Seinen Namen an die Wand schmieren kann jeder – Street Art hingegen kann eine Fieberkurve der Gesellschaft sein. Das Museum beginnt vor deiner Haustür ...
18. Oktober 2016
– 9 Minuten
Kilian Rullkötter
Ein frischer Spätsommertag in Münster, der Wind pfeift um das Bushäuschen in der Nähe der Perspective-Daily-Redaktion. Die Wartenden haben die Kragen hochgeschlagen oder die Schals bis unter die Nase gewickelt. Ein junger Mann studiert den Fahrplan, als sein Blick an einem gelben Aufkleber in Post-It-Größe am Glas der Haltestelle hängen bleibt. Darauf steht in schwarzen Buchstaben: »Wie viel ist Dir genug?« Er runzelt die Stirn, will sich schon abwenden, dann hält er inne, zieht sein Smartphone aus der Tasche und macht ein Foto.
Hinter dem Aufkleber steckt das Kunstprojekt die (kurz: »Erguer«), gegründet im Jahr 2012 von der Psychologin Susan Barth. Ursprünglich als Experiment gedacht, hat die Guerilla mit mehr als 4.500 Aktivisten bis heute über 200.000 Zettel verteilt. Neue Sprüche für die Aufkleber werden gemeinsam diskutiert und die Aufkleber in Boxen zum Selbstkostenpreis
Es gibt ein großes Bedürfnis danach, sich wieder auf das wirklich Wesentliche zu besinnen. Davon zu wissen, stärkt die Fähigkeit, das eigene Leben, aber auch die Gesellschaft wieder aktiver und bewusster mitzugestalten. Die Begeisterung der Guerilleros und Guerilleras, die bei dieser Aktion mitmachen, zeigt, dass dies funktioniert – und ist der Lohn dieses Projekts.Susan Barth
Die Idee: zum Nachdenken anregen und vielleicht Gespräche über die Fragen initiieren. Das Konzept dahinter: Also eine Kunstform, die nicht in Galerien und in Museen bestaunt wird, sondern mitten und uns überall begegnen kann, beim Spazierengehen im Stadtpark oder beim Einkaufsbummel in der Innenstadt.
Street Art ist …
Im Gegensatz zu anderen Künsten sind Ort und Umfeld bei Street Art mindestens genauso wichtig Wichtiger als das Motiv des Künstlers ist dabei die Botschaft dahinter – sie ist das, was in den Köpfen bleibt, auch lange nachdem das Kunstwerk übermalt oder weggeworfen wurde.
Gern werden Street Art und Graffiti fälschlicherweise in einen Topf Auch wenn es keine klare Grenze zwischen beiden gibt, stehen bei Street Art Inhalte und Botschaften im Vordergrund. Als Street Art kann alles gelten, was gezeichnet, gemalt, eingekratzt oder gekritzelt ist – aber es kann auch ein Objekt sein, ein Schild, ein Klebezettel oder ein künstlerisch gesetzter Schattenwurf.
Es liegt in der Natur von Street Art, dass sie vergänglich und ungeschützt ist. Aufkleber können entfernt werden, Gemälde überpinselt werden. Der Bezug zum Hier und Jetzt ist wichtig. Sei es, indem gesellschaftliche und politische Prozesse kommentiert oder gar aktuelle Machstrukturen herausgefordert werden. Der Architekt Konstantinos Avramidis nennt Street Art deshalb »politisierte städtische Kunst«
Das trifft auch auf Barbara zu. Die anonyme Street-Art-Künstlerin fühlt sich regelmäßig von den anderen Texten im öffentlichen Raum herausgefordert: Parteiwerbung, Verbotsschilder, rechtsextreme Graffiti. Damit ist sie mittlerweile
Sag mal, Barbara, wo würdest du gern mal kleben?
Barbara hält viel von Street Art, will aber nicht in diese Schublade gesteckt werden – daran seien Bedingungen und Erwartungen geknüpft, die sie nicht erfüllen möchte, sagt sie. Auch möchte sie anonym bleiben, wie viele Künstler der Szene, und ließ sich selbst zum Interview nur auf ein Chatgespräch ein.
Was denkst du, passiert bei den Passanten, die deine Schilder lesen?
Barbara:
Sie werden mit meinen Gedanken konfrontiert. Darauf reagieren alle unterschiedlich. Manche schütteln mit dem Kopf, andere lächeln und machen ein Foto von meinem Schild.
Legst du es denn darauf an, dass deine Kunst im positiven Sinn erschüttert?
Barbara:
In erster Linie geht es mir darum, meine Gedanken und Ideen spielerisch auszudrücken. Botschaften im öffentlichen Raum sind mein Mittel der Wahl, um das umzusetzen.
Auf Facebook hast du über 500.000 Follower, und nun gibt es sogar erste Nachahmer, etwa Madame aus dem Ruhrgebiet. Findest du es gut, wenn deine Kunst »ansteckt«?
Barbara:
Ich freue mich vor allem darüber, wenn sich jemand mit meinen Gedanken auseinandersetzt. Ich denke, das ist wohl einer der Hauptantriebe für die meisten Künstler. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn Menschen ihre Gedankenspuren im öffentlichen Raum hinterlassen und ihn somit menschlicher, interessanter und individueller machen.
Das könnte man ja auch umdrehen: Ist denn unsere Welt mittlerweile unmenschlich, uninteressant und zu einheitlich geworden?
Barbara:
Nein, die Welt ist wunderbar und die Menschen sind es auch. Allerdings gibt es jede Menge Unmenschlichkeiten und Dinge, die dringend verändert werden müssen. Ich nutze meine Botschaften, um meine Meinung zu Themen zu sagen, die mich beschäftigen oder die ich persönlich als ungerecht empfinde. Plakate kleben ist meine Form, mich in den gesellschaftlichen Diskurs einzumischen.
Du setzt dich mit deiner Kunst ja auch gezielt für etwas ein: Etwa gegen Nazis und sinnlose Verbote in Deutschland. Gibt es aktuell etwas, bei dem du besonders viel ans Kleben denkst?
Barbara:
Der omnipräsente, dumpfe Hass, der seit einiger Zeit in alle gesellschaftlichen Debatten einfließt, sie teilweise sogar bestimmt, macht mir Sorgen und ich versuche, ihm mit einer Prise Humor zu begegnen. Der aufflammende Nationalismus, offen zur Schau gestellter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit treiben mich am meisten um, dagegen stelle ich mich eindeutig quer. Ich wünsche mir ein weltoffenes, freundliches und tolerantes Land.
Eines deiner bekanntesten Schilder hieß »Legalize it, we must«. Ein immer wiederkehrendes Thema deiner Kunst ist Cannabis. Trittst du damit also aktiv für eine Liberalisierung der ein?
Barbara:
Ja, die Legalisierung von Cannabis ist mein Herzenswunsch. Es ist ein vollkommen ungerechtes Verbot, absolut unhaltbar. Es gibt aus meiner Sicht keinen einzigen vernünftigen Grund für ein
Und Verbote fordern dich ja bekanntlich heraus. Wie glaubst du denn, könnte eine Legalisierung hier in Deutschland aussehen?
Barbara:
Jeder Mensch hat ein natürliches Recht, einen Pflanzensamen in die Erde seines Gartens oder Blumentopfes zu stecken. Das zu verbieten ist lächerlich. An Cannabis ist noch nie jemand gestorben und Cannabis hat viele Wirkungen, die auch medizinisch wertvoll sind. Ganz abgesehen von dem Wirtschaftsfaktor, den Cannabis spielen könnte. Mit meinen Schildern trete ich für eine kontrollierte Abgabe, gepaart mit größtmöglichem Jugendschutz und optimaler Aufklärung und Suchtprävention ein.
Und wie sieht es mit anderen hierzulande illegalen Drogen aus?
Barbara:
Meine Argumente verschwimmen, sobald man die Debatte auf alle illegalen Drogen ausweitet. Ich ziehe da erst mal eine klare Trennlinie. Ich glaube aber auch, dass der Umgang mit anderen illegalen Drogen grundsätzlich verändert werden muss. Die Menschen konsumieren sie nun einmal, alle Verbote dieser Welt haben daran nichts geändert. Aber die Verbote machen diese Menschen zu Kriminellen, die sich in kriminellen Kreisen bewegen müssen, um an ihren Stoff zu kommen, und dann teilweise verunreinigten Müll erhalten, der schnell lebensgefährlich werden kann.
Betrachtest du deine Street Art auch als Aufklärungsarbeit bei diesem Thema und als Teil der Lösung?
Barbara:
Ich bin Künstlerin, keine Politikerin. Die Bevölkerung muss natürlich noch mehr aufgeklärt werden, nachdem Cannabis über Jahrzehnte hinweg verteufelt wurde und viele Menschen immer noch denken, dass die Leute sich Haschisch spritzen und daran sterben.
Darum fällt es vielen Cannabis-Sympathisanten auch immer noch schwer, sich öffentlich zu äußern, weil sie eine Stigmatisierung fürchten. In Berlin ist das sicherlich nicht mehr so, aber in kleinen Städten oder auf dem Land schon. Was sollen denn die Nachbarn sagen und so. Ich möchte mich mit meiner Kunst für das Thema stark machen und meine kleine Stimme erheben.
Wir sind ja alle in unserem Handeln irgendwie politisch. Sogar die AfD, die du immer wieder thematisierst, hat auf deine Kunst reagiert. Sind deine Schilder auch ein Konsens-Angebot?
Barbara:
Nein. Ich sehe meine Klebereien nicht als Konsens-Angebot, sondern sie sind einfach nur ein Ausdruck dessen, was mich beschäftigt. Sollte ich damit auch nur ein Mitglied der AfD zum Nachdenken gebracht haben, so wäre das eine prima Sache, denn wenn es etwas gibt, dass der AfD garantiert nicht schaden würde, dann ist das Nachdenken.
Lass uns noch kurz auf das Geheimnis deiner Identität eingehen. Viele Street-Art-Künstler bleiben unerkannt. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der andere Künstler den persönlichen Ruhm verstärkt suchen. Warum ist dir die Anonymität bei deiner Arbeit wichtig?
Barbara:
Ich bleibe anonym, weil ich möchte, dass meine Arbeit unabhängig von meiner Person betrachtet wird und weil ich mein Privatleben schützen will. Ich bin eine extreme »Social-Hopperin« und fühle gerne auf den Zahn der Zeit. Ich bin so ein Mensch, dem die Leute alles erzählen. Ich glaube, dass mir das viel schwerer fallen würde, wenn ich nicht mehr unerkannt agieren könnte. Frei nach dem Motto: Never change a running Plakatekleberin.
Wie müsste eine Welt aussehen, die deine Schilder nicht mehr braucht?
Barbara:
Ich weiß nicht, ob die Welt meine Schilder braucht, aber ich brauche meine Schilder, sie sind mein Ventil und allerliebster Zeitvertreib.
Global Street Art
Street Art gibt es nicht nur in Berlin, Heidelberg oder Düsseldorf. Street Art setzt sich auch mit globalen Themen auseinander.
So erleuchtete etwa im Februar 2016 ein Plastikflaschen-Ring des Künstlers den Brunnen am Londoner Trafalgar Square, um auf den »8. Kontinent« aufmerksam zu machen, der sich aus Plastikresten in den Weltmeeren bildet. Der Effekt: Touristen und Einwohner kamen zusammen, diskutierten, fotografierten, teilten bei sozialen Medien und sensibilisierten so andere für das Thema.
Natürlich ist Street Art eine Randerscheinung. Doch gerade in Zeiten einer gesellschaftlichen Krise kann sie wichtige Funktionen übernehmen. Das findet zumindest die Ethnologin Julia Tulke. Sie hat mit ihrem Projekt verfolgt und dokumentiert.
An den Motiven erkennt man: In Griechenland war und ist Street Art auch ein Kampf um die Deutungshoheit über die Krise und will Sie zeigt die Verzweiflung und Widerwillen der Menschen auch dann, wenn sie nicht auf die Straße gehen und Deshalb ist Julias Tulkes These: »Street Art manifestiert visuell in der Umgebung, was eine Gesellschaft gerade beschäftigt.« Street Art prägt also nicht nur sondern macht den gesellschaftlichen Diskurs sichtbar, kann ihn beeinflussen und erweitern.
Klebebilder, Schilder, Gemaltes, Installationen: Street Art ist flexibel und funktioniert im Großen und im Kleinen. Anders als Kunst im Museum, die man erst aufsuchen muss, ist der spazierende Passant nicht darauf vorbereitet, auf diese Kunst zu treffen. Sie unterbricht den Rhythmus der modernen Welt scheinbar zufällig. Damit erreicht sie auch Personen, die ansonsten vielleicht nie den Weg in eine Galerie finden würden.
Und noch einen positiven Nebeneffekt hat sie: Einmal etwas Störendes, Spannendes, Berührendes, Nachdenkliches in der eigenen Stadt entdeckt, wird man den Gedanken an Street Art nur schwer wieder los. Im besten Fall beginnt man nach dem obligatorischen Handyfoto vielleicht, die eigene gewohnte Umgebung wieder bewusster wahrzunehmen und auch über Alltägliches – wie Verbotsschilder – neu nachzudenken.
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.