Die Volksparteien sind am Ende. Warum das eine gute Nachricht ist
Die große Zeit von Union und SPD ist vorbei. Das ist aber nicht schlimm, denn so entsteht Raum für mehr politische Kreativität.
Niemand benutzt mehr Disketten. Aber weil die Magnetscheiben im Plastikgehäuse früher mal das Speichermedium schlechthin waren, und man sich irgendwie dran gewöhnt hat, lebt die Diskette in vielen Computerprogrammen als »Speichern«-Button weiter. Ähnlich ergeht es der Büroklammer, die im papierlosen Büro von heute nur noch selten gebraucht, aber täglich geklickt wird, wenn man einen Anhang per E-Mail verschickt.
Aus einer ähnlichen Gewohnheit nutzen die meisten noch den Begriff »große Koalition«, zum Teil sogar den Eigennamen mit großem G: »Große Koalition« – ohne zu merken, dass die »GroKo« in rasantem Tempo einen ähnlichen Bedeutungsverlust hingelegt hat wie Disketten und Büroklammern.
2013 gab es noch eine »große Koalition«, die den Namen wirklich verdient hatte
Früher war die »große Koalition« ein Hort der Stabilität. Die Volksparteien beidseits der Mitte gaben die Richtung vor. Und wenn nach einer Wahl mal keine von beiden einen Juniorpartner im eigenen politischen Lager finden konnte, dann regierten halt beide zusammen. Nach der Bundestagswahl 2013 war die Vormachtstellung von Union und SPD noch so gewaltig
Das klingt heute, kaum 2 Jahre nach dem Ende der Wahlperiode, wie eine Geschichte aus einer anderen Welt –
Die Zerstörung der CDU und SPD
Am drastischsten schreitet der Zersetzungsprozess gerade bei der SPD voran: Seit Jahren zeigen alle Trends nach unten. Kurz hofften die Genossen, ihr Kanzlerkandidat
Bei der Union sieht es nur auf den ersten Blick besser aus
Bei der Union sieht es nur auf den ersten Blick besser aus – sie ist bislang noch nicht ganz so tief gefallen wie der Koalitionspartner. Aber als Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer sich am Wahlabend allen Ernstes hinstellte und verkündete,
Besonders offenkundig wurde das durch das Video
Der Shitstorm für diese erbärmliche Krisenkommunikation war berechtigt
Der Shitstorm für diese erbärmliche Krisenkommunikation war berechtigt, wurde aber wenige Tage später von einem noch größeren Shitstorm übertroffen: Nach der Wahl sagte Kramp-Karrenbauer ein paar wirre Sätze, die kaum anders interpretiert werden konnten, als hätte sie gerade eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gefordert.
Ohrenbetäubendes Schweigen
So viel zum Zustand der einstigen Volksparteien, und es ist bezeichnend, dass sich die letzten 300 Wörter nur um ihr Innenleben gedreht haben anstatt um ihr Handeln. Es ist nicht so, dass die schwarz-rote Koalition seit ihrem Antritt überhaupt nichts auf die Reihe bekommen hätte, aber in einigen Politikbereichen verbreitet sie ohrenbetäubendes Schweigen. Das Krasseste ist, dass insbesondere die CDU resistent gegen allen Unmut aus der Bevölkerung (Umfragen, Demos, Rezo) immer noch glaubt, ihr
Kein Wunder, dass die Wähler diesen havarierten Schiffen den Rücken kehren
Die Geduld vieler junger Menschen, von starren Parteien regiert zu werden, in denen hierarchische Entscheidungsfindungsprozesse Innovation verhindern, ist aufgebraucht. Die CDU ist, genau wie die SPD, zu einem schwerfälligen Tanker geworden, dem gerade kein richtungsweisendes Manöver mehr gelingt: Statt Kurs auf ein politisches Ziel zu nehmen und die Motoren anzuwerfen, wird auf der Brücke taktiert und debattiert, und keiner merkt, dass die Schiffsschraube sich gar nicht mehr dreht. Kein Wunder, dass die Wähler diesen havarierten Schiffen den Rücken kehren, zumal andere Parteien mit voller Kraft an ihnen vorbeisegeln.
Bestes Beispiel sind die Grünen, die das Schwerpunktthema Klimakrise schon kompetent besetzt hatten, als sich die öffentliche Debatte noch hauptsächlich um Themen wie innere Sicherheit oder Migration gedreht hat. Bei jungen Wählern und in einigen Großstädten sind sie längst stärkste Kraft, was teils zwar am Klimathema liegt, aber auch an der Havarie der vormaligen Volksparteien insgesamt. Werden jetzt die Grünen zur neuen Volkspartei – oder hat das System Volkspartei damit komplett ausgedient?
Bewegungen statt Stillstand
Die Parteienlandschaft in einigen europäischen Ländern spricht dafür, dass das politische Spektrum insgesamt vielfältiger und schnelllebiger wird – so wie unser gesamtes übriges Leben auch. Im niederländischen Parlament sitzen inzwischen 13 Fraktionen, und auch die Regierung der Niederlande
In Italien sitzt mit dem »MoVimento 5 Stelle« (M5S) eine (mitunter etwas weniger anständige) Bewegung in vielen Rathäusern, Stadträten und in der Regierung, die noch keine 10 Jahre alt ist. Und die derzeit stärkste politische Kraft in Frankreich, »La République En Marche« (LREM) von Präsident Emmanuel Macron, ist überhaupt erst kurz vor der Wahl 2017
Keine Parteien, sondern Bewegungen
Die populistische M5S in Italien und die liberale LREM in Frankreich haben gemein, dass sie sich nicht mehr als Parteien verstehen, sondern als Bewegungen, die aus einem gewissen Zeitgeist heraus entstanden sind. Dieses Konzept könnte auch in Deutschland funktionieren – nur hat es bis auf das von langjährigen Profipolitikern erdachte linke Bündnis »Aufstehen« noch kaum jemand versucht.
In Deutschland gibt es gerade einen Zeitgeist, der eine wirksame Klimaschutzpolitik einfordert – und hätte es die Grünen nicht gegeben, so hätte sich vermutlich längst eine neue politische Bewegung formiert, die dafür eintritt.
»Out of the box« ist vieles möglich
Ein braches Feld, das nur darauf wartet, von einer neuen Bewegung beackert zu werden, ist die Digitalisierung. Das Thema verändert Gesellschaft und Wirtschaft rapide – und hat in Island immerhin einmal die Piratenpartei zur stärksten Kraft gemacht, die daraufhin eine neue Verfassung
An manchen Start-ups lässt sich ablesen, wie mächtig Ideen sind, deren Zeit gekommen ist
Bewegungen sind politische Start-ups – und wenn man sich die Firmengeschichten zum Beispiel von
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily