Mit diesen Postkarten vom »Ende der Welt« kannst du Leben retten
Ihre Heimat wird immer wieder von Terrorist:innen angegriffen, doch sie wollen nicht fliehen. So können ehemalige Reiseführer auch an einem Ort ihren Lebensunterhalt verdienen, an den längst keine Tourist:innen mehr strömen.
Seit 7 Wochen warte ich auf eine Postkarte aus Timbuktu. Fast jeden Morgen schaue ich, ob unser Postbote diesmal etwas aus der Stadt im westafrikanischen Mali dabeihat. Die Postkarte ist an meinen Partner adressiert. Ich will den Moment nicht verpassen, in dem er sie liest – eine handgeschriebene Postkarte von mir aus einem Ort, an dem ich eigentlich noch nie war. Er wird verwirrt sein. Wie kann das sein?
Die Postkarte habe natürlich nicht ich persönlich geschrieben, sondern sie stammt von einem Projekt in Mali namens »Postcards from Timbuktu«. Darauf bin ich aufmerksam geworden, als ich herausfinden wollte, woher das Sprichwort
Das Projekt gehört zu den vielen kreativen Ideen, mit denen sich die Menschen in Mali über Wasser zu halten versuchen. Denn seit Jahren kommt es immer wieder zu Terroranschlägen und bewaffneten Konflikten.
In diesem Artikel will ich dir das Projekt vorstellen, da es zeigt, wie eine spontane Idee Leben verändern und retten kann. Außerdem sollst du einen Einblick in die Geschichte und die Lage von Mali bekommen. Dazu sprach ich mit Phil und Ali, den Mitgründern von
Geh doch nach Timbuktu! Oder lass dir einen Brief schicken
Postcards from Timbuktu wurde 2016 vom US-Amerikaner Phil Paoletta und seinem Freund Ali Nialy ins Leben gerufen, einem ehemaligen Touristenführer aus Timbuktu. Die Idee dazu kam Phil, als er sich mit seinem Freund Ali unterhielt: »Wir sprachen darüber, wie schwer er und die anderen Fremdenführer es haben, über die Runden zu kommen. Seit 2012 besuchen kaum mehr Touristen die Stadt«, erzählt er am Telefon.
Zum Hintergrund: Im Jahr 2012 besetzte die islamistische Ansar-Dine-Miliz (auf Deutsch: »Unterstützer des Glaubens«) Timbuktu. Sie zerstörten Mausoleen und eine Lehmmoschee aus dem 15. Jahrhundert, die erst wenige Tage zuvor
An dem Tag, als Phil und Ali über die prekäre wirtschaftliche Lage in Mali sprachen, erhielt Phil eine Postkarte von einem Freund aus den USA. »Ich habe mich so sehr über das Handgeschriebene gefreut, sodass ich Ali gleich fragte, ob die Post in Timbuktu noch in Betrieb ist«, erinnert sich Phil. Und das ist sie (wieder).
Daraus entstand die Idee: Wenn schon keine Tourist:innen mehr in die Stadt kommen, könnten sie doch Postkarten an diejenigen verschicken, die gerne hinfahren würden oder neugierig auf Mali sind. Ein paar Testläufe zeigten: Manche Postkarten brauchten zwar eine Weile, bis sie ankamen, erreichten aber ihr Ziel.
Damit war es entschieden. Phil und Ali gründeten ein Unternehmen, das es Kund:innen ermöglicht, handgeschriebene Postkarten aus Timbuktu zu bestellen, und sie an jede Adresse der Welt versendet. Das Wichtigste am Projekt: Es sollte Ali und anderen Reiseführer:innen helfen, ihre Familien zu ernähren.
Phil, der mit seiner malischen Frau Bintou und seinen 2 Kindern in der Hauptstadt Bamako in Südmali lebt, kümmerte sich um die Website. Ali entstaubte die Post in Timbuktu – den Postamtsleiter musste er zu Hause aufsuchen, damit er das Postgebäude für ihn aufschließt, denn dieser hatte lange nichts mehr zu tun gehabt. Auch heute öffnet dieser sein Büro manchmal nur für Ali,
Die abenteuerliche Reise der Postkarte
Auf der Website von Postcards from Timbuktu können sich die Absender:innen verschiedene Postkartenmotive aussuchen – von historischen Landschaftsfotos über Schnappschüsse von lokalen Sehenswürdigkeiten bis hin zu Bildern von einheimischen Künstler:innen; wie jenen des
Ihre persönliche Botschaft teilen Kund:innen dem Team in einem Eingabefeld auf der Website mit. Die ehemaligen Fremdenführer schreiben diese dann auf die Rückseite der Karte. Dabei kommen ihnen ihre vielfachen Sprachkenntnisse zugute.
»Die meisten von uns sprechen wegen ihrer Tätigkeit als Reiseführer mehrere Sprachen«, schreibt mir Ali Nialy über Whatsapp. Er selbst spricht Französisch (die Amtssprache in Mali), Englisch und lokale Sprachen wie Songhoi, Bambara und Tamasheq. Ist ihnen das Alphabet oder die Sprache einer Botschaft für eine Postkarte unbekannt, versuchen die Tourguides, sie so getreu wie möglich zu kopieren.
Die Botschaften sind dabei sehr divers: Liebesbriefe, Motivationsschreiben an sich selbst oder Nachrichten, die als Scherz die Adressat:innen überzeugen sollen, dass die Absender:innen tatsächlich in Timbuktu waren.
Das Unternehmen hat bis heute mehr als 7.000 Postkarten verschickt, hauptsächlich nach Europa und in die Vereinigten Staaten, manche erreichen auch Lateinamerika, Asien oder benachbarte afrikanische Staaten.
Die Urlaubsgrüße reisen von der kleinen Poststelle in Timbuktu zunächst in die Hauptstadt Bamako. Meistens auf dem Luftweg, denn die Vereinten Nationen haben eine Basis in Timbuktu, Flugzeuge landen hier also genug. Alternativ transportieren Boote die Postkarten den Fluss Niger herunter bis in die Hauptstadt, oder sie werden von einer vertrauten Person mit dem Moped nach Bamako gebracht. Von dort fliegt die Luftpost weiter nach Frankreich, mit weiteren Zwischenstopps erreicht sie dann ihren jeweiligen Zielort in der Welt. Binnen 2–3 Wochen sollte eine Postkarte aus Timbuktu ankommen. Es kann aber auch länger dauern, wie bei mir.
Wann das Schreiben tatsächlich im Briefkasten des Empfängers oder der Empfängerin landet, hängt von der aktuellen Lage in Mali ab. Denn wer eine Postkarte aus Timbuktu bestellt, muss mit unvorhersehbaren Ereignissen rechnen:
Zu Ihrer Information: Wir sind nicht Amazon. Die Versandzeiten waren schon vor 2
Was in Mali passiert und wie Staatsstreiche den Postverkehr verlangsamen
»Eigentlich erzähle ich allen, wie toll Mali ist und dass sie es einmal besuchen sollen«, sagt Phil. Während wir miteinander telefonieren, besucht der 37-Jährige mit seiner Familie gerade seine Eltern in den USA. Bisher sei die malische Hauptstadt wie eine sichere Insel gewesen. Auch in Timbuktu ließe es sich wegen der UN-Präsenz noch leben. Doch die Unruhen und Konflikte, die sich bisher nur auf den Norden Malis beschränkt hätten, würden immer weiter in den Süden vordringen. Für den Notfall haben Phil und seine Frau Bintou deshalb schon über Wege gesprochen, das Land zu verlassen.
Was passiert in Mali? Ein kurzer Geschichtsexkurs.
»Geh doch nach Timbuktu!«. Daher kommt die Redewendung
Jahrhundertelang war Mali ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Karawanen, die von und nach Marokko oder Mekka wollten, die heiligste Stadt des Islams in Saudi-Arabien, mussten Timbuktu passieren. Die Händler feilschten mit Gold, Salz und Sklav:innen,
Die Reise nach Timbuktu führte entweder mit Kamel und Pack durch die Wüste oder per Boot über den nahe gelegenen Niger, der jedoch häufig über die Ufer trat. Beide Routen waren gefährliche Anreisewege. Deshalb wurde die Stadt für ihre schwere Erreichbarkeit bekannt und das Sprichwort »Geh doch nach Timbuktu!« war geboren. Bis heute hat es sich gehalten.
Im Laufe der Jahrhunderte gehörte die Stadt mal zu Mali, mal zum vorislamischen
Der heutige Konflikt in Mali, der sich immer weiter zuspitzt, ist eine Kombination aus hauptsächlich 3 Faktoren,
- Die Tuareg sind ein nomadisches Volk, das in Nordwestafrika zu Hause ist. Nachdem sich Mali und seine 2 nördlichen Nachbarstaaten Niger und Algerien Anfang der 60er-Jahre von Frankreich unabhängig gemacht hatten, lebten die Tuareg plötzlich in unterschiedlichen Staaten. Nach verheerenden Dürren spitzte sich ihre Lage zu. Sie rebellierten, doch ihr Leben verbesserte sich nicht. Sie fühlten sich von der malischen Regierung wirtschaftlich an den Rand gedrängt.
- Doch schon bald darauf wurde die Bewegung durch die islamistische Ansar-Dine-Miliz verdrängt. Sie sind ebenfalls mehrheitlich Tuareg-Rebellen – allerdings
- Während des Machtgerangels im Norden kämpfen sich extremistische Rebellengruppen weiter in den Süden vor. Zusätzlich wurde das Land bereits 2020 und 2021 von 2 dicht aufeinanderfolgenden Militärputschen destabilisiert. Die immer größer werdende Lücke zwischen Arm und Reich, der wachsende Unmut (vor allem der Jugend), Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit bieten genügend Nährboden dafür. Die Vereinten Nationen haben es bisher nicht geschafft, einen nachhaltigen Frieden einzuleiten.
Sich mit Terrorist:innen arrangieren? Manchmal geht es nicht anders, um den Frieden zu wahren. Julia Tappeiner und Mathis Gilsbach schreiben über 3 Fälle, bei denen der Frieden nicht an Verhandlungstischen, sondern erfolgreich direkt von Menschen vor Ort verhandelt wurde. Ein Beispiel stammt aus Mali.
Das alles beeinflusst auch das Postkartengeschäft. Zum Beispiel gehen dem Postamt in Timbuktu die Briefmarken aus, die aufgrund von Lieferengpässen nicht aus Bamako nachgeliefert werden können. Manchmal werden aufgrund von Sicherheitsrisiken auch die Flüge gestrichen, dann kommen auch die Urlaubsgrüße nicht aus Mali raus. Das war beispielsweise im Januar der Fall, als Fluggesellschaften aus Frankreich und Malis Nachbarländern ihre Flüge einstellten,
Wie das Postkartenprojekt den Menschen vor Ort hilft
Jede Karte kostet 13,95 Euro. Die Reiseführer verdienen 2–4,50 Euro pro geschriebener und verschickter Karte. Der Rest geht für die Druck-, Transport- und Portokosten sowie die Steuern drauf, die je nach Zielort variieren können. Bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt in Mali von knapp
Doch das Geschäft ist nicht stabil. »Die Nachfrage nach den Postkarten schwankt stark«, so Ali. »Im Moment läuft das Geschäft nicht so, wie wir es uns wünschen; wir haben nur selten Aufträge. Sein Team besteht derzeit aus 12 ehemaligen Reiseführern. Wenn das Postkartengeschäft mal nicht so läuft,
Was sich Ali für die Zukunft des Unternehmens wünscht? »Dass die Unsicherheit aufhört«, sagt er. Am liebsten würde er wieder Tourist:innen durch die lebhaften Straßen von Timbuktu führen können und ihnen die »Perle der Wüste« mit ihren wiederaufgebauten Moscheen zeigen.
Auch Phil will mit seiner Familie Bamako nur ungern verlassen. Es war die Musik, die den US-Amerikaner nach Westafrika zog; die Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Offenheit der Menschen ließen ihn bleiben. »So etwas habe ich vorher nirgendwo anders erlebt«, erzählt er. »Das soziale Gewebe in Mali ist stark, die Menschen reden miteinander und handeln Kompromisse aus.« Das sei jahrzehntelang gut gegangen und habe Konflikte in Schach gehalten, doch nun würde der Terror zu viel, erklärt Phil.
Solange sich nichts an der politischen Situation in Mali ändert, ist das Postkartenprojekt ein Anker für Phil und Ali – emotional wie finanziell. Es spült Einkommen in die lokale Gemeinschaft, die aufgrund der unsicheren Lage von nirgendwo anders herkommen. Gleichzeitig bieten die Postkarten einen Draht in die Außenwelt und machen Menschen auf die Situation in Mali aufmerksam – zumindest so lange, bis die Urlaubswünsche ankommen und das Warten auf und somit auch die Verbindung zu Timbuktu ein Ende hat.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily