Die EU steht vor der Wahl. 10 Europäerinnen und Europäer sagen jetzt, wohin wir steuern müssen
Ein kostenloses Interrail-Ticket für alle, endlich Schluss mit leeren Worten, ein starkes Parlament – diese Menschen setzen sich für Europas Zukunft ein. Und sind dabei nicht alle einer Meinung.
In etwas mehr als 100 Tagen wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ihr neues Parlament. Es vertritt rund 512 Millionen Menschen; gemessen an der Einwohnerzahl wäre die EU hinter China und Indien das drittgrößte Land der Erde. Die Europäische Union ist aber kein Land. Erwachsen aus einem visionären Friedensprojekt, wurde aus der Wirtschaftsgemeinschaft in den 1990er-Jahren eine Union, die sich nach dem Fall der Mauer sogar die Integration der Staaten Mittelost- und Osteuropas zutraute. Klar, Streit gab es schon immer: um die ungleichen Verhältnisse, Migration, natürlich auch um Geld. Trotz allem ging es langsam, aber stetig voran mit der europäischen Integration.
Doch im Jahr 2019 stehen die europäischen Staaten an einem Scheideweg: Großbritannien hat sich für den
Mit Blick auf die Europawahl im Mai haben wir engagierte Europäerinnen und Europäer aus Politik und Zivilgesellschaft gefragt:
10 von ihnen haben geantwortet. Hier sind ihre – durchaus verschiedenen – Visionen für die EU der Zukunft.
Herr & Speer: Europa für alle erfahrbar machen
Herr & Speer sind Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer, 2 »Aktivisten, Autoren, Feministen und Europäer aus Berlin«. Bekannt geworden sind sie durch ihre Initiative für ein kostenfreies Interrail-Ticket zum 18. Geburtstag eines jeden EU-Bürgers. Damit hatten
Von überzeugten Europäern wird sie oft beschworen: die europäische Identität. Aber was ist das eigentlich? Und wo kommt sie her?
Historisch betrachtet setzt das Konzept genau dort an, wo vor rund 200 Jahren auch Befürworter nationaler Identitäten ansetzten. Italienische, deutsche und französische Revolutionäre wollten Schluss machen mit dem alten System der Herrschaft von Königshäusern und Grafschaften und endlich selbst über ihr Schicksal bestimmen. Heute heißt es: Schluss mit den Nationalstaaten, her mit der europäischen Identität, der
Eine nationale Identität gründete sich in fast allen Fällen entlang linguistischer Gemeinsamkeiten.
Unser Vorschlag: Ein kostenloses Interrail-Ticket für alle jungen Europäer. #FreeInterrail ist bei Weitem nicht der einzige Vorschlag zur Stärkung der gemeinsamen Identität, wohl aber der zurzeit praktikabelste.
Terry Reintke: »Ich will eine EU, die Vorreiterin für Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und LGBTI-Rechte ist!«
Terry Reintke sitzt seit dem Jahr 2014 für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament. Sie bezeichnet sich selbst als »Politikerin, Feministin, Kreuzworträtselliebhaberin und Ruhrpottkind«. Ihre Themenschwerpunkte sind Frauen, LGBTI, Sozial- und Regionalpolitik.
Im Jahr 2019 geht es um viel. Es geht um die Grundausrichtung Europas. Mit der Europawahl im Mai 2019 entscheiden wir, welchen Kurs wir einschlagen: Fallen wir zurück in das dunkle Zeitalter der Ewiggestrigen, die immer noch glauben, die Lösungen im Nationalen finden zu können? Oder bauen wir an unserem gemeinsamen Haus Europa, bekämpfen den Klimawandel über Landesgrenzen hinweg und setzen uns entschieden für die Grundrechte aller Unionsbürger*innen ein? Diese Frage ist zentral für das kommende Jahr.
Uns allen muss klar sein, dass wir es sind, die diese Weichenstellung vollziehen. Jede und jeder ist gefragt. In den letzten Jahren haben wir erlebt – sei es bei der Brexit-Abstimmung oder den US-Wahlen –, wie knapp wichtige Entscheidungen ausfallen können.
Für mich steht fest: Die Europäische Union ist die beste Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Ich will eine EU, die wieder Vorreiterin wird für Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und LGBTI-Rechte. Ich setze mich für ein Europa ein, das Verbündete ist für Nichtregierungsorganisationen in Ungarn oder Italien, für Journalistinnen in Malta und der Slowakei. Ich streite für ein soziales und gerechtes Europa, in dem alle Menschen gleiche Chancen haben – von Faro bis Tallin, von Dublin bis Thessaloniki.
Europa muss besser werden. Wir müssen eine Schippe drauflegen. Im Konkreten bedeutet das zum Beispiel, endlich die Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren, eine europäische Grundsicherungsrichtlinie auf den Weg zu bringen oder die Neuauflage einer Antidiskriminierungsrichtlinie, die ins 21. Jahrhundert passt.
Bastian Kenn & Marie Rosenkranz vom European Democracy Lab: Mutet uns Politik zu!
Bastian Kenn und Marie Rosenkranz arbeiten für das European Democracy Lab, ein Thinktank, der das »europäische Gemeinwohl jenseits des Nationalstaats« fördern will. Gründerin des European Democracy Lab ist die Politologin Ulrike Guérot, die in den letzten Jahren mit ihrem Konzept der Europäischen Republik für viel medialen Wirbel sorgte.
Dass die Leute vielleicht an der EU zweifeln, aber Lust auf Europa haben, ist für uns klar. Die rege Teilnahme am European Balcony Project hat das erneut bewiesen: Über 200 Initiativen in Europa riefen am 10. November 2018 zeitgleich in einer Kunstaktion die Europäische Republik aus –
Das europäische Projekt wird nur dann (wieder) zu einer Herzensangelegenheit für Bürger*innen, wenn es um echte politische Alternativen geht. Wir sollten nicht mehr diskutieren, ob jemand für oder gegen Europa ist. Stattdessen sind diese Fragen wichtig: Wer ist für oder gegen eine Finanztransaktionssteuer, für oder gegen eine europäische Arbeitslosenversicherung, für oder gegen ein europäisches Rahmenwerk in der Asylpolitik?
Würden nationale Politiker*innen diese Fragen diskutieren, durchbrächen sie eine Erzählung, die sie selbst so meisterhaft gesponnen haben: dass es nationale Interessen gibt, die mit den Interessen der Bürger*innen übereinstimmen. Die Wahrheit ist: Europäische Banker sind wohl eher gegen eine Finanztransaktionssteuer als europäische Lohnarbeiter ohne ein dickes Sparkonto, seien es Deutsche oder Griechen. Die meisten Bürger*innen – und auch Wissenschaftler*innen – wissen das bereits, nur die (nationale) Politik scheint diese Tatsache nach wie vor zu ignorieren.
Damian Boeselager: Das Parlament ins Zentrum stellen
Damian Boeselager ist Gründungsmitglied der paneuropäischen Bewegung
Die EU steht für Solidarität und Freiheit, geografisch wie gedanklich. Demokratie, Einheit in Vielfalt, Frieden, Freundschaft und erfolgreiche Zusammenarbeit in Kultur, Wirtschaft und Politik – das alles brauchen wir mehr denn je.
Schließlich müssen wir gemeinsam eine Antwort finden auf die Frage, wie wir eine gerechte Gesellschaft nachhaltig entwickeln und sichern.
Klimawandel, Migration und Flucht, die auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich – all diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam als Europäer meistern. Ohne Lösungen wie eine europaweite Emissionssteuer,
Wir müssen vor allem die Stimme der Bürger*innen ins Zentrum aller europäischen Politik stellen. Das geht nur, wenn das EU-Parlament endlich zum Herzstück einer echten parlamentarischen Demokratie wird. Dafür muss das Parlament die Kommission ernennen und absetzen können. Es kann nicht sein, dass die De-Facto-Regierung von Europa nicht direkt von uns Bürger*innen durch das Parlament kontrolliert wird. Um das zu erreichen, muss die EU grundlegend reformiert werden, sodass sie am Ende, neben einem europäischen Premierminister mitsamt Kabinett und einem Rat der Europäischen Union, die Bürger als Ausgangspunkt jeder Entscheidung hat.
Delara Burkhardt: Mit einer europäischen Sozialunion gegen das Sparmantra
Delara Burkhardt ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos und hat es auf Platz 5 der SPD-Bundesliste zur Europawahl geschafft – damit ist es relativ sicher, dass sie in das neue EU-Parlament einziehen wird. Sie ist Jahrgang 1992, kommt aus Schleswig-Holstein und studiert in Hamburg Sozialökonomie.
Langsam,
Der Rückzug in den Nationalstaat wird langfristig die Erosion der liberalen Demokratie weiter vorantreiben und zu Konflikten führen. Dass sich viele im proeuropäischen Block Europa-Fähnchen schwenkend damit zufrieden geben, reine Abwehrkämpfe zu führen, die auf das Verteidigen des Bestehenden ausgerichtet sind, anstatt Visionen eines anderen Europas zu präsentieren, nimmt vielen Menschen die Hoffnung, dass die EU ein echtes Zukunftsprojekt sein kann.
Die Ungleichheiten in der EU sind durch die
Ich will, dass Europa für Fortschritt und soziale Sicherheit steht. Das wird nur passieren, wenn wir dem neoliberalen Sparmantra eine europäische Sozialunion entgegenstellen, die in künftige Generationen und ihre Perspektiven investiert. Ich will ein Europa, das sich Menschenrechte nicht nur auf die Fahne schreibt, sondern sie auch wirklich schützt und verteidigt.
Svenja Hahn: Die EU muss meiner Generation Chancen bieten
Svenja Hahn ist PR-Managerin und seit dem Jahr 2018 Präsidentin der Europäischen Liberalen Jugend (LYMEC). Auch ihr Einzug ins EU-Parlament ist ziemlich wahrscheinlich: Sie steht auf Platz 2 der FDP-Bundesliste.
Ich bin Teil einer Generation, die nur ein geeintes Europa kennt. In den letzten 5 Jahren war ich in 32 europäischen Ländern – innerhalb und außerhalb der Europäischen Union – und habe dabei viele junge Menschen und ihre Geschichten kennenlernen dürfen. Insbesondere auf dem Balkan, wo der Krieg kaum 20 Jahre her ist und die EU-Mitgliedschaft noch frisch oder bislang nur eine Möglichkeit ist, habe ich immer wieder erlebt, dass die EU ein Versprechen von Frieden, Freiheit und Fortschritt ist. Uns allen muss immer wieder bewusst werden, dass diese Errungenschaften nicht selbstverständlich sind, sondern es wert sind, für die EU einzustehen.
Ich glaube, dass für die Zukunft meiner Generation vor allem 3 Themen wichtig sind, wenn es um die EU geht:
- Die Verbesserung von individuellen Chancen, zum Beispiel durch einen besseren Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt – und die verbesserte Anerkennung von Bildungsleistungen in anderen Ländern.
- Das Schaffen von wirtschaftlichen Chancen für kommende Generationen, insbesondere durch eine Stärkung des Binnenmarkts und des Freihandels.
- Und drittens erwarte ich von der Europäischen Union, dass sie sich weltweit für bessere Möglichkeiten für junge Menschen engagiert; für Werte wie Demokratie und Menschenrechte – und dass sie durch Umwelt- und Klimaschutz auch Verantwortung für unseren Planeten übernimmt.
Nina Katzemich: Europa muss den Konzernen Spielregeln setzen
Nina Katzemich ist EU-Campaignerin bei der Organisation
Internationale Konzerne haben viele Möglichkeiten, Staaten im globalen Wettbewerb gegeneinander auszuspielen und ihre eigenen Spielregeln zu setzen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Sie zwingen Staaten in einen Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmensteuern oder verklagen Regierungen, wenn diese mit neuen Regeln »drohen«, die den Profit gefährden. Konzerne drohen dann selbst, nämlich mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen, wenn ihnen der Staat Kosten verursacht – wie beispielsweise durch CO2-Limits für Autos. Kurzum, sie haben mächtige Argumente in der Hand, wenn es darum geht, ein angenehmes Geschäftsklima für sich und ihre Gewinne zu schaffen. Dem Gemeinwohl ist damit oft wenig gedient. Konzerne brauchen daher eine starke politische Kontrolle.
Lobbyregulierung allein wird das Problem nicht lösen – aber sie ist ein erster wichtiger Schritt, um die Probleme besser sichtbar zu machen. Hier sind zum einen die Nationalstaaten gefragt: Die deutsche Bundesregierung hat es verpasst, die Automobilindustrie für ihren millionenfachen Betrug an den Autofahrer*innen und den Schaden für die Umwelt zur Rechenschaft zu ziehen. Andere Staaten hofieren ihre Kohle-, ihre Atom- oder ihre Finanzlobby.
Aber auch
Stephan Beer: Europa nicht mehr als Sündenbock nutzen
Stephan Beer ist CSU-Mitglied und vertritt die Junge Union derzeit als Vize-Präsident in der Jugendorganisation der Europäischen Volkspartei (YEPP). Beer kommt aus Nürnberg, arbeitet für ein Pharmaunternehmen und ist seit dem Jahr 2005 politisch aktiv.
Ob wir die Europäische Union noch brauchen? Natürlich! Autokratische Regierungen sind dabei, ihren Einflussbereich auszuweiten, und stellen Werte wie Freiheit und Menschenrechte infrage. Wirtschaftlich betrachtet verlieren die einzelnen europäischen Staaten mehr und mehr an Bedeutung. Wenn wir hier dauerhaft bestehen und unseren Prinzipien treu bleiben wollen, müssen wir gemeinsam auftreten.
Allerdings müssen wir weiter Bürokratie abbauen und unnötige Ausgaben senken. Ein Schritt wäre hier zum Beispiel, den Standort des Europäischen Parlaments in Straßburg aufzugeben, da diese Zweiteilung einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Außerdem wäre eine Reduktion der EU-Kommissare denkbar.
Wie das europäische Projekt wieder zu einer Herzensangelegenheit für die Bürgerinnen und Bürger wird? Vermutlich würde die Begeisterung für Europa von ganz allein kommen, sobald wir anfangen, Europa ernster zu nehmen, und es als gesamtgesellschaftliches Projekt betrachten. Allzu oft spielen europapolitische Themen in den Parteien eine untergeordnete Rolle. Landespolitiker nutzen Europa als dankbaren Sündenbock für alle unangenehmen Entscheidungen, und Journalisten berichten ausführlicher über jeden Landtagswahlkampf als über die Europawahl. In letzter Konsequenz kann daraus eine Katastrophe wie der Brexit entstehen. Lasst uns damit aufhören – dann gewinnt die EU die Herzen der Europäer von ganz allein.
Titelbild: Maximilian Weisbecker - CC0 1.0