Muss man nackt in den Alpen fasten, um zu sich selbst zu finden?
Sicher nicht. Aber ich habe es trotzdem ausprobiert.
Ich stehe allein in 1.600 Metern Höhe auf einer Lichtung an einer Bergkante. In meinem Rücken liegt ein einsamer Wanderweg, dahinter der Wald. Ich schaue ins Gebirgstal und sehe keine Menschenseele. Es ist der 3. Tag, an dem ich nichts gegessen habe. Mein genaues Zeitgefühl habe ich längst verloren. Eigentlich müsste es bald dämmern, dann soll ich mit einem Ritual den letzten Tag der Fasten- und Schweigezeit feiern.
Doch ich zweifle daran, was ich hier überhaupt tue: Selbstfindung und Fasten? In der Natur sein und mein Leben ordnen? Allein beim Wort »Ritual« dreht sich mir der Magen um. Aber vielleicht ist es auch der Durchfall, der mich quält.
Dabei bin ich extra in die italienischen Alpen gefahren, um an einem »Visionssuche«-Seminar teilzunehmen. Es soll mir dabei helfen, meinen Alltag zu vergessen und mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren.
An diesem Abend bin ich in erster Linie frustriert und verunsichert. Ich beschließe, zu den anderen im Camp zurückzugehen. Ich breche ab, weil ich daran zweifle, dass das hier ein effektiver Weg ist, meine Richtung im Leben zu finden.
Ob ich überhaupt weitermachen will, weiß ich nicht. Was soll das alles bringen?
Warum sich Menschen auf Sinnsuche begeben
Das »Visionssuche«-Seminar findet jährlich für 3 Wochen in den italienischen Alpen statt. Organisiert wird es von der
Aber was hoffe ich dabei eigentlich zu finden?
Die kurze Antwort: Ich weiß es selbst nicht.
Die lange Antwort gibt mir später Tatjana Schnell. Die Psychologin arbeitet an der Universität Innsbruck mit dem Schwerpunkt Empirische Sinnforschung und untersucht, wie Menschen ihrem Leben Sinn geben.
Sie weiß, was Menschen wie mich zu solchen Erfahrungen treibt:
Wenn ich auf Sinnsuche bin, heißt das, ich habe gerade kein stabiles Fundament. Deshalb fühlen sich Menschen in Phasen des Umbruchs oder der Krise im Leben dazu berufen – besonders häufig im Alter zwischen 20 und 30.
Tatsächlich sind viele der Teilnehmenden in den Alpen in dieser Altersspanne, auch ich. Doch während sie sich den »großen Fragen« stellen und ihren Lebensweg ändern wollen, verraten diese Suchenden dabei vor allem etwas über sich selbst, so die Psychologin. Es gehe bei Sinnsuche weniger um konkrete Antworten als darum, sich – vielleicht zum ersten Mal – wertfrei den aktuellen Zustand vor Augen zu führen. Darum,
Doch dazu bin ich am Tag meiner Niederlage im Wald noch nicht bereit. Dafür spüre ich auf andere Weise eine Wirkung des BUNDjugend-Seminars: Das Erleben in der Natur zwingt mich dazu, meine körperlichen Grenzen auszuloten. Ohne den Schutz des Alltags mit all seinen Ablenkungen durch
Ich habe die schützenden Hüllen der Zivilisation abgestreift – wortwörtlich.
Wie nackig im Wald sein mir geholfen hat
Am Tag darauf befinde ich mich wieder allein im Wald. Ich habe einen Rucksack dabei, aber bis auf die Unterhose bin ich nackt. Unter meinen Füßen spüre ich den weichen, moosigen Waldboden, an meinem Körper jede Brise und auch die ersten Regentropfen.
Meine Sinne sind geschärft und meine Gedanken drehen sich um die Fragestellung, mit der ich in den Wald geschickt wurde: Was bedeutet Schutz eigentlich für mich?
Da grollt der erste Donner durch die Berge – ein Gewitter. »Ich möchte hier doch nicht draufgehen!«, denke ich und suche nach
Aber muss man sich dafür überhaupt in so eine Extremsituation begeben?
Die kurze Antwort: Verdammt, ja!
Für die Psychologin Tatjana Schnell
Deshalb fühlten sich Sinnsuchende vor allem zu Reisen oder Wanderungen hingezogen, erklärt sie – auch wenn man dabei nicht gleich nackt durch Alpenwälder laufen muss:
In gewisser Weise hat man das bei anderen Reisen wie dem Pilgern auch, dieses Ausgesetztsein. Es führt dazu, dass man an seine körperlichen Grenzen kommt und dadurch die Möglichkeit hat, das Bewusstsein zu verändern oder seine Weltanschauungen zu überprüfen.
Neu ist das nicht – ganz im Gegenteil. Tatjana Schnell nennt es »eine Art Übergangsritual«, das in vielen Kulturen bekannt ist und dort einen wichtigen Lebensabschnitt markiert. Vielleicht haben moderne Gesellschaften dieses Bedürfnis nach Übergangsritualen nur verlernt.
Doch dieser Gedanke hilft mir wenig, als ich zitternd unter einem Baum inmitten eines Alpengewitters stehe. Wonach suche ich hier?
Warum Sinnsuche im Trend ist – und wo sie wirklich hilft
Fest steht: Ich bin nicht der einzige Suchende. Die Suche nach Sinn ist voll im Trend. Ein »Visionssuche«-Seminar ist bei Weitem nicht das einzige Angebot:
Der Anthropologe Benjamin Berend glaubt, dass der Trend zur Sinnsuche mit Veränderungen
Herkömmliche Orientierungsmuster sind dabei in westlichen Zivilisationen auf dem Rückzug: etwa Religion oder
Die Psychologin Tatjana Schnell geht sogar noch einen Schritt weiter: Selbst gewählte Auszeiten mehrmals im Leben erscheinen ihr sinnvoll.
Vor oder nach einer beruflichen Umorientierung, einer Trennung oder vielleicht auch einem Umzug kann es hilfreich sein, sich zunächst klarzumachen, welche Ziele man verfolgen möchte und welche Intention hinter der Veränderung im Leben steht.
Was ich in den Alpen an neuem Sinn gefunden habe
Am Abend sitze ich im Camp mit den anderen im Kreis. Das Gewitter steckt mir noch in den Knochen, als die Ersten beginnen, über ihren Tag zu sprechen – jeder darf ausreden,
Damit sollen wir ganz bei uns selbst ankommen und in der Gruppe unsere eigene und die persönlichen Geschichten der anderen besser kennenlernen. Marleen erzählt, diese Reise sei schon ihre zweite »Visionssuche«. Jannis teilt offen seine Sorgen darüber mit, dass das alles hier doch eine Sekte sei.
Dann bin ich an der Reihe. Ich fühle meine Emotionen hochkommen, bevor ich überhaupt sprechen kann. Unter Tränen teile ich meine Erlebnisse der Gruppe mit. Ich bin ehrlich zu mir selbst. Die anderen akzeptieren das. Während der Sternenhimmel über dem Camp erwacht, spüre ich zum ersten Mal hier oben Halt in mir.
Was habe ich dabei gelernt?
Die kurze Antwort: mich zu verändern.
Die lange Antwort: Die »Visionssuche« war für mich eine Herausforderung. Ich habe mich der Natur gestellt und im grollenden Donner unter Bäumen ausgeharrt.
Wenn man immer seine eingefahrenen Routinen geht, sich in der Komfortzone aufhält und nicht dem Neuen aussetzt: Woher sollen dann die Wachstumsimpulse kommen?
Ich habe Ängste abgelegt und Fehler eingestanden. Ich habe akzeptiert, dass wir Menschen nicht perfekt sein können. Und ich habe in der Natur der Alpen gelernt, dass ich mehr bin als mein Selbstbild oder meine Gewohnheiten – und noch mehr werden kann.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily