6 neue Bücher, die uns diesen Herbst bewegen
Passend zur Frankfurter Buchmesse fragen wir uns: Können Bücher eine Rettung sein? Diese 6 schon, finden wir. Sie zeigen, wie wir die größten Probleme unserer Zeit anpacken.
Als der 31-jährige Schriftsteller George Orwell im Oktober 1934 eine Stelle in der Londoner Buchhandlung Booklover’s Corner annahm, musste er bald feststellen, dass sich die meisten Ladenbesucher eigentlich gar nicht für Bücher interessierten. Viel häufiger als »echte Büchernarren« kamen »Snobs, die aus reinem Geltungsbedürfnis unbedingt Erstausgaben haben mussten«, »Studenten, die um billige Lehrbücher feilschten« und »Frauen, die Geburtstagsgeschenke für ihre Neffen suchten«. Es sei zwecklos gewesen, seinen Kunden Autoren wie Charles Dickens oder Jane Austen nahezulegen.
Etwa zur gleichen Zeit notierte Hermann Hesse: »Die heutige Welt neigt ein wenig zum Unterschätzen der Bücher.« Den jungen Menschen erscheine es »lächerlich und unwürdig, statt lebendigen Lebens Bücher zu lieben«, beklagte der Schriftsteller
Jeder Dritte greift mindestens einmal pro Woche zu einem Buch.
Heute, fast 100 Jahre später, lesen die Menschen noch immer. Das auf Papier gedruckte Buch kann sich neben dem wachsenden Angebot an Streaming-Diensten, Podcasts, Nachrichtenseiten und Social-Media-Diensten weiter behaupten. Zwar ist die Zahl der Buchkäufer in den vergangenen Jahren
Warum wir noch an die Kraft der Bücher glauben
31% der Deutschen lesen mindestens einmal pro Woche in einem Buch, weitere 6% in einem
Vielleicht liegt es an dem minimalistischen, fast meditativen Charakter, den das Lesen eines Buches ausmacht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass das Wissen der Welt zwar jederzeit verfügbar ist, aber ein Unterschied darin besteht, ob man »NSA-Affäre« in die Suchmaschine eintippt oder man sich die Zeit nimmt, 432 Seiten aus der Feder Edward Snowdens darüber zu lesen. Die Bildung durch kluge Sachbücher und schöne Literatur lässt sich nicht einfach ersetzen oder mit anderen Mitteln beschleunigen.
Auch wir als Redaktion eines digitalen Magazins glauben noch an die Kraft der Bücher. In diesem Text verraten wir euch, mit welchen Werken wir uns diesen Herbst auf die Couch zurückziehen.
Die Titel, die wir ausgesucht haben, verbindet dabei eines: Sie machen Mut, dass es für die vielen drängenden Probleme da draußen in der Welt Lösungen gibt – und Menschen, die sie anpacken. Und das ist ganz im Sinne des Mottos der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, ein Zitat des
Edward Snowden: Permanent Record – Meine Geschichte
von Dirk WalbrühlEr ist ohne Frage der berühmteste Geheimnisverräter der Welt. Deshalb ist der Inhalt von Edward Snowdens Autobiografie Permanent Record nicht nur schnell erzählt, sondern dürfte nach seinen Enthüllungen im Jahr 2013 und der darauf folgenden NSA-Affäre zur Allgemeinbildung gehören: Nach den Anschlägen auf das World Trade Center tritt ein junger Nerd der Armee bei, findet Anstellung bei den Geheimdiensten der USA, wo er die enormen Ausmaße des US-Überwachungsapparats entdeckt, diese öffentlich macht und damit der Welt vor Augen führt, wie wenig Privatsphäre heute noch gilt.
Permanent Record ist eine nervenaufreibende Spionagegeschichte aus dem echten Leben – und
Ein Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, der ein »kaputtes System« nicht mehr mittragen wollte.
Die Antwort ist, wenn man seiner Autobiografie glaubt, vielschichtig: Edward Snowden begriff sich nicht als Held und verfolgte keine Ideologie. Vieles passierte aus Zufall und dem ehrlichen Entsetzen über die Ausmaße der weltweiten totalen Überwachung – die er als Verrat der Regierungen an ihren Bürgern begreift. Ein Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, der ein »kaputtes System« nicht mehr mittragen wollte.
Snowdens Gedanken über Privatsphäre sind 2019 noch genauso aktuell wie 2013. Denn man spürt zwischen den Zeilen deutlich seine
Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen – aber wissen sollten
von Juliane Metzker
Tut mir ja leid, dass ich euer Bild von Deutschland mit meiner braunen Haut störe, aber ich will euch Mut machen. Ich sehe schon mein ganzes Leben lang kaum Personen, die so aussehen wie ich. Ich komme auch irgendwie klar. Ihr kriegt das bestimmt hin.
Das würde Buchautorin und Journalistin Alice Hasters gern all denen sagen, die behaupten, kaum noch »Deutsche« auf der Straße zu sehen. Was sie aber meinen: Weiße. Das ist nur ein Beispiel aus Hasters’ gerade erschienenem Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, mit dem sie zeigen möchte: Rassismus tritt nicht nur so radikal wie in Person von Nazis auf.
Auf der Frankfurter Buchmesse werden gleich mehrere Bücher vorgestellt, die sich mit Formen und Umgang des Alltagsrassismus beschäftigen: Der
Nicht zuletzt hat der Aufruf #
Alice Hasters’ These ist: »Wir sprechen falsch über Rassismus.« Und zwar immer noch. Denn in der öffentlichen Debatte ginge es ständig nur darum, was man jetzt noch sagen und fragen dürfe. Und wenig bis gar nicht darum, zu verstehen, was überhaupt hinter dem Schreckgespenst des Alltagsrassismus stecke.
Deshalb spricht ihr Buchtitel provokativ »weiße Menschen« an. Warum das wiederum nicht rassistisch ist, kann man in ihrem Buch nachlesen oder
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt
von Lara MalbergerWie verhält sich die Menschheit, wenn das Ende der Welt droht? Wenn Wasser, Essen und Strom knapp werden? Das klingt nach einer Geschichte, die eigentlich nur düster enden kann. Deshalb war ich überrascht, als ich eine Rezension gelesen habe, in der es hieß, John Ironmongers Roman ließe trotz Endzeit-Thematik »ein wohliges Gefühl« zurück. Weltuntergang und Wohlfühlen? Das klang so skurril, dass ich das Buch lesen wollte.
Der Wal und das Ende der Welt spielt in St. Piran, einem fiktiven kleinen Fischerdorf in der englischen Grafschaft Cornwall, das so einsam gelegen ist, dass sich kaum ein Mensch dorthin verirrt. Als eines Tages der Investmentbanker Joe Haak am Strand im Ort gefunden wird, nackt und fast ertrunken, ahnen die Dorfbewohner nicht, wie der Londoner ihr Leben auf den Kopf stellen wird.
Denn Joe weiß von einer drohenden globalen Katastrophe. Ein Computerprogramm, das der Mathematiker für seine Bank entwickelt hat, prognostiziert einen Zusammenbruch der weltweiten Lieferketten. Joe ist klar, was das bedeutet: Die gesamte Gesellschaft könnte kollabieren.
Ironmonger hinterfragt das Bild des egoistischen Menschen, der, wenn es ernst wird, nur das eigene Überleben im Sinn hat.
Er beschließt, St. Piran und seine Bewohner zu retten. Während ihn anfangs noch alle für verrückt halten, als er tonnenweise Lebensmittel ins Dorf schafft, stellt sich schnell heraus, dass er mit seiner Vorhersage recht behalten soll: Eine Ölkrise löst erste Engpässe aus, dann verschärft ein Virus die Situation, das tödlicher ist als die spanische Grippe. Und so dramatisch das auch klingt – blutige Einzelheiten des Kollapses und der Verzweiflung haben in der Erzählung keinen Raum.
In seinem Roman hinterfragt Ironmonger das Bild des egoistischen Menschen, der, wenn es ernst wird, nur das eigene Überleben im Sinn hat. In seiner Erzählung finden Theorien von
Ryan Holiday: In der Stille liegt dein Weg
von Niklas BubBlinkende Werbetafeln, ständige Erreichbarkeit, mediale Dauerbeschallung: Wie gelingt es uns, in einer Welt voller Ablenkungen unsere eigentlichen Ziele zu verfolgen und dabei nicht den Kontakt zu uns selbst zu verlieren? Für Ryan Holiday lautet der Schlüssel: Stille.
Inspiriert von
»Du kontrollierst nicht die Welt um dich herum, sondern du kontrollierst, wie du reagierst.« – Ryan Holiday
Dafür bedarf es einer starken inneren Ruhe und eines distanzierten Umgangs mit seinen Gedanken und Emotionen. Anhand der Lebensgeschichten berühmter Persönlichkeiten illustriert Holiday, wie wir diese innere Ruhe kultivieren können: von
Das
Trotzdem habe ich, neben den wunderschön erzählten biografischen Anekdoten, vor allem eine Weisheit aus In der Stille liegt dein Weg mitnehmen können: Die tiefste Ruhe liegt immer im gegenwärtigen Moment – wir müssen nur lernen, sie wahrzunehmen.
Naomi Klein: Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann
von Stefan BoesDie Klimakrise beherrscht nicht nur die Schlagzeilen in den Medien, sondern ist auch eines der zentralen Themen dieses Bücherherbsts. Zu den wichtigsten Stimmen in dieser gesellschaftlichen Debatte gehört bereits seit Jahren die Schriftstellerin und Umweltaktivistin Naomi Klein. 2016 veröffentlichte sie das viel beachtete Buch »Die Entscheidung: Klima vs. Kapitalismus«. Nun hat sie eine Sammlung von Essays über die Klimakrise veröffentlicht, die in Deutschland am 4. November erscheint.
Naomi Klein vertritt darin die Position, dass individuelle Kaufentscheidungen nichts mehr ändern. Es gehe nicht darum, was wir als Einzelpersonen tun. Es sei für viele Menschen nur angenehmer, über den persönlichen Konsum zu sprechen als über systemrelevante Veränderungen, wie sie kürzlich in einem taz-Interview sagte:
Doch nur ein breites politisches und gesellschaftliches Bündnis könne die Bedrohung noch abwenden. Es brauche tief greifende Veränderungen unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, einen »Green New
Interessant an Naomi Kleins Analysen ist aber auch, dass sie die Klimakrise nicht isoliert betrachtet, sondern den Klimawandel im Zusammenhang mit anderen wachsenden, politischen Problemen unserer Zeit betrachtet: Rassismus, Nationalismus, Krieg, Vertreibung und Flucht. Für alle, die in diesem Herbst eine fundierte Gegenwartsanalyse lesen wollen, die uns den drohenden Kollaps unseres Klimas vor Augen führt, die aber zugleich Hoffnung gibt, dass wir das Schlimmste noch abwenden können, ist Naomi Kleins Buch Pflichtlektüre.
Sascha Lobo: Realitätsschock – Zehn Lehren aus der Gegenwart
von Benjamin FuchsRealitätsschock nennt Sascha Lobo dieses »diffuse Störgefühl«, diese plötzliche Erkenntnis, dass die Welt irgendwie aus den Fugen geraten ist. In 10 Kapiteln arbeitet er sich durch verschiedene Bereiche, in denen er die großen Debatten unserer Zeit entdeckt und die treibenden Kräfte dahinter: Globalisierung und Digitalisierung.
Klima, Migration, künstliche Intelligenz,
Während viele Erwachsene die Welt kaum mehr verstehen, hat die Jugend ein erstaunlich präzises Gegenwartsgespür entwickelt und begreift im Schnitt früher, was los ist. Der Fluss der Erfahrung hat sich umgedreht, junge Menschen erklären ihren Eltern die Jetztzeit. Oder ihren Lehrern, wie das Netz funktioniert. Oder der Politik, warum sie den Klimawandel für relevanter halten als Zylinderkopfdichtungen.
Sascha Lobo plädiert nicht dafür, der Jugend »blindlings zu folgen«, sie aber ernst zu nehmen und
Malala
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily