Ja, die Zeit der Kohle endet. Kein Problem, sagt diese Bergbaustadt
Die Kohlekommission hat beschlossen: Im Jahr 2038 ist Schluss. Während die Politik jetzt entscheiden muss, wie es weitergehen kann, macht es Ibbenbüren längst vor.
Manchmal geschehen große Ereignisse ganz leise. Es ist ein bedeckter Sommertag Mitte August, als Reviersteiger Jörg Himbert und seine Mannschaft auf den Korb steigen. Mit 8 Metern pro Sekunde rast er den Nordschacht hinab. Zu diesem Zeitpunkt ist er der tiefste aktive Schacht im deutschen Steinkohlenbergbau. Und dann, in 1.335 Metern Teufe, Streb 9/10 Norden, Flöz 53, löst der Hobel zum letzten Mal das schwarze Gold aus dem Boden. Es ist staubig, es ist laut. Bis die Maschinen verstummen und das Förderband die letzten Brocken Ibbenbürener Anthrazitkohle davonträgt.
Keine große Feier, keine Pressevertreter begleiten diesen historischen Augenblick. Als Zeichen des Respekts für die Mannschaft habe man sich entschieden, die letzte Förderschicht ohne viel Aufhebens zu begehen, heißt es in der erst Tage später veröffentlichten
Im Angesicht der Stilllegung bewältigten die Bergleute diese Herausforderung unter schwierigen Bedingungen. Der Zusammenhalt ist hoch.
5 Monate später, Januar 2019. Der deutsche Steinkohlenbergbau ist inzwischen offiziell beendet. Ibbenbüren im nördlichen Münsterland gehörte neben Prosper-Haniel in Bottrop zu den letzten beiden aktiven Zechen in Deutschland. Jetzt liegt das Bergwerk RAG Anthrazit scheinbar verlassen da. Schon heute wirkt es wie ein Stück Industriegeschichte.
Dass unter Tage die Räumung der Grube stattfindet, ist für den Passanten an der langen, schnurgeraden Straße vor dem Werksgelände unsichtbar. Über Tage stehen die Fördertürme und Bandanlagen still. Nur selten sind vereinzelte Arbeiter zu sehen. Kurz huschen sie über das Gelände, um dann wieder in den alten Gebäuden und Anlagen zu verschwinden. Hier waren im Jahr 1958 mehr als 8.000 Mitarbeiter beschäftigt, ehe es
Ein neuer Stadtteil entsteht
Der Pütt, wie die Menschen hier sagen, liegt auf einem Höhenzug im Norden des Stadtgebiets. Die Türme und Schornsteine des Bergwerks und des benachbarten Kraftwerks sind weithin sichtbar. Sie sind die Wahrzeichen der Stadt. Während der Nordschacht, wo die Bergleute eingefahren sind, eher unauffällig in der Nachbargemeinde Mettingen liegt, ist der Oeynhausen-Schacht der Hauptstandort des Bergwerks. Doch kaum einen Ibbenbürener, der hier nichts verloren hat, verschlägt es hierher.
In Zukunft wird sich das ändern. Denn bereits in wenigen Jahren wird hier nichts mehr so sein, wie es einmal war. Während die Kohlekommission im fernen Berlin bis zuletzt um Lösungen für die Zeit nach der Kohle gerungen hat, ist der Wandel in Ibbenbüren schon im vollen Gange.
3 Kilometer vom Bergwerk entfernt, im Technischen Rathaus, befindet sich das Büro von Uwe Manteuffel. Vor wenigen Wochen haben er und seine Kollegen den
Als Verwaltungsmensch agiert er eher im Hintergrund. Trotzdem kennt jeder Zeitungsleser in der Stadt seinen Namen und weiß, wofür der sperrige Ausdruck »Schnittstelle Kohlekonversion« steht. Die frühzeitig ins Leben gerufene Institution vermittelt zwischen allen Beteiligten in der Region, also zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, RAG und nicht zuletzt den Bürgern, die von Anfang an mitgestalten konnten. Im Rathaus hat man früh verstanden: Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn er gemeinschaftlich gedacht wird.
Der Wandel der Kohleregion Ibbenbüren ist von langer Hand geplant, seit dem Jahr 2011, als der Ausstieg aus der Steinkohle endgültig beschlossene Sache war. »In dem Moment war klar, dass wir den Schalter umlegen müssen«, sagt Uwe Manteuffel. Seitdem sei es nicht mehr darum gegangen, für den Erhalt des Bergbaus weiterzukämpfen, sondern darum, alles zu tun, um den Wandel zu gestalten. Noch mitten im laufenden Zechenbetrieb saßen Stadt und RAG schon an einem Tisch, um eine Zukunftsvision zu entwerfen.
Uwe Manteuffel erzählt, er sei gelegentlich mit Kollegen aus den Braunkohlerevieren in der Lausitz im Gespräch. »Die haben den Beschluss nicht.« Der Kohleausstieg kommt, aber planbar ist er für die Regionen ohne festen Termin bisher nur schwer. Für die Gestaltung des Strukturwandels sei das nicht förderlich, sagt Uwe Manteuffel.
Die Bundesregierung arbeitet daran. Die von ihr eingesetzte Kohlekommission hat in der Nacht zum 26. Januar ein Ausstiegsszenario erarbeitet. Jetzt steht fest: Spätestens im Jahr 2038 soll in Deutschland Schluss sein mit der Kohle. Nun ist die Politik am Zug. Sie muss die Empfehlungen der Kommission schließlich umsetzen. Noch hängen Zehntausende Arbeitsplätze direkt oder indirekt an den Braunkohlerevieren in NRW, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Können diese Regionen von den Erfahrungen in Ibbenbüren profitieren?
Eine unbekannte Stadt im Aufwind
Die 54.000-Einwohner-Stadt im Tecklenburger Land steht eher selten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Ein Grund dafür könnte die geografische Lage sein. Ibbenbüren, rund 20 Autominuten vom niedersächsischen Osnabrück entfernt, ist nicht das Ruhrgebiet. Kaum jemand, der nicht von hier kommt, bringt die Stadt mit dem Bergbau in Verbindung.
Doch es könnte noch einen zweiten Grund für die Unaufmerksamkeit geben, die die Stadt erfährt. Denn die letzten Jahre des Steinkohlenbergbaus sind hier weitgehend geräuschlos verlaufen. Keinem Bergmann droht die Arbeitslosigkeit. Die Mitarbeiterzahl wurde langfristig und sozialverträglich abgebaut. Viele Bergleute wurden mit 50 Jahren frühverrentet. Das Land NRW und der Bund haben viel Geld in die Hand genommen, um soziale Härten zu vermeiden. Niemand soll ins Bergfreie fallen, lautete die Zielsetzung im Fachjargon.
»Das ist schon eine ganz ungewöhnliche Entwicklung, die wir hier haben.« – Marc Schrameyer, Bürgermeister
Verbliebene, jüngere Mitarbeiter finden in der Regel problemlos neue Jobs. Der Wirtschaft in der Region geht es blendend. »Wir haben den Verlust an Arbeitsplätzen im Bergbau in den letzten Jahren mehrfach allein in Ibbenbüren kompensiert«, sagt Bürgermeister Marc Schrameyer.
Tatsächlich haben Ibbenbüren und der Kreis Steinfurt eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in ganz NRW. Während die Quote in der
Das Areal ist so groß wie 70 Fußballfelder. Es wird nicht zu einer tristen Industriebrache verkommen. In den nächsten Jahren, sobald der Rückzug aus dem Bergwerk abgeschlossen ist, entsteht hier ein Gewerbepark mit einem Gründer- und Innovationszentrum. Die Bergbautradition bleibt sichtbar, denkmalwürdige Gebäude bleiben stehen. Bergbaumuseum und der
Kultur, Bildung, Freizeitgestaltung, Natur, Gewerbe – alles ist dann an einem Ort, der für die meisten Ibbenbürener irgendwie vertraut und doch Neuland ist. Auf dem Gelände selbst waren die wenigsten von ihnen schon einmal. Von außen versperren Mauern den freien Blick. Den Pütt kennen die meisten vor allem aus den Erzählungen der Väter, Onkel und Großeltern sowie als Landmarke, wenn sie aus dem Fenster schauen.
Eine ungewöhnliche Entwicklung
Der Bergbau geht, zurück bleibt eine Region im Aufwind. Ibbenbüren hat in den vergangenen 30 Jahren nach Aussagen des Bürgermeisters 10.000 Einwohner hinzugewonnen. Mit der Bevölkerungszahl stieg auch die Zahl der Beschäftigten. Wer in die Stadt kam, hatte Arbeit. Ibbenbüren ist keine Großstadt und keine Universitätsstadt. Aber es ist eine Stadt mit 2.250 Gewerbebetrieben, mit mittelständischen Familienunternehmen und sogar einigen
Die Nachfrage nach Fachkräften sei riesig, sagt Bürgermeister Marc Schrameyer. »Das ist schon eine ganz ungewöhnliche Entwicklung, die wir hier haben.« Der Strukturwandel in der Region ist eigentlich schon abgeschlossen, bevor die Zeche überhaupt stillgelegt wurde. Das Timing stimmt bis zum finalen Beschluss im Rathaus. Eine Woche, bevor in Bottrop das letzte in Deutschland geförderte Stück Steinkohle an den Bundespräsidenten übergeben wurde, verabschiedete der Stadtrat Ibbenbüren den »Masterplan von Oeynhausen«.
Kritische Stimmen begleiten den Wandel
Trotzdem wird das Ende des Bergbaus auch von einigen kritischen Stimmen begleitet. »Der Bergbau geht – der Schaden bleibt«, prangte kürzlich an prominenten Plakatwänden im Stadtgebiet. Die »Bürgerinitiative Bergbaubetroffener« machte damit auf die Bergschäden aufmerksam und setzte sich für angemessene Schadenersatzansprüche ein. Mit Bergschäden sind die Schäden an Gebäuden, Grundstücken oder Straßen gemeint, die auf bergbauliche Aktivitäten zurückzuführen sind. Die RAG haftet dafür – und das sogar noch lange nach der Schließung des Bergwerks.
Auch der Weiterbetrieb des Kraftwerks wird kritisch gesehen. Wenn die eigenen Kohlevorräte aufgebraucht sind, wird die RWE das Kraftwerk
Von dort wird sie über den Mittellandkanal und schließlich – zum Zorn einiger Anwohner – auf Zügen über die steile Trasse der RAG-Zechenbahn hergebracht. Das ist immer noch günstiger als die Nutzung der hochwertigen Anthrazitkohle aus dem heimischen Boden.
Der Steinkohleausstieg ist also kein echter Ausstieg. Zwar sinkt der Anteil der Braun- und Steinkohle an der Stromerzeugung. Im vergangenen Jahr machte Braunkohle 24% am
Das Erfolgsgeheimnis von Ibbenbüren
Doch trotz allem ist das Konfliktpotenzial in Ibbenbüren insgesamt überschaubar. Die momentan vorherrschende Gemütslage ist eine Mischung aus Wehmut, Dankbarkeit und Aufbruchstimmung. Natürlich lässt sich eine positive Entwicklung wie die in der Kohleregion Ibbenbüren nicht 1:1 auf andere Regionen übertragen. In Ibbenbüren gab es schon immer eine starke mittelständische Wirtschaft. Außerdem ist die Stadt geografisch und infrastrukturell bestens angebunden: an die Autobahnen A1 und A30, an die Bahnstrecke Amsterdam–Berlin, an den Dortmund-Ems-Kanal und den Mittellandkanal, an den 20 Kilometer entfernten
Das ist in den ostdeutschen Braunkohlerevieren anders. In Sachen Infrastruktur und Innovationskraft schneiden sie deutlich schlechter ab, wie
Trotzdem kann Ibbenbüren als Vorbild dienen. Frühzeitige Planung, die Bündelung aller Interessen und Akteure an einer Stelle, Wirtschaftsförderung mit klugen Standortentscheidungen und nicht zuletzt eine optimistische Grundhaltung – all das ist übertragbar auf andere Regionen. Als wichtigsten Erfolgsfaktor nennt Uwe Manteuffel die Einrichtung der von ihm geleiteten Schnittstelle Kohlekonversion. »Das hat so bisher kein anderer Standort auf die Reihe gekriegt«, sagt er, ohne dabei überheblich zu klingen. Übrigens geht die Schnittstelle auch in einem anderen Bereich neue Wege: Im Team gibt es mehr Frauen als Männer. Das kommt in der kommunalen Verwaltung selten vor.
Die Bürger reden mit
Besonders wird es auch darauf ankommen, die Bevölkerung einzubeziehen. In Ibbenbüren ist das geglückt. Das sieht auch der NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann von der CDU so. Er ist in einem Nachbarort von Ibbenbüren zu Hause und hat die Verhandlungen über die Zechenschließungen lange politisch begleitet. »Bemerkenswert ist, dass die Region in einem umfangreichen Beteiligungsverfahren die Menschen mitgenommen hat. Das begrüße ich sehr, denn ihnen wurde die Gelegenheit gegeben, ihre Heimat aktiv mitzugestalten«, sagt er.
Karl-Josef Laumann ist sicher, dass die Region den wirtschaftlichen Verlust durch das Ende des Bergbaus kompensieren wird. Und dass andere Regionen von Ibbenbüren lernen können, indem sie auf Vielfalt und regional verwurzelte Unternehmen setzen.
Erfolgreiche Regionen wie das Münsterland haben in der Vergangenheit auf einen vielfältigen Branchenmix gesetzt und insbesondere für eigentümergeführte Mittelstandsunternehmen attraktive Rahmenbedingungen geboten. Ich bin sehr froh, dass die Kommunen sich dabei in der Vergangenheit nicht nur auf Unternehmen in den Bereichen Dienstleistung und Handel konzentriert haben. Es wurden immer auch Flächen für Industrieunternehmen zur Verfügung gestellt.
Er räumt aber ein, dass es dafür auch die richtigen Rahmenbedingungen braucht. »Einige Braunkohlereviere haben hier sicherlich bessere Startvoraussetzungen als andere«, sagt Karl-Josef Laumann.
Nun beginnt der emotionale Kulturwandel
Die Kohleregion Ibbenbüren hat den Strukturwandel bis hierhin gut gemeistert. Nun steht der Region aber noch ein weiterer Wandel bevor. Der emotionale, soziale Kulturwandel in der jahrhundertelang vom Bergbau geprägten Region lässt sich nicht einfach mit einer Schnittstelle planen. Es gibt kaum eine Familie in Ibbenbüren ohne Beziehung zum Pütt. Der Bergbau gehört zum sozialen Erbe der Region.
Das wurde vielleicht am deutlichsten sichtbar, als kurz vor der Schließung, im November 2018, 2.500 Menschen zu einer großen Abschiedsveranstaltung auf das Zechengelände kamen. Als es dunkel wurde, wanderten Lichtspiele über die zum Teil fast 100 Jahre alten Gebäude. Und irgendwann standen alle beisammen und sangen das Steigerlied.
Da konnte man spüren: Es verschwindet nicht nur eine prägende Industrie, ein großer Arbeitgeber und das Selbstverständnis einer Region, die tief mit dem Bergbau verbunden ist. Es verschwindet auch etwas, das viele Menschen in der heutigen Gesellschaft vermissen und das die Bergleute immer besonders ausgezeichnet hat:
Den brauchten auch die Mitglieder der Kohlekommission. Sie haben bis zuletzt um einen Ausstiegsplan gerungen, der von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft getragen wird und zugleich die Einhaltung des deutschen Klimaziels ernst nimmt. Ob das gelungen ist, werden die weiteren Diskussionen in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. Vor allem aber hängt es davon ab, mit welcher Entschlossenheit die verantwortlichen Politiker nun handeln. Ein Blick nach Ibbenbüren könnte ihnen Mut machen.
Du willst noch mehr über Vorreiter in Sachen Energiewende lesen? Wir waren schon mal im Kreis Steinfurt unterwegs und haben recherchiert, wie Steinfurt zum Vorreiter beim Thema Nachhaltigkeit geworden ist und wie das auch in anderen Regionen gelingen kann.
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