Nachhilfe schadet unserem Bildungssystem. So machen wir sie überflüssig
Das deutsche Schulsystem soll jedes Kind individuell fördern. Ein Anspruch, dem es nicht gerecht wird. Viele Eltern greifen daher in die eigene Tasche – und zementieren so soziale Ungleichheit.
Es war der sogenannte
Besonders frappierend: Auch mit dem Aufstiegsversprechen durch Leistung und Fleiß war es nicht so weit her, wie viele dachten.
Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem wir darüber entscheiden müssen, ob wir zu einer gewaltigen nationalen Kraftanstrengung zur Erneuerung von Schule und Bildung bereit sind.
Egal ob Kommunal-, Landes- oder Bundespolitiker: Von diesem Zeitpunkt an gehörten Absichtsversprechen für »mehr Bildung« zum guten Ton in jeder Sonntagsrede. An ambitionierten Zielen mangelte es nicht:
Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle.
Doch viele Eltern scheinen den Versprechungen inzwischen keinen Glauben mehr zu schenken. Im Gegenteil, immer mehr von ihnen nehmen das Heft selbst in die Hand – und auch die eigene Geldbörse.
Dabei ist Nachhilfe im Gegensatz zu früher kein exklusives Privileg gut betuchter Familien mehr. In den vergangenen Jahrzehnten stieg laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung besonders der Anteil der Eltern aus den mittleren und unteren Einkommensgruppen, die nicht den Anschluss verlieren wollen und daher in Nachhilfe für ihre Kinder investieren. Die Autoren der Studie fassen das kurz gesagt so zusammen:
Nur was bedeutet das? Sind die Investitionen der Eltern in die Bildung ihrer Kinder aus eigener Tasche nun ein richtiger Schritt, um soziale Ungleichheit abzubauen? Oder wird das Problem der mangelnden Chancengleichheit durch diese zunehmende Privatisierung sogar noch verschlimmert?
Warum Bildungserfolg in Deutschland für viele vom eigenen Geldbeutel abhängt
Klar ist: Wer mehr finanzielle Mittel hat, der kann auch mehr in die Förderung seiner Kinder investieren. Aus der Perspektive der Eltern ist das ganz normal und auch nachvollziehbar.
Welchen enormen Unterschied individuelle Nachhilfe darstellen kann, erfahre ich aus erster Hand, als ich mit Nasrullah Qasimi spreche, der 2011 mit 16 Jahren als unbegleiteter Geflüchteter aus Afghanistan nach München kam.
»Ich wollte damals die mittlere Reife machen. Einfach war das nicht. Man muss sehr viel lernen, besonders wenn man die Sprache noch nicht richtig kennt. Zum Glück hat Jakob mir dabei geholfen. Zuerst haben wir mit Englisch angefangen, später dann auch Deutsch gelernt. Ich habe bestanden – und dann mit einer Ausbildung in Nürnberg angefangen.«
Jakob Winkler gibt nicht nur Nachhilfe. Eigentlich promoviert der 30-Jährige zurzeit am Institut für Maschinenelemente an der TU München. Außerdem ist er Bundesvorstand bei
Dass Nasrullah Qasimi trotz unbegleiteter Flucht als Minderjähriger und anfänglicher Sprachprobleme im ersten Anlauf einen Schulabschluss machte und einen Ausbildungsplatz bekam, hat er nicht der individuellen Förderung zu verdanken,
Über 750 Studierende engagieren sich bundesweit bei Studenten bilden Schüler e. V. Das Besondere: Die Studierenden machen das nicht, um sich etwas dazuzuverdienen, sondern um Schülern eine Chance zu geben,
Bei diesen geht es nicht immer um Hilfe für Schüler, die keine Muttersprachler oder neu im deutschen Bildungssystem sind. So erreichen zum Beispiel E-Mails wie diese die ehrenamtlichen Studierenden:
Ich habe kein Geld für Nachhilfe, da ich vom Jobcenter finanziert werde. Mein Sohn wird wahrscheinlich in eine Sonderschule versetzt. Ich weiß nicht was ich machen soll. BITTE HELFEN SIE MEINEM SOHN!
Nachhilfe für Schüler, denen sonst niemand hilft
Studenten bilden Schüler e. V. versucht also diejenigen aufzufangen, denen im modernen Bildungswettrennen die Mittel für das »Doping Nachhilfe« fehlen.
»Wir konzentrieren uns auf die Schüler, die sich keine Nachhilfe leisten können. Diese Eins-zu-eins-Betreuung ist ein besonders wichtiger Punkt, weil die Schulklassen oft sehr groß sind und keine Zeit für individuelle Betreuung bleibt. Das Lernen ist aber nur der eine Punkt. Eigentlich ist das Ganze eher wie ein
Denn wenn die Nachhilfepaare sich gut verstehen würden, seien auch gemeinsame private Unternehmungen bei Studenten bilden Schüler e. V. nicht selten: »Man geht zum Beispiel zusammen ins Kino, ins Museum oder in den Kletterwald. Weil alle Schüler finanziell benachteiligt sind, erstattet der Verein die Kosten für solche gemeinsamen Unternehmungen, ebenso für viele Lernmaterialien wie Taschenrechner, Übungshefte und Bücher. Es fängt immer mit ehrenamtlicher Nachhilfe an, aber manchmal geht es auch darum, einfach ein offenes Ohr zu haben.« Die Anfragen, die die Standorte erreichen, kämen etwa zu jeweils 50% von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Neben Alltagsproblemen und Zukunftsplanung gehe es dann bei den Geflüchteten unter den Schülern auch mal um Hilfe im deutschen Behördendschungel. Was aber alle betreuten Schüler gemein haben, ist, dass ihre Probleme meist komplizierter sind als die ihrer Klassenkameraden, die aus reicheren Haushalten stammen: »Die Anfragen kommen in der Regel über Kinderheime, Sozialpartner wie die Caritas oder auch aus direkter Zusammenarbeit mit Schulen. Meist können wir dann aber leider nur einen Teil der Schüler aufnehmen, weil wir aktuell an den meisten Standorten einfach mehr Schüler haben als Ehrenamtliche«, berichtet Jakob Winkler.
Sparen auf Kosten der Bildung ist extrem bitter, weil gut ausgebildete Menschen unser aller Versicherung für die Zukunft sind! Wenn wir die Leute jetzt unterstützen, können wir uns zudem in Zukunft viele Kosten sparen, anstatt am Ende doppelt und dreifach draufzuzahlen.
Die Arbeit von Studenten bilden Schüler e. V. wird ausschließlich durch Spenden finanziert, öffentliche Mittel gibt es in der Regel nicht.
Was sagen Schulen und Lehrer zu dieser Situation?
Nachhilfe zur Leistungsoptimierung in der Ellenbogengesellschaft
»Viele Eltern haben kein Vertrauen mehr in das öffentliche Schulwesen. Sie glauben nicht, dass die Schulen das leisten können, was in allen Schulgesetzen steht: nämlich dass ihre Kinder hier individuell gefördert werden. Dahinter steht die große Sorge, dass den eigenen Kindern sonst etwas in ihrer Zukunft verbaut wird«, sagt der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann.
Hinzu kommt noch, dass die Anforderungen für die meisten Berufe im Gegensatz zu früher gestiegen sind. »Wenn Kinder den gleichen Beruf ergreifen wollen wie ihre Eltern, müssen sie dafür heute einen höheren Abschluss machen.« Anders gesagt: Wer den eigenen sozialen Status zumindest halten will, muss draufsatteln.
Experten sprechen hier von einer
Durch das Wachstum des privaten Nachhilfemarktes verschärft sich der Zusammenhang von sozioökonomischer Herkunft und Bildungschancen noch weiter als ohnehin schon.
Das ist nur einer von vielen Aspekten der Leistungsverdichtung in unserem Bildungssystem, die Schülern, Eltern – und nicht zu vergessen auch den Lehrern – zugemutet werden.
Gleicher Inhalt in kürzerer Zeit: eine waghalsige Vorgehensweise
Der Streit um die G8-Reform ist nur ein Problem von vielen.
Eigentlich hätten die Schulen nämlich schon per Gesetz den Auftrag, individuell zu fördern. »Dafür sind wir aber nicht ausreichend ausgestattet, schon allein angesichts des Lehrkräftemangels, der besonders in Grundschulen Alltag ist. Hinzu kommt, dass die Klassen immer heterogener werden. Das ist für eine einzelne Lehrkraft kaum noch zu bewältigen«, kritisiert Udo Beckmann.
Doch wie können wir in Deutschland dafür sorgen, dass individuelle Förderung gerechter wird?
Investitionen in gute Bildung: Das eine tun, ohne das andere zu lassen
Sicher ist nur eines: Solange es Schulen gibt, wird es Eltern geben, die ihre Kinder mehr fördern (können) als andere. Das zu kritisieren kann genauso wenig das Ziel sein, wie zu akzeptieren, dass Kinder, die es schwerer haben, sich selbst oder »dem Markt« überlassen werden. Klar muss aber auch sein: Mehr Privatisierung von Bildung bedeutet mehr soziale Ungleichheit und zementiert die Spaltung unserer Gesellschaft.
Wenn wir Bürger und die Entscheidungsträger in der Politik das nicht länger befeuern oder zumindest sehenden Auges in Kauf nehmen wollen, stehen uns mindestens 3 Stellschrauben zur Verfügung, um daran etwas zu ändern:
- Gezielt fördern – und darüber reden. Das Teilhabepaket stärken:
Ein Versuch der Nachbesserung ist das von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) im Januar 2019 vorgestellte »Starke-Familie-Gesetz«. - Geld ist nicht alles – Bildungsinitiativen unbürokratisch unterstützen: »Die Zeit, die wir investieren, ist unser kostbarstes Gut«, sagt Jakob Winkler von Studenten bilden Schüler e. V. Die finanziellen Aufwendungen der Initiative seien hingegen überschaubar: »Es gibt wirklich viele Privatpersonen und Wohltätigkeitsorganisationen, die uns mit Spenden helfen. Die größten Herausforderungen sind für uns, dass Studierende auf unseren Verein aufmerksam werden und sich langfristig ehrenamtlich engagieren wollen.«
Manchmal frage er sich schon, warum das eigene Engagement nicht mehr von der öffentlichen Hand gefördert werde. Und dabei geht es gar nicht mal um Geld: Hilfreicher als finanzielle Mittel wäre für Jakob Winkler und seine Mitstreiter, wenn die jeweiligen Landesregierungen sie ganz praktisch unterstützten, »sei es eine Litfaßsäule, die für wohltätige Vereine gemietet wird, oder ein Truck, der mit Plakaten von uns durch Deutschland fährt.« - Die Probleme an der Wurzel packen – privat finanzierte Nachhilfe überflüssig machen: Wenn wir es ernst meinen mit den fairen Bildungschancen für alle, muss das mittelfristige Ziel sein, endlich die inzwischen 20 Jahre alten Versprechungen von Kanzler und Kanzlerin wahrzumachen. Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung hat eine klare Vorstellung davon, wie das gelingen kann: »Das öffentliche Schulsystem muss so gut sein, dass der private Nachhilfemarkt zum Erliegen kommt. Dazu müssen wir die Schulen endlich mit ausreichend Lehrkräften ausstatten und eine Doppelbesetzung in den Lerngruppen einführen. Zudem braucht es aber auch sogenannte multiprofessionelle Teams aus Sozialpädagogen, Schulsozialarbeitern und -psychologen, damit jedes Kind die Talente, die es mitbringt, bestmöglich ausschöpfen kann.«
Trotzdem begrüßt er individuelles Engagement wie das von Studenten bilden Schüler e. V. ausdrücklich: »Es ist toll, dass es solche Initiativen gibt. So etwas zusätzlich als Add-on zu haben ist immer zu begrüßen. Es kann aber nicht sein, dass ehrenamtliche Initiativen hermüssen, um einen Grundbedarf zu befriedigen.«
Ohne ein entschiedenes Handeln durch verschiedene Ansätze sei dies nicht zu beheben: »Die Länder müssen ihre Studienkapazitäten für Lehrkräfte erweitern, sodass sie zumindest den eigenen Bedarf decken können. Die ersten tun das jetzt immerhin schon.« Die Effekte hieraus sehen wir allerdings frühestens in 7 Jahren. »Bis 2026 hätten wir so eine weitere Schülergeneration verloren. Wir brauchen also auch die Qualifizierung von Quereinsteigenden.«
Mit einer elementaren Voraussetzung: »Personen, die nicht originär ausgebildet wurden, müssen mindestens ein halbes Jahr vorqualifiziert und auch im Anschluss berufsbegleitend weiterqualifiziert werden, bevor sie vor Klassen gestellt werden. Werden sie aktuell aber
Vielleicht hilft es auch, unser gesamtes Konzept von Schule und Bildung einmal komplett zu hinterfragen – und dabei Begriffe wie »Marktorientierung«, »Leistungsverdichtung« und somit auf lange Sicht auch »kommerzielle Nachhilfe« auszuklammern.
Wie das gehen kann, zeigt zum Beispiel mein Kollege Benjamin Fuchs. Er hat eine Schule besucht, die weder Noten noch Leistungsdruck kennt – und gerade deswegen hervorragend funktioniert. Das zeigt: Eine ganz andere Form von Schule ist keine Utopie, sondern in einem direkten Nachbarland bereits Realität:
Titelbild: Annie Spratt - CC0 1.0