Denn die jungen Mediziner, also die potenziellen Nachfolger für den »Hausarzt ums Eck«, zieht es heute eher nach Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf als ins ländliche Idyll. Gleichzeitig leben die älteren, vergleichsweise betreuungsintensiven Patienten häufiger in ländlichen Regionen. Mit jeder Praxis, die ohne Nachfolgerin schließen muss, steigt die Last für die verbliebenen, meist alteingesessenen Ärzte –
An diesem Problem krankte auch das Kinzigtal: »Auf dem Land ist die medizinische Infrastruktur und auch der öffentliche Nahverkehr nicht immer gegeben, deswegen ist es elementar wichtig, regionale Angebote aufrechtzuerhalten – besonders für die Älteren, die nicht so einfach in die nächstgrößere Stadt kommen«, so Brigitte Stunder.
Durch die enge Zusammenarbeit in der Region ließen sich Engpässe jedoch besser auffangen: »Wenn man zum Beispiel ein dringendes Problem bei einem Patienten entdeckt, ruft man den entsprechenden Kollegen direkt an und fragt: ›Kannst du dir das mal kurzfristig anschauen?‹ Das klappt dann auch!«, erklärt Brigitte Stunder.
So wie im Fall von Jürgen Gerhardt. Bei seiner Frau bestand der Verdacht auf eine Erkrankung im Gehirn, der durch eine Kernspintomografie abgeklärt werden sollte:
Unser Hausarzt nahm den Telefonhörer zur Hand, und 2 Tage später hatten wir den Termin. Vormittags waren wir bei der Untersuchung. Danach hat unser Hausarzt noch am gleichen Tag bei uns angerufen und Entwarnung gegeben.
Allein durch gute Kontakte zwischen den Ärzten wird das System allerdings nicht gerettet: »Alle Akteure spielen hier eine wichtige Rolle: Krankenhäuser, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, aber auch lokale Vereine und Fitnessstudios. Die müssen dann auch mal direkt angesprochen werden, damit sie Reha-Sportgruppen für Ältere einrichten.« Und da die Ärzte das neben ihrer eigentlichen Arbeit nur schwer allein stemmen könnten, übernehmen das die Versorgungs- und Projektmanagerinnen der GmbH.
Zusammen haben sie die »Gesundheitswelt Kinzigtal« als zentrale Anlaufstelle aufgebaut, in der neben der Geschäftsstelle der GmbH auch Platz für Präventionskurse und eine Gesundheitsakademie ist. In letzterer stehen dann regelmäßig Infoabende rund um einen gesunden Lebenswandel wie »Ausgewogen ernähren – gezielt bewegen«
Bleibt nur noch die Frage: Wer bezahlt das alles?
Behandlungsschritt 3: Den Patienten »Gesundheitssystem« auf ein zukunftsfähiges Fundament stellen
Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, wie paradox das jetzige System ist. Vereinfacht gesagt werden insbesondere Hausärzte vor die Wahl gestellt: Entweder nehmen sie sich Zeit, um ausführlich mit ihren Patienten zu sprechen und so den Ursachen der Probleme auf die Spur zu kommen.
Oder sie versuchen, so viele Patienten wie möglich in einer Sprechstunde abzuarbeiten,
Im Kinzigtal läuft das grundlegend anders: Ärzten und Psychotherapeuten gehören 2/3 der Gesundes Kinzigtal GmbH. Das verbleibende Drittel wird von der Optimedis AG, einem Unternehmen für Gesundheitsmanagement von Helmut Hildebrandt, die ähnliche Modelle auch in anderen Regionen umsetzt, gehalten. Die Gesundes Kinzigtal GmbH hat einen langfristigen Vertrag mit den Krankenkassen geschlossen: »Hier schauen wir dann: Wie entwickeln sich die durchschnittlichen Kosten pro Patient hier vor Ort gegenüber denen der übrigen Versicherten«, erklärt Alexander Pimperl, der bei der Gesundes Kinzigtal GmbH für Management und Evaluation zuständig ist.
»Sparen wir dann am Ende Geld ein, teilen wir diesen Betrag mit den Kassen und nutzen ihn, um in Leistungen zu investieren, von denen wir uns sowohl höhere Qualität für Patienten als auch niedrigere Kosten versprechen.« Der Kurs zur Stärkung der Muskeln für eine ältere Zielgruppe sei dafür ein gutes Beispiel.
Am Ende profitiere das gesamte System mit all seinen Beteiligten, wenn es die Ärzte zu Teilhabern des Erfolgs für die Patienten macht. Und »Erfolg« bedeutet in diesem Fall, den Patienten gesund zu halten.
Die Bilanz der Kinzigtaler kann sich sehen lassen. In den Jahren 2007–2016 kamen die beteiligten Krankenkassen AOK Baden-Württemberg und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK)
Eine ganze Menge bei zuletzt rund 30.000 Versicherten der beiden Krankenkassen aus einem kleinen Tal in Baden-Württemberg.
Wichtiger noch: Gleichzeitig steigt dabei die Qualität für den Patienten, wie mir Allgemeinärztin Brigitte Stunder zum Ende unseres Gesprächs noch mal in aller Bestimmtheit mit auf den Weg gibt: »Schon vor dem Start von Gesundes Kinzigtal stand der Patient in meiner Praxis immer an erster Stelle. Jetzt kann ich aber mehr für ihn tun, weil ich konkrete Programme an der Hand habe, bei denen ich direkt sagen kann: ›Da können Sie hingehen, das wird Ihrem Rücken guttun!‹ Ich sehe das als Hilfe zur Selbsthilfe, aber auch als Begleitung für die, die noch einen längeren Weg mit ihren Erkrankungen vor sich haben.«
Gesündere Patienten, zufriedene Mediziner, profitierende Krankenkassen: Woran hängt der Systemwechsel also noch?
Voraussetzungen für die großangelegte Therapie des Gesundheitssystems
Damit die im Kinzigtal entwickelte und erprobte Therapie auch überall sonst in Deutschland anschlagen kann, gilt es vor allem noch, Vorbehalte gegen Neues abzubauen: »Manche Kollegen sind erst einmal kritisch, wenn sie hören, dass wir eine GmbH sind. Da gibt es dann Befürchtungen, dass es nur ums Geldverdienen geht«, berichtet Brigitte Stunder über die Überzeugungsarbeit, die noch bei manchen ihrer Kollegen zu leisten sei.
Damit Patienten sich für neue Inhalte öffnen, brauche es auch von Seiten der Ärzte eine gewisse Offenheit, die bisher noch auf Widerstand von manchen alteingesessenen Kollegen träfe.
Doch auch von anderer Seite brauche es Mut zum Systemwechsel, wie Alexander Pimperl erklärt. Ein Jahr lang hat er sich mit ähnlichen Versorgungsmodellen in den USA beschäftigt und dabei Faktoren für den Systemwechsel analysiert. Sein Ergebnis: Innovation ist möglich, wenn sie Programm wird.
»In den USA hat das staatliche Gesundheitswesen sich zu einem Wandel hin zum patientenorientierten Nutzen bekannt und neue, klare Zielwerte formuliert. Da wusste dann jeder, wonach er sich künftig auszurichten hat«, so Pimperl. Es fehlt also vor allem am Willen zu Veränderung. Um den hervorzukitzeln, könnte der Staat auf Anreize wie Anschubfinanzierungen setzen. »Dann kommt das von unten ganz von selbst in Gang«, meint Pimperl.
Doch ohne den Patienten, also uns alle, geht es auch hier nicht. Denn auch wir müssen offen für Neues sein, wie Jürgen Gerhardt aus der Anfangszeit des Projekts weiß:
Ganz am Anfang war da schon eine gewisse Skepsis in den Gemeinden: ›Will da jemand an uns Geld verdienen?‹ oder ›Kriege ich nachher dann irgendwelche falschen Medikamente aus China untergejubelt?‹, wurde da gefragt.
Keine der Befürchtungen sollte sich bewahrheiten. Heute haben sich die Vorbehalte bei den meisten in Luft aufgelöst.
Mit Illustrationen von Tobias Kaiser für Perspective Daily